Die Würde der Kreatur

Lernen von den Menschen

In keiner der großen Weltreligionen spielen Tiere oder die übrige belebte Natur eine wesentliche Rolle. Es ist nicht bekannt, dass sich je ein Papst oder ein anderer Religionsführer als Vegetarier oder gar als Veganer geoutet hätte. Keiner der Herren scheint ein irgendwie geartetes persönliches oder wenigstens theologisches Verhältnis zu Tieren oder Pflanzen besessen zu haben. (Der Dalai Lama ist die rühmliche Ausnahme.)

Vor dem Hintergrund des christlichen Schöpfungsglaubens ist das eigentlich überraschend – schließlich gelten Tiere hier als Mitgeschöpfe. Doch das fatale Bibel-Diktum „Macht Euch die Erde Untertan“ hat die Christen offenbar nicht nur um jedes Mitgefühl, sondern auch um den Verstand gebracht. Das Abendland plündert den Planeten seit Jahrhunderten besonders effektiv und quält und verachtet dabei alle andersartigen Lebewesen. Der zuständige Gott sagt dazu: „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.“

Das religiöse Denken ist also eine rein anthropozentrische Angelegenheit: Es dreht sich ausschließlich um den Menschen und dessen Nutzen. Weiter reicht weder die Phantasie noch die Empathie. Die unbelebte Umwelt, die Natur als Ganzes, das Universum oder ähnliche Kleinigkeiten, von denen wir leben und abhängig sind, brauchen wir an entscheidender Stelle in den heiligen Schriften nicht zu suchen – davon steht höchstens etwas im Kleingedruckten.

Selbst die Idee von der „Bewahrung der Schöpfung“ kommt über die menschliche Ebene nicht hinaus. So sagt Prof. Dr. Rainer Anselm im Jahr 2013 mit großer Naivität, Bewahrung der Schöpfung bedeute, mit daran zu arbeiten, dass es allen Menschen auf der Welt gut gehe. Natürlich soll es allen Menschen gut gehen, aber den Rest der Schöpfung dabei zu vergessen, ist ein wenig unmodern.

Das war schon einmal anders: Aristoteles sprach von einer „scala naturae”, der Mensch als Teil der Natur, als höheres Tier. Dieses Denken herrschte bis ins Mittelalter vor. Dann plötzlich trat der Mensch aus der Natur heraus, begriff sich als Sonderfall und gegenüber der Natur mit unerschöpflichen Rechten ausgestattet. Ein in dieser Hinsicht vollkommen irrer René Descartes erklärte Tiere zu seelenlosen Maschinen. Aus der Macht, die der Mensch hat, wurde das Recht, andere Wesen wie leblose Dinge zu benutzen.

Damit war das Schicksal der Tiere in der Neuzeit besiegelt. Die Ausbeutung und industrielle Vernichtung von tierischem Leben begann gigantische Ausmaße anzunehmen. Schade, denn mit ein wenig Nachdenken hätte aus der Macht auch Verantwortung werden können. Leider scheint es jedoch schier unmöglich zu sein, uns Christenmenschen etwas von unserer Verantwortung für Wesen zu vermitteln, die schwächer sind als wir, und gegenüber der Natur, von der wir leben.

In diesem Kontext kann man dennoch von den Menschen lernen – und zwar, wenn man sich ein Beispiel an den Schweizern nimmt: Die haben nämlich seit 1992 die Würde der Kreatur in ihrer Verfassung verankert. Zum Glück, denn dieses Verständnis von Würde bezieht sich auf die gesamte menschen-unabhänigige Natur, also auch auf Pflanzen. Kein anthropozentrisches Denken also, sondern ein pathozentrisches und biozentrisches, das sich endlich um viel mehr als um uns dreht!

Der deutsche Philosoph Robert Spaemann spricht von der „Pflicht“ des Menschen, sich die Folgen seines Handelns genau anzusehen und sich mit den Konsequenzen zu konfrontieren. Yogis und Menschen, die von sich behaupten, in spirituellen Zusammenhängen zu leben, bleibt ohnehin nicht viel anderes übrig, als sich in einer kosmozentrischen Wahrnehmung zu üben. Aufmerksamkeit, Sensibilität und Neugier schließen im Prinzip das ganze Universum ein, zumindest aber unsere ganze Welt.

Das bedarf einiger Übung, aber wenigstens bis zum nächsten Tier sollte die Vorstellungskraft schon reichen – und zwar bis zum nächsten Tier auf dem Teller vor uns. Oder bis zur Kuhmilch im Kaffee, die da gar nichts zu suchen hat. Weshalb, das sollte man allerdings nicht die Götter fragen.

Von Michi Kern

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Das Neueste

Den Körper lieben lernen – 3 Übungen für mehr Körperwahrnehmung

Dein Körper ist ein Partner fürs Leben – ihr werdet für den Rest eures irdischen Daseins miteinander auskommen müssen....

Astrologie: So wirkt der November-Vollmond im Stier

Wann ist Vollmond? Am 15. November um ca. 22:28 Uhr steht der Vollmond im Erdzeichen Stier. Jetzt treffen zwei...

Dies.Das.Asanas mit Jelena Lieberberg – Der Päckchen-Handstand

Ein freier Handstand, der dir sogar Zeit lässt, deine Beine anzuwinkeln – von so viel Körperbeherrschung träumen die meisten...

YogaWorld Podcast: #129 Fortgeschrittene Pranayama-Praxis mit Susanne Mors

Willkommen beim "YogaWorld Podcast"! Die Idee dahinter: Zugang zu echtem Yogawissen, ohne stundenlangem Bücherwälzen. Hier erfährst du einfach alles...

#129 Energieerweckung in Balance: Fortgeschrittenes Pranayama für neue Tiefen deiner Yoga-Praxis – mit Susanne Mors

Erlebe die transformative Wirkung von Kapalabhati, Wechselatmung und Bhastrika in einer intensiven Pranayama-Praxis Entdecke die Kraft der fortgeschrittenen Pranayama-Praxis mit...

Frauen werden anders krank – Männer auch

Aus dem Yoga wissen wir: Asanas, bei denen es um Beweglichkeit geht, fallen Männern meist schwerer als Frauen, während...

Pflichtlektüre

Das könnte dir auch gefallen
Unsere Tipps