Gerne verwendet die Yogawelt Worte wie „alt“ oder „traditionell“, um bestimmte Aussagen zu vermarkten. Dadurch wird impliziert, dass uns etwas Essenzielles verloren gegangen ist und wir die Missstände der modernen Welt nur dann ausräumen können, wenn wir zu den alten Werten zurückkehren. Doch haben wir uns wirklich verirrt? War die Welt früher so viel besser? Und die Menschen weiser?
Da keiner von uns zur viel beschworenen „damaligen Zeit“ lebte, kann uns niemand eine glaubwürdige Antwort liefern. Wenn ich mir allerdings manche Gegebenheiten ansehe, die als Maßstab dienen könnten, glaube ich, dass wir heute eindeutig besser dran sind. Unsere Lebenserwartung, die Menschenrechte und die Möglichkeit, andere Kulturen und Ideen kennen lernen zu können, sind ein wesentlicher Fortschritt. Die heutige Zeit ist weitaus freundlicher zu Menschen mit Zahnschmerzen, zu Homosexuellen, zu Kritikern der vorherrschenden politischen Meinung oder denjenigen, die bestimmte Konzepte von Gott oder gar die Existenz Gottes in Frage stellen.
Angesichts der Missstände der modernen Welt ist allerdings auch nachvollziehbar, weshalb sich viele Menschen in eine nostalgische, mythische und vermeintlich tugendhafte Vergangenheit zurückträumen. Diese Zuflucht in Illusion und Wunschdenken ist allerdings unproduktiv und rückwärtsgewandt. Schließlich ist es gerade im Yoga wichtig, die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart, das Jetzt, zu richten. Die persönliche Innenschau umfasst zwar auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – allerdings nur, um sich von ihr zu befreien. Daher sollten die Versprechen rund um den Nutzen des Yoga auf den Erfahrungswerten unserer Zeit beruhen.
Überhaupt: Yoga, wie wir es heute kennen, ist alles andere als althergebracht. Yoga ist kein Museumsstück – die Praxis ist ein lebendiges, atmendes, und sich stets weiterentwickelndes Konzept. Die meisten Asanas wurden erst im 20. Jahrhundert entwickelt und befinden sich weiterhin in einem evolutionären Prozess. Während der vergangenen 100 Jahre haben die Ideen und Praktiken des Yoga mehr und mehr Menschen und heute sogar globale Relevanz erreicht. Das goldene Zeitalter des Yoga ist – jetzt!
Kirtan kommt aus dem Herzen
Mit der wachsenden Yoga-Community wird auch die Praxis des Kirtan immer populärer. Viele Übende kommen durch das Chanten in Berührung mit Bhakti Yoga. Die verschiedenen Ausprägungen und Stile des Kirtan werden immer zahlreicher. Parallel wird die Frage laut, worin die „wahre“ Tradition dieser Praxis besteht. Die Diskussion ist spannend und spricht für unsere dynamische und innovative Kultur. Dennoch finde ich es wichtig, darüber nicht die Intention und Wirkung aus den Augen zu verlieren. Kirtan (Sanskrit für „singen“) ist eine der ältesten Formen spiritueller Musik. In der westlichen Welt bringen wir unweigerlich unsere eigenen kulturellen Prägungen mit. Meine Absicht ist weniger traditionell, als vielmehr authentisch zu sein. Damit meine ich, dass das, was ich tue, aus meinem Herzen kommt. Yoga stärkt das Bewusstsein, dass alles eins ist. Vor diesem Hintergrund
ist ein Verschmelzen der östlichen Kirtan-Tradition – mit seinem Fokus auf der Auflösung des Individuums – mit westlichen Musiktraditionen wie Gospel, Jazz und Rock kein Widerspruch. Zwar steht bei Letzteren der Ausdruck des Individuums im Mittelpunkt, aber alle Richtungen entstehen aus demselben Impuls heraus: Das auszudrücken, was ekstatisch, befreiend und transzendent ist. Kirtan ist volkstümliche Musik, die im Rahmen der indischen Bhakti-Bewegung im 15. Jahrhundert entstanden ist. Ursprünglich wurde er von Sängern und Musikern praktiziert, die wenig formelle Ausbildung hatten. Die Bhaktis schrieben ekstatische Liebesgedichte, die dem Göttlichen gewidmet waren, und zogen singend umher. Ihre Botschaft war einfach, aber in einer Kastengesellschaft radikal: „Kultiviere und fördere Freude. Sieh das Göttliche im Anderen. Die Liebe macht uns alle gleich.“
Kirtan ist Innovation
Jede Neuerung, etwa die Erweiterung des Spektrums an Instrumenten, die im Kirtan zum Einsatz kommen, hat für Kontroversen gesorgt. Die Einführung der Sarangi, einem Streichinstrument, das der westlichen Viola ähnelt, sorgte für Entrüstung, da sie traditionellerweise in Bordellen gespielt wurde. Tablas stammen aus der musikalischen Kultur der Perser und wurden von muslimischen Mogulen eingeführt. Die Briten steuerten das Harmonium bei, das ursprünglich christliche Gesänge begleitete. Der Kirtan hat sie alle gleichermaßen integriert. Aktuell halten in der westlichen Welt Gitarre, Bass und Schlagzeug aus der Rockmusik, Violine und Cello aus der klassischen Musik, das Hackbrett aus der Tradition der Sinti und Roma, Trompete und Saxophon aus dem Jazz Einzug. Kirtan gibt ihnen allen Raum. Innovation und Synthese sind Teil seiner Tradition.
Die Absicht des Kirtan ist Bewusstseinsveränderung. Er lädt die Sänger ein, eins zu werden mit dem Gesang – ähnlich wie Regentropfen, die wieder Teil des Ozeans werden. Was mich besonders am Kirtan fasziniert, ist das Verschwimmen der Grenzen zwischen dem Publikum und dem Künstler. Eine Menschenmenge, die gemeinsam singt und atmet, wird zu einem großen Ganzen mit einer eigenen Intelligenz – ähnlich einem Schwarm Vögel, der in völliger Harmonie die Richtung wechseln kann. Teil von so etwas zu sein, ist eine beeindruckende Erfahrung. Man fühlt sich mit den Menschen um sich herum verbunden, obwohl man sie nie zuvor
gesehen hat. Man spürt sich über die Grenzen des Selbstkonzeptes hinaus und fühlt sich lebendig.
Das Chanten öffnet unsere emotionalen Kanäle und wirkt wie eine Katharsis. Das hat zur Folge, dass sich unsere Konzentration vom Hirn zum Herz hin verlagert. Der Verstand bemüht sich, die Dinge in Kategorien einzuordnen, das Herz hingegen sehnt sich nach Einheit. Auch die neurochemischen Vorgänge beim Chanten sind beeindruckend: Singen reduziert die Aktivität in den Bereichen des Gehirns, die dafür sorgen, dass wir uns als getrennt von unserer Umwelt wahrnehmen. Dadurch verringert sich das Gefühl von Einsamkeit.
Aus linguistischer Perspektive ist Sanskrit die Mutter vieler moderner Sprachen. Es kann als eine Art göttlicher „Nonsens“ erfahren werden, der dazu dient, Unreinheiten des Geistes fort zu spülen. Mantras sind in erster Linie Rezitationen der vielen verschiedenen Namen für das Göttliche. Ihre wahre Bedeutung liegt vermutlich jedoch in dem Gefühl der Verbundenheit, des Wohlbefindens und der Zeitlosigkeit, die sie in uns auslösen.
Um Kirtan in der Tiefe zu erleben, müssen wir uns in ihn hinein begeben. Kirtan repräsentiert ein Miniaturmodell des Universums, wo jeder im Mittelpunkt steht und das Gesamtgeschehen mit beeinflusst, während er sich gleichzeitig vom Ganzen beeinflussen lässt. Kirtan ist ein Weg, Freude zu erleben und zu spüren, wie sie durch andere verstärkt wird. Kirtan ist ein Weg, um unsere Verbundenheit mit dem großen Ganzen wahrzunehmen.
Yoga basiert auf Erfahrung, nicht auf Glauben. Es fordert uns auf, zu praktizieren und unsere Erfahrungen zu beobachten, um unsere Wahrheit in unserem Herzen zu finden. Auch wenn ich die Namen hinduistischer Götter und Göttinnen singe, richte ich mich damit nicht konkret an etwas oder jemanden. Für mich stehen die Gottheiten und ihre Mythologien für die verschiedenen Kräfte, aus denen unser Universum besteht. Mich motiviert mein Interesse, einen Ort des reinen, liebenden Bewusstseins zu erreichen, der jenseits aller Bilder, Konzepte und Dinge existiert. Das ist, was ich unter „Gott“ verstehe. Ein Bewusstsein, das ich nur in Momenten tiefer, innerer Stille erfahren kann. Das Chanten bringt mich dorthin: in die unmittelbare Gegenwart.
Autor: Dave Stringer