Ist Hatha-Yoga modernes Yoga? Ist es richtig, dass der Körper so im Mittelpunkt steht? Ein guter Weg, sich diesen Fragen zu nähern, sind die historischen Texte der Nath-Yogis, von denen die Hatha Yoga Pradipika (HYP) wahrscheinlich der bekannteste ist. Alles Theorie? Mitnichten! Wir nutzen sie für unsere Praxis, denn “das Lesen alleine bringt keinen Erfolg”, wie schon die Pradipika weiß. Sybille Schlegel nimmt in diesem Artikel vier verschiedene Nath-Texte genauer unter die Lupe.
Text: Sybille Schlegel, Titelbild: Daniel Adams/Studio India via Canva
Da hab ich mir ja was aufgehalst, denke ich, während ich die Goraksha Shataka auf dem Sitzfahrrad im Gym sitzend lese. Es ist der Nath-Text, den ich am wenigsten kenne bisher. Die Hatha Yoga Pradipika habe ich schon mal komplett übersetzt und unterrichte sie regelmäßig in unserem Teacher Training. Die Gheranda Samhita und die Shiva Samhita besitze ich als englische Ausgaben seit etwa 10 Jahren und habe sie mehrfach gelesen.
Für diesen Artikel nehme ich alle vier nochmal genauer unter die Lupe – und erwische mich bei wechselnden Gefühlen. Das kann durchaus passieren, wenn man die traditionellen Yogatexte des alten Indien rezipiert und deshalb beschreibe ich mal kurz meine Kontemplationen dazu, denn solche Reaktionen sind ganz normal und sollten uns nicht vom Studium der Weisheitslehren des Yoga abhalten:
1. Verwirrung: Im Gegensatz zum angenehmen Gefühl von Klarheit wühlt die Verwirrung Geist und Emotionen auf. Ich bin verwirrt, weil ich die Texte ziemlich unsystematisch finde. Weil ich die altindischen Symbole nicht kenne.
2. Ärger: Ich gehöre definitiv nicht zur Zielgruppe der Texte, denn sie sind eindeutig für Männer verfasst. Auch die Sprache ist recht maskulin (was in den Übersetzungen deutlicher ist als im Original-Sanskrit). Harsch anmutende Anweisungen, Verbote, Praktiken, die Energien willentlich dominieren. Und immer wieder: Penis, Penis, Penis. Ich bleibe an den misogynen Stellen hängen, in denen Frauen als Ablenkung, Bedrohung, Objekt zur Ausführung von sexuellen Mudras beschrieben werden. Ich beginne zu überlegen, ob ich den Artikel absagen kann …
3. Neugier: Wo ist der rote Faden? Was ist in den Texten gleich, was unterschiedlich? Wo liegt der Kern der Hatha-Lehre in der Tradition der Nath?
4. Beklemmung: Die Warnungen zu den subtileren Techniken, bei denen man in die tiefsten, vegetativen Körperfunktionen eingreift, sind gruselig. Auch, wenn die Funktionalität der Natur entspricht, ist das bestimmt mit Vorsicht und Respekt zu genießen. Es ähnelt der medizinischen Wirkung von Giftpflanzen: Man muss die passende, individuelle Dosis kennen, damit die Wirkung positiv ist. Sonst ist die Macht zerstörerisch.
5. Respekt: Ich werde mir bewusst, dass ich als westlicher, moderner Mensch trotz aller Bildung nicht viel weiß. Erst gegenwärtig beschäftigt sich die Wissenschaft mit den Effekten der Atmung, der Regenerationsfähigkeit von Nervengewebe und vielem anderem, das die yogischen Texte schon vor Hunderten von Jahren behandelten. Auch ist die Mystik des alten Indiens so vielfältig und fein, dass ein paar Semester Indologie nur auf der Oberfläche standhalten. Ich beschließe meine Empfindungen zu respektieren – und mehr noch die unergründlich tiefe Weisheit der Yogis, deren Worte die Jahrhunderte überdauert haben.
Von außen – von innen
Eine mystische Bruderschaft, vier Texte und magisch anmutende Praktiken, die angeblich unsterblich, wunderschön und unwiderstehlich machen? Klingt wie aus einem Hollywoodstreifen, kommt aber aus dem indischen Mittelalter. Wie so oft kann man sich auch den historischen Wurzeln dieser vier Texte nur annähern, findet einen gewissen Zeitraum (8.-14. Jahrhundert), in dem sich der Plot hauptsächlich abgespielt und von dort bis ins Heute gezogen hat. Verschleiert vom Lauf der Zeit, verklärt von Yogatourist*innen, verrufen durch andere Yogatraditionen und von der indischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts – doch wer waren eigentlich die sogenannten Nath-Yogis, deren Texte wir hier näher betrachten?
Der amerikanische Pfarrer George Weston Briggs, der als Seelsorger im britischen Militär zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Indien tätig war, formt den Blick von außen: Sein Buch “Goraknath und die Kanpatha Yogis” versucht aus der Perspektive der westlichen Kultur und mit der Methodik der sozio-kulturellen Wissenschaften zu beschreiben, zu beziffern.
Unterwegs wird aus oberflächlich-arrogant allerdings neugierig-respektvoll. Die Yogis mit den Ohrringen (Kanpatha) scheinen gut organisiert und gleichzeitig dezentral gewesen zu sein: Sie lebten in Männerbünden, als Einsiedler, als Familienoberhaupt. Viele huldigten dem Gott Shiva als höchstem Prinzip, andere folgten Vishnu, manche verehrten das weibliche Göttliche mehr. Die vielfältige Buntheit Indiens beginnt den westlichen Geist zu betören, der verzweifelt versucht, die eine Antwort zu finden und am mentalen Einordnen und Verstehen festzuhalten…
„Asana, verschiedene Kumbhaka, die Praxis, die man Mudra nennt, dann Nadi Shodhana, diese bilden die Praxisfolge von Hatha-Yoga.“
– Hatha Yoga Pradipika 1.56
Die Legenden der Nath-Texte
Einige berühmte Persönlichkeiten der Naths sind bis heute mit Namen bekannt: Wie der sagenhafte Matsyendra, der von Shiva als Fisch die Lehren des Hatha gehört und dann zum Menschen gewandelt worden sein soll, um die Weisheiten weiterzugeben. Vermutlich verbirgt sich dahinter ein im shaktistischen Tantra verwurzelter Yogi, der von Goraksha aus dem “Tempel der Frauen errettet” worden sei. Als gelernte Historikerin versinke ich hier gerne in der Attraktivität der Legenden.
Goraksha selbst soll maßgeblich an der Gründung der Nath-Yogi-Bruderschaften beteiligt gewesen sein. Man liest, er habe Hatha-Yoga vom anrüchigen Tantra befreit und mit dem Yoga des Patanjali vereinbar gemacht. Mystische Traditionen treffen auf indischen Kult-Mainstream. Und dann ist da noch Gheranda, von dem wir einen Text haben, aber so gut wie nichts wissen.
Auch die Texte selbst formulieren flüsternd im Schatten, obwohl die Hatha Yoga Pradipika ihrem Namen nach (“Licht auf Hatha Yoga”) doch Licht ins Dunkel bringen will. Aber leider: Beschreibungen, Andeutungen und Geheimhaltung wechseln sich ab. Körper und Energie, Form und Universum, Außen und Innen verschwimmen in ein großes Ganzes, das man nicht einfach so runterlesen kann im Urlaub auf der Strandmatte. Man wünscht sich regelrecht den Guru herbei, der einem – wie in den Texten angemahnt – die Zusammenhänge und Symbole erläutert.
Und hier liegt die innere Perspektive: Will man es wirklich wissen, braucht man eine Hatha-Tradition, in der die Lehre gelebt und geübt wird. Ich bin über meine Lehrer*innen der Krishnamacharya-Tradition verbunden sowie der von Sri Brahmananda Sarasvati. Krishnamacharya hatte als Sanskritist, Ayurveda-Arzt und Yogameister eine ebenso breite wie tiefe Kenntnis des Hatha-Yoga.
In der Weitergabe durch seine Schüler*innen spielen die Nath-Texte allerdings nur eine kleine Rolle. Sein Schüler A.G. Mohan übt in seiner Ausgabe der HYP sogar fast harsche Kritik an diesem Text. Vermutlich ist es so, dass man sich für die Innensicht auf Hatha-Yoga eine Tradition sucht, zu der man sich intuitiv hingezogen fühlt, die sich auf eine lange Linie von Lehrer*innen beruft, die ernsthaft und respektvoll ist. Und dann, über diesen Faden, lässt man sich dahin bringen, wo kein Faden mehr nötig ist.
Vom Groben ins Feine
Vier Texte sind uns aus der Nath-Tradition bekannt und über Übersetzungen allgemein zugänglich: Hatha Yoga Pradipika, Gheranda Samhita, Goraksha Shataka und Shiva Samhita. Hier die wichtigsten Eckdaten und Inhalte kurz zusammengefasst:
Sie sind alle ein wenig unterschiedlich, sie alle haben Gemeinsamkeiten: Hatha-Yoga dient dem Raja-Yoga und damit letztlich Samadhi. Das heißt, die Posen dienen nicht der Form, alles Atemanhalten nicht der reinen Dauer des Könnens, sondern sämtliche Techniken sollen letztlich die Energien oder die Funktionalität des Körpers optimal auf tiefe Meditation, Versunkenheit (Samadhi) einstellen. Inklusive des in den Texten hochgelobten Khecari Mudra, bei dem die Zunge an der Wurzel eingeritzt und dann langgezogen und durch den Rachen in die Nasenhöhle gesteckt wird.
Das Resultat: eine Art Winterschlaf. Der Stoffwechsel wird heruntergefahren, Atmung und Herzschlag verlangsamt. Der Körper verzichtet dadurch auf die uns so bekannten Ablenkungen in der Meditationspraxis wie Hunger und sexuelle Bedürfnisse. Es existiert ein Bericht eines deutschen Arztes aus den 1930er-Jahren, in dem dieser höchst überrascht erklärt, dass Krishnamacharya bei einer seiner Demonstrationen über einen Zeitraum von fünf Minuten keinen Puls hatte und er ihn mit Sicherheit für tot erklärt hätte. Desikachar soll seinen Vater einmal gefragt haben, wie das geht. Dieser habe jedoch abgewunken mit den Worten, das sei nicht, was die Welt braucht. Bestimmt hat er recht … trotzdem ist es faszinierend.
Einssein mit Körper und Seele
Die Hatha-Yogis verstanden physische Funktionen wie nur wenige nach ihnen: Alles, was den Atemfluss verlangsamt und damit die Regungen des Geists verringert, hat sie interessiert und wurde Teil ihrer Praxis: So das Drücken der Zunge gegen den Gaumen, was beim Kauen natürlich vorkommt und den Atem verlangsamt, um Verschlucken zu verhindern. Oder das Ausatmen und Anhalten der Atmung, das den Parasympathikus aktiviert.
Oder ganz einfach das Liegen in Shavasana, was meine Lehrerin ein “Mudra für Schlaf” nennt: Die Haltung ist ein Signal für den Körper, gewisse Funktionen hochzufahren und andere runter. Je langsamer der Organismus, desto ruhiger der Geist, desto tiefer können Yogis und Yoginis eintauchen in das Einssein.
Den physischen Körper pflegen
Ablenkung von der Versunkenheit ist unerwünscht, deshalb gilt es, den Körper mit besonderen Handlungen zu reinigen: In der HYP werden sechs sogenannte Karmas oder Kriyas beschrieben, in der Gehrenda Samhita gibt es 27 – vom Zungeschaben übers Zähneputzen bis hin zu Darmreinigungen mittels willentlichem Luftschlucken und Auspupsen oder dem Ausstülpen des Dickdarms in ein fließendes Gewässer. Kein Wunder, dass a) das Ganze unbeobachtet stattfinden sollte und b) Krishnamacharya als Ayurveda-Doktor von allgemeiner Anwendung warnte.
Asana hat den Grundzweck, den Körper leicht, flexibel und stark zu machen. Einzelne Positionen werden darüber hinaus als Kur, etwa für Verdauungsstörungen empfohlen. Pranayama soll die Fähigkeit zur Stille über die Atemstille trainieren, mit dem Effekt perfekter Versorgung der Zellen. Pratyahara, sonst eher bekannt aus dem Yogasutra, wird in der Goraksha Shataka beschrieben als das bewusste Wahrnehmen durch die Sinne und das ebenso bewusste Nicht-Reagieren darauf.
Mittels Mudra – einer Verbindung aus Körperhaltung, Kumbhaka (Atempause) und Bandha (Muskelkontraktionen in Verbindung mit dem Atemhalten) – soll sich Energie im Körper konzentrieren, um ein ruhendes Energiepotenzial zu erwecken.
Ha und Tha
Das ist auch eine mögliche Erklärung für den Begriff Hatha: Ha steht für die aktive Energie und Einatmung (Prana Vayu), Tha für die passive Energie und Ausatmung (Apana Vayu). Prana Vayu wird durch die Sonne symbolisiert, Apana Vayu durch den Mond. Dadurch wird Ha auch zum Lautklang für Sonne und Tha (übrigens mit nach hinten gebogener Zunge ausgesprochen) zum Lautklang für Mond.
„Apana zieht Prana an und Prana zieht Asana an. Wer diese zwei Pranas vereint, die im oberen und im unteren Bereich wirken, ist ein Kenner des Yoga.“
– Goraksha Shataka 1.40
Diese gegensätzlichen Energien zusammengebracht kreieren eine energetische Einheit. Und deren Kraft weckt wiederum Kundalini Shakti (wörtlich: die zusammengerollte Energie), die sich dann wie eine plötzlich geweckte Schlange aufrichtet und durch den Energiekanal der Wirbelsäule (Sushumna Nadi) emporsteigt und sich mit Shiva vereint.
Ganz grob gesagt. Shakti gilt als Göttin, die sich im Tanz mit Shiva befindet: Tanzt sie fort, herrscht Dualität, kommt sie zurück, entsteht Einheit. Der Ursprung vieler traditioneller Tänze auf der ganzen Welt. Und so wird aus asketischer und akrobatischer Praxis plötzlich spirituelle Mystik. Die Einzelheiten der Lage von Kundalini Shakti, ihre Bewegung, die Beschaffenheit von Sushumna, die Veränderungen auf ihrem Weg nach oben für den Yogi sowie das Entstehen von inneren Klängen bei ihrer Vereinigung: All das wird in den Texten beschrieben. Details können variieren, daher finde ich, wenn man sich damit beschäftigt, sollte man alle lesen, das klärt hier und da schon ein paar Fragen.
Alle Texte führen zur Einheit
Die Shiva Samhita fällt inhaltlich uns systematisch etwas aus der Reihe, gibt aber gleichzeitig ein Fundament für die drei anderen. Shiva spricht hier zu Parvati, seiner Shakti. Das erste Kapitel ist eine Darlegung dessen, was Einheit ist. Das entspräche der Advaita Vedanta-Philosophie, heißt es in den Einleitungen. Neuerdings ist mir so etwas immer egaler. Aber was Shiva hier inhaltlich erzählt, ist klar und auf den Punkt.
Er beantwortet, warum wir uns nicht in Einheit empfinden, wie das Karma da hineinspielt und was das eigentlich ist. Später im Text werden auch die Chakras genau beschrieben, ebenso die Vayus (Winde), die für Hatha-Yoga wichtigen Nadis – und Anweisungen für verheiratete Yogis. Die gab es nämlich auch und deren Frauen haben laut G.W. Biggs auch Hatha-Yoga geübt und als Witwen die Positionen ihrer Gatten in der Gemeinschaft eingenommen. (Puh, jetzt ist es raus. Ich wollte schon ewig mal diese Vorstellung myth-bustern, dass Frauen früher kein Yoga geübt hätten.)
Das Fazit, das keines ist
Die Nath-Texte sind wunderbare Quellen für alle, die Yoga mit dem Körper oder über den Körper üben. Das Machen steht im Vordergrund, das “Wie machen” erläutern die Texte. Optimal ist das Üben mit einem kompetenten Lehrer, denn nicht immer sind die Anweisungen ganz ausformuliert. Manche der Reinigungstechniken sind heute bereits Teil unserer täglichen Routine, andere heutzutage vielleicht nicht mehr ratsam. Sobald es an Pranayama und Mudra geht, ist ein andächtiges, vorsichtiges Herantasten hilfreich, denn hier beginnt man in die Tiefen des hormonellen Systems und der Körperfunktionen einzugreifen.
Und da wir meist keinen nach den Kriterien der Texte kompetenten Lehrer haben: piano piano, wie der Italiener sagt. Nur, weil was geht, heißt es nicht, dass man es ohne weiteres verträgt. Ein gesunder Körper, ein gesunder Geist, ein ausgeglichener Stoffwechsel, gute Atemkapazität und innere Ruhe sind wirklich etwas wert. In den Winterschlaf muss ich dafür nicht unbedingt.
Sybille Schlegel ist unsere Lieblingsautorin, wenn es um alltagstaugliche Texte zur Yogaphilosophie geht: So locker und leicht, so tief und wahr, einfach wunderbar! Dieser Text stammt aus unserer Reihe im YOGAWORLD JOURNAL “Die wichtigsten Texte der Yogaphilosophie“. Mehr über Sybille erfährst du auf ihrem Instagram Account. Live kannst du sie in Mainz erleben, im Hatha Vinyasa Parampa Studio, das sie gemeinsam mit Andreas Ruhula leitet.
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