Wenn Sie mit Hilfe von Pratyahara üben, Ihre Sinne nach innen zu richten, können Sie tiefe Ruhe erfahren.
Von Jennifer Rodrigue
Eines frühen Morgens, als ich mit einigen anderen Ashtanga-Yogis in meinem Stamm-Yogastudio übte, rollte ein mir unbekannter Mann seine Matte neben meiner aus. Wir alle praktizierten selbstständig Ashtanga Yoga im Mysore-Stil, aber mir wurde schnell klar, dass sich die Praxis des Neuankömmlings von unserer unterschied. Seine Positionen waren fortgeschrittener, aber da war noch etwas anderes. Ich konnte nicht genau benennen, was seine Praxis so besonders machte. Aber ich konnte sicher sagen, dass seine Kraft, seine Körperhaltungen und seine Anmut alles übertrafen, was ich je gesehen hatte. Ich sah ihm zu, wie er durch eine extrem komplizierte Haltung floss und dabei völlig unbeeindruckt von der technischen Schwierigkeit der Übung wirkte. Auf seinem Gesicht zeigten sich weder Anstrengung oder Entmutigung noch Freude oder Stolz. Seine Atmung war tief und der Blick ruhig. Seine Bewegungen wirkten flüssig, leicht und leise. Er ging wirklich in seiner Praxis auf. Er ruhte in sich selbst.
Ich wusste es damals noch nicht, aber dieser Mann zeigte mir den Weg zu Pratyahara, einem Seins-Zustand, in dem die Sinne nach innen gerichtet und nach außen verschlossen sind. Pratyahara ist das fünfte Glied des klassischen Yoga, wie Patanjali es in seinem Yoga-Sutra beschreibt. Die ersten beiden Glieder, Yamas (Verhaltensregeln gegenüber der Umwelt) und Niyamas (Verhaltensregeln gegenüber sich selbst), enthalten das philosophische und ethische Fundament der Praxis. Sie lehren Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nicht-Anhaften, mentale und physische Reinheit und anderes mehr. Das dritte Glied, Asana, umfasst die körperliche Yogapraxis. Das vierte Glied, Pranayama, ist den Atemtechniken gewidmet und dem fünften Glied Pratyahara vorangestellt. Die letzten drei Glieder lehren uns Konzentration (Dharana) und Meditation (Dhyana), damit wir den Ort der Erleuchtung (Samadhi) erreichen. Pratyahara baut also eine Brücke zwischen den nach außen gerichteten Aktivitäten der ersten vier Glieder und der nach innen gerichteten Energie der letzten drei. Aber ich habe den Eindruck, dass Pratyahara oft übergangen wird.
Atmung ist der erste Schritt
Dabei kann Pratyahara eine entscheidende Rolle bei der Weiterentwicklung der persönlichen Praxis und des Bewusstseins spielen. Die Stufen auf Patanjalis achtgliedrigem Pfad sind sorgfältig angelegt und bauen aufeinander auf. Um sich konzentrieren und in die Meditation vertiefen zu können, müssen Sie zunächst Ihre Fähigkeit trainieren, die Sinne nach innen zu richten und sie zu verschließen, egal, was um Sie herum passiert. „Wenn ich meinem Geist befehle, sich nach innen zu richten, wird er das Gegenteil tun. Pratyahara ist also keine Entscheidung“, sagt ParaYoga-Gründer Rod Stryker. „Wenn ich aber systematisch mit meiner Atmung arbeite, passiert es ganz von selbst.“ Um also die Voraussetzungen für Pratyahara zu schaffen, üben Sie zunächst Pranayama-Techniken. Ein anderer Weg zu Pratyahara ist die Besänftigung und Entspannung der Sinnesorgane, so dass sie weniger stark auf Außenreize reagieren. „Unsere fünf Sinne sind unsere Antennen in die Außenwelt, in die materielle Welt“, erklärt er. „Pratyahara will die inneren Sinne wecken – die Antennen nach innen.“ Anders ausgedrückt: Pratyahara bedeutet nicht nur, die Außenwelt auszublenden, sondern eine ganze Welt im Inneren zu entdecken.
Vorbereitung auf die Praxis
Die Übungsstrecke, die auf der gegenüberliegenden Seite beginnt, bietet einen guten Einstieg in Pratyahara. Um ihre Wirkung zu verstärken, nehmen Sie nach jeder Position die Kindeshaltung ein, um die nach innen gerichtete Intention zu unterstreichen. Lassen Sie in jeder Haltung die Atmung sanft immer länger werden. Ihre Atmung sollte sich voll, lang und offen anfühlen, ohne den Kiefer, den Rachen oder die Brust einzuengen. Beginnen Sie mit 7 bis 10 Atemzügen in jeder Position. Im Verlauf Ihrer Praxis können Sie sich auf 15 bis 25 Atemzüge steigern. Achten Sie genau darauf, wie sich die Übergänge in die Haltungen hinein und aus den Haltungen heraus anfühlen. Wenn Sie eine Haltung eingenommen haben, widerstehen Sie dem Bedürfnis, sich zu bewegen und die Haltung zu verändern. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit durch Ihren gesamten Körper, ohne sich allzu lange bei einem speziellen Gefühl aufzuhalten. Dann richten Sie den Fokus nach innen und beobachten Ihre Atmung. Achten Sie darauf, wie Sie auf die aktiveren und wie Sie auf die eher empfangenden Positionen reagieren.
Wenn Sie sich beispielsweise in Shalabhasana (Heuschrecke) gegen die Schwerkraft heben oder wenn Sie in Ardha Chandrasana (Halbmond) die Balance suchen, bemerken Sie an Ihren Sinnen vielleicht eine Härte und ein Festhalten. Beobachten Sie aufmerksam jede Anspannung von Zunge und Kiefer, entlang des Halses, um die Augen, in den Ohren, auf dem Nasenrücken und von der äußersten bis zu innersten Schicht Ihrer Haut. Vergleichen Sie diese Wahrnehmungen mit der Weichheit und dem Loslassen in der Kindeshaltung. Vielleicht können Sie in den Sinnesorganen und um sie herum weich werden, indem Sie sich vorstellen, dass Sie ihre Anspannung von außen nach innen schmelzen lassen. Mit der Zeit und bei regelmäßiger Praxis reicht es dann schon, die Aufmerksamkeit auf Augen, Ohren, Nase, Haut und Zunge zu lenken, um eine Bewegung nach innen und ein Gefühl des Loslassens auszulösen – auf der Matte wie im Alltag.