Wie kann ich meine Ziele erreichen?

Das Erreichen der eigenen Ziele – darauf arbeiten so viele von uns hin. Wir wollen noch schneller ankommen, der Weg soll aber möglichst kurz sein. Doch um ein Ziel zu erreichen, muss man es erstmal loslassen.

Das zweite Prinzip, das im Yoga-Sutra I.12 beschrieben wird, ist Vairagyam. Übersetzt wird es als Nicht-Anhaften. Am besten versteht man es als Überwindung von Gewohnheiten, die einen am Erreichen seines Zieles hindern. Praxis wird vor dem Nicht-Anhaften genannt. Das lässt vermuten, dass zuerst eine Bewegung hin zum regelmäßigen Üben stattfinden sollte. Allerdings teilen in diesem Sutra die beiden Sanskrit-Wörter Abhyasa und Vairagyam dieselbe Endung: bhyam. Sie weist darauf hin, dass beide Konzepte gleichbedeutend sind. Wie die beiden Flügel eines Vogels arbeiten sie zusammen und keines kann ohne das andere wirken. Anders ausgedrückt: Die Praxis alleine wird dich nicht zum Ziel bringen. Gleichzeitig musst du dich in der Disziplin üben, Gewohnheiten oder Hindernisse, die dir im Weg stehen, beiseite zu räumen.

Du musst auch Opfer bringen

Möchtest du beispielsweise eine regelmäßige Asana-Praxis entwickeln? Dann musst du einiges an Disziplin und Zeit aufwenden, um dies tatsächlich zu tun (Abhyasa). Außerdem musst du dafür eventuell auf eine Stunde Schlaf verzichten. Oder darauf, lange wach zu bleiben und Wein zu trinken oder Serien-Wiederholungen anzusehen (Vairagyam). Ist dein Ziel, nach der Arbeit mehr Zeit mit deinem Partner zu verbringen? Dann musst du dir die Mühe machen, wirklich präsent zu sein, anstatt neue Spiele auf deinem Handy auszuprobieren oder deine Mails zu checken.

Vairagyam beschränkt sich allerdings nicht nur auf solche greifbaren Angewohnheiten, sondern auch auf mentale Hindernisse wie negative Gedanken, Sorgen, Ängste. So auch auf jedes andere geistige Muster, das dich aus dem Konzept bringt. Beachte, dass Patanjali keineswegs sagt, dass man generell auf Wein oder sein Handy verzichten sollte. Vairagyam bezieht sich konkret auf jene Angewohnheiten, Handlungen und Einstellungen, die deine Fortschritte in Richtung des gewählten Ziels vereiteln. Für jeden Einzelnen kann das etwas anderes sein. Für den einen ist es Wein oder Kaffee, für die andere ein Verstand, der zur Schwarzmalerei neigt.

Zwei Seiten einer Münze

Stell dir Abhyasa und Vairagyam wie die beiden Seiten einer Münze vor. Die eine Seite bedeutet, sich auf das Ziel zuzubewegen. Und die andere, die Hindernisse auf dem Weg zu beseitigen. Das Besondere an Vairagyam ist, dass es sich im Idealfall nicht wie ein Kampf anfühlt. Du kannst das leicht aufzugeben, was dich behindert. Sofern du stark und positiv auf dein Ziel ausgerichtet bleibst. Je engagierter du dich deiner Praxis widmest und je mehr du die dadurch entstehenden Veränderungen erkennst, desto leichter fällt es, auf lange Wein- oder Internet-Abende zu verzichten. Ebenso wird es einfacher, dein Handy einen Abend lang zu ignorieren, je fester entschlossen du bist, wertvolle Zeit mit deinem Partner zu verbringen.

Loslassen bedeutet nicht Gleichgültigkeit

Diese Bedeutung von Vairagyam ist Teil eines tieferen Verständnisses des Konzeptes des Nicht-Anhaftens im Yoga Sutra. Im ersten Sutra des zweiten Kapitels spricht Patanjali über Ishvara Pranidhana. Das wird an dieser Stelle mit “Nicht-Anhaften” übersetzt (allerdings nicht im ersten Kapitel, in dem Patanjali diesen Begriff für “absolute Hingabe” verwendet). In diesem Kontext bezieht sich das Nicht-Anhaften auf das Prinzip, immer sein Bestes zu geben. Jedoch ohne an einem bestimmten Ergebnis oder einer Wirkung zu hängen. Ob du dein Ziel nun erreichst oder nicht, ob du gewinnst oder verlierst, ob du gesund sind oder krank. Praktiziere immer um der Handlung willen! Und nicht, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen.

Vairagyam und Ishvara Pranidhana werden beide mit “Nicht-Anhaften” übersetzt. Beide Begriffe haben gemein, dass sie sich mit der Beziehung zwischen Bemühen und Loslassen beschäftigen. Während Vairagyam bedeutet, Hindernisse zu überwinden, will Ishvara pranidhana vermitteln, dass man die Ergebnisse seines Bemühens oder Handelns loslassen sollte. In beiden Fällen geht es darum, sich von einer Anhaftung zu lösen, die Unruhe erzeugt.

Als ich vor über 20 Jahren zusammen mit meinem Lehrer T.K.V. Desikachar die Yoga-Sutras zu studieren begann, zog ich bei dem Wort “Nicht-Anhaften” eine Augenbraue nach oben. Bei diesem Wort musste ich an diese “sonnigen” New-Age-Typen denken, die immerzu sagen: “Alles ist gut.” Aus meiner eigenen Erfahrung wusste ich, dass keineswegs alles gut ist. Menschen erleben immer Tragödien, die es überhaupt nicht verdient haben. Niemals würde ich selbst losgelöst sein von den Dingen, da für mich Gefühle und Leidenschaft die Hauptauslöser für positive Veränderungen in der Welt waren. Ich würde nie damit aufhören, mich für meine Umwelt zu interessieren und zu mich um sie zu kümmern. Und ich würde auch nicht zu einem gefühlskalten Zombie werden. Oder noch schlimmer – zu jemandem mit einer aufgesetzten “Alles ist gut”-Einstellung werden, die keinen Raum für echte Gefühle lässt.

Verbindung mit dem Selbst heißt Ziele erreichen

Jahre des Unterrichtens haben mich gelehrt, dass ich nicht die Einzige bin, die das missverstand. Keine der beiden Auslegungen des Begriffs “Nicht-Anhaften” impliziert einen Mangel an Gefühl oder Interesse. Du kannst Enttäuschung, Ärger oder Traurigkeit fühlen. Wichtig ist nur, dass du durch diese Gefühle hindurchgehst. Und eben nicht an ihnen festhältst. Erlaube es diesen nicht, deinen Tag, deine Beziehungen, dein Leben negativ zu beeinflussen.

Im Angesicht von Verlust, Ungerechtigkeit und allen anderen Dingen, die dich bewegen, was bedeutet nicht anzuhaften? Dass du nach deinem Ziel strebst, dein Selbst jedoch nicht am Boden zerstört ist, falls sich die Dinge anders entwickeln, als du es dir erhofft hast. Was immer auch geschieht, du bleibst mit deiner tiefen Essenz verbunden. Das hat den Effekt, dass du im gegenwärtigen Moment deiner Handlungen oder Praxis verweilst. Statt sich von Gedanken an das Ergebnis ablenken zu lassen. Gleichzeitig lernst du dadurch, zwischen deiner momentanen Erfahrung und dem, was du wirklich bist, zu unterscheiden. So kultivierst du eine stärkere Verbindung mit deinem Selbst. Zudem steuerst du in ein glücklicheres, zufriedeneres und erfüllteres Leben. Auf dem Weg kannst du deine Ziele erreichen.


Autorin: Kate Holcombe ist Gründerin und Vorsitzende der gemeinnützigen Organisation Commonweal.| Photo by Fleur Kaan on Unsplash

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