Anstatt zum Kampf zu blasen, bricht ein Heerführer voller Angst und Zweifel zusammen. Was wie ein militärischer Skandal anmutet, ist der Beginn der Bhagavad Gita – einem der wichtigsten spirituellen Texte des Hinduismus und des Yoga. Seine zentrale Frage lautet: Wie erlangen wir Frieden?
Text: Sybille Schlegel, Titelbild: reddees Images via Canva
Er ist der beste aller Bogenschützen. Beliebt, bewundert, begeisternd. Er ist der Beschützer der Armen und ungerecht Behandelten. Er strahlt, er strotzt vor Energie, er ist unzweifelhaft ein Held. Er heißt Arjuna: der “Silberstreif am Horizont”.
Im großen Epos Indiens, dem Mahabharata, erleben Arjuna und seine Brüder verschiedene Abenteuer, beginnend mit einem verlorenen, weil gezinkten, Würfelspiel: Yudhisthira (“der Kampferprobte”) verliert dabei seinen Anspruch auf den Thron an seinen missgünstigen Cousin, Duryodhana (“den Falschkämpfenden”). Nomen sunt Omen: Die Geschichte beschreibt den Kampf des Guten gegen das Böse, des Lichts gegen die Dunkelheit, der Pandavas (“die Weißen”, Familie Arjunas) gegen die Kauravas (die Familie Duryodhanas). Es ist ein ungleicher Kampf: Das Gute ist in der Unterzahl und doch ist es das Karma der Brüder, den Weg der Gerechtigkeit zu gehen.
Die Arjuna-Situation
In den der Bhagavad Gita vorangehenden Kapiteln des Mahabharata wird Arjuna zu einem Helden stilisiert. Er zeichnet sich ebenso durch seinen unnachahmlichen Fokus beim Bogenschießen aus wie durch seine Moralität im Kampf für das Gute. Zu Beginn des sechsten Kapitels stehen sich dann endlich beide Seiten auf dem Schlachtfeld gegenüber: Der Erzähler berichtet von den würdigen Kriegern beider Seiten, er beschreibt, wie sie sich, zum Losschlagen bereit, gegenüberstehen. Man kann es sich lebhaft vorstellen: Das Schnauben und Stampfen der Pferde, jemand hustet, der Wind pfeift leise. Sonst Stille, die Ruhe vor dem Sturm.
Arjuna lässt den Wagenlenker vor seine aufgereihten Mannen fahren. Der Wagen stoppt. Alle halten den Atem an. Gleich wird Arjuna auf seinem Muschelhorn zum Angriff blasen … So weit, so Braveheart. Doch was dann passiert, ist ein hollywoodreifer Clou: Der Held bricht zusammen! Zitternd, blass und voller Zweifel klagt er dem Wagenlenker sein Leid, also demjenigen, der ihn in die gewünschte Richtung leiten soll.
Ein moralisches Dilemma
Arjuna hat das Gefühl, dass egal, was er auch anstrebt, falsch ist: Kämpft er, tötet er seine Verwandten und Freunde, was seiner Ehre als Krieger entgegensteht, der doch seine Familie beschützen sollte. Kämpft er dagegen nicht und lässt den “bösen” Kauravas den Sieg, so handelt er entgegen seiner Pflicht, denn ein Krieger ist in der Standesgesellschaft des alten Indiens nun mal zum Kämpfen da.
Ein klassisches Dilemma, aus dem er keinen Ausweg sieht. Sein Geist wirbelt wie ein entfesselter Sturm. Alles, was Arjuna jetzt will, ist Frieden: “Sag mir, was ich tun soll,” fleht er seinen Wagenlenker an. “Ich bin dein Schüler!”
Die Weisheit weist den Weg
Arjuna fragt allerdings nicht irgendwen: Sein Wagenlenker ist der Gott Krishna. Bisher einer seiner Jungs, einer, mit dem man durch dick und dünn gehen kann. Jetzt zeigt sich, dass Krishna über wahre Weisheit verfügt. Denn anstatt in Arjunas Lamento einzustimmen, hört er sich dessen Problem an und lächelt. Lächelt? Es ist ein wissendes Lächeln, wie das einer Mutter, deren Kleinkind das Ende der Welt in einem zerbrochenen Keks fühlt.
Sie lächelt, weil sie weiß, es geht vorbei, es ist nicht das Ende, es ist das, was es ist – und das Kind wird es lernen. Krishna lächelt, weil er sieht, dass sein Freund in seinem Leid und durch sein Leid genau an dem Punkt ist, an dem er lernen und wachsen, selbst weiser werden kann.
An dieser Stelle der Erzählung beginnt die eigentliche Lehre der Bhagavad Gita und wir tun gut daran, zuzuhören. Denn natürlich sind wir in gewisser Weise wie Arjuna: Wir kennen Leid und suchen inneren Frieden. So kann die Bhagavad Gita auch für uns zu dem werden, was sie schon für Johann Wolfgang von Goethe war: ein Text, der unser Leben maßgeblich beeinflusst.
Jnana Yoga: Erkennen, was wirklich ist
Zurück zu Arjuna: Sein Problem ist nicht wirklich der Kampf, sein Problem ist die Unruhe seines Geistes. Der Geist ist es, der ein Problem verkündet hat: kämpfen oder nicht kämpfen? Und er kann keine Lösung finden. Einerseits, andererseits, aber, jedoch, oder… Man kennt das. Die Nadel hängt im Kratzer der Dualität und wiederholt wirbelnd, einsaugend und einnehmend, was man nicht hören will. Ach, Geist, wenn du doch mal die Klappe halten würdest!
Krishna weiß den Ausweg: den Weg nach innen. Krish bedeutet auf Sanskrit nach innen ziehen oder in die eigene Kraft ziehen. Krishna ist also einer, der die Energie, die nach innen, in die Quelle der eigenen Kraft führt. Und gleichzeitig ist er selbst das Innerste und die Kraft, wie er Arjuna im 9. Gesang erklärt. Weg und Ziel. Einheit.
Der Dialog beginnt – etwas unüblich für einen Yogatext – mit dem Thema Tod. Arjunas Furcht, sich mit dem Töten der Gegner Schuld aufzuladen, hat ja schließlich sein Dilemma mit ausgelöst. Krishna versucht, ihm das Unerklärliche zu erklären: Die ewige Seele (Atman) ist das, was ewig und damit einzig wirklich ist. Alles andere ist im Prozess des Kommens und Gehens befindlich und dadurch nur temporär existent. Dieses Temporäre ist nach Krishnas Ausführungen aber nicht “wirklich”. Demnach kann Arjuna nur die temporären Körper töten, niemals aber den wahren Kern des Seins.
Es hilft hier, den Blick von der erzählten Geschichte auf die Symbolebene zu heben: Es geht hier nicht so sehr um die Frage “Töten oder nicht töten?”, sondern eigentlich um das Wesen des Seins und der Existenz. Um Purusha (Geist, Essenz) und Prakriti (Materie, Natur), um den Tanz von Shiva und Shakti. Wer das Wesentliche erkennt, wird frei von Angst und Kummer. Aber so einfach ist das nicht: weder für Arjuna noch für uns …
Raja Yoga: Meditieren bis zum Eins-Sein
Unruhe verschwindet in der Präsenz der Ruhe. Angst in der Gegenwart der Liebe. Leid in “dem Moment, in dem man nichts vermisst”, wie Sri Brahmananda Sarasvati den Begriff Yoga oft definiert hat. Krishna weist Arjuna an, zu meditieren: sitzend auf einem Haufen Kuhu-Gras, die Nase zur Brust gesenkt, äußerlich bewegungslos, innerlich still. So, sagt er, kann er in sich spüren, was eins ist, der Ursprung von allem, das existiert und in allem enthalten ist. Brahman, Atman, Purusha, Shiva, Krishna – die Yogaquellen kennen viele Namen, aber der Name ist irrelevant, die Realisierung des Einen ist ausschlaggebend.
Denn dann kann Arjuna erkennen, dass sein Problem ein Problem des Geistes ist, der alles in Gegensatzpaare ordnet, gemäß seiner dualen Art. Dass alles kommt und alles geht. Das Wesen der Existenz im Unterschied zum Wesen des Seins, das ewig ist. Arjuna gefällt, dass es etwas gibt, das er tun kann. Als Angehöriger des Kriegerstands ist ihm Handeln näher als Kontemplation. Realistisch wie er ist, weist er Krishna darauf hin, dass er in seinem Alltag, zumal aktuell auf einem Streitwagen inmitten zweier aufgestellter Heere sitzend, wenig Raum hat für langwierige Meditationen.
Und wer kennt das nicht? Auch wenn bei den meisten der Kampfplatz aus Arbeitsstelle, Familie, Urlaubsplanung, Karriere-Überlegungen, Hausputz etc. besteht … Gibt es noch eine andere Möglichkeit, fragt er seinen Freund?
Karma Yoga: Handeln im Jetzt
Es gibt sie. Die Praxis für alle, die keine Zeit für Praxis haben. Die mitten im Leben stehen, auf ihrem individuellen Schlachtfeld. Tu, was du tun musst, sagt Krishna. Aber kümmere dich nicht um das Ergebnis. Diese Stelle triggert uns zur Verantwortung und Effizienz erzogenen modernen Menschen doch sehr: Ist ergebnis-unorientiertes Handeln nicht dasselbe wie zielloses Handeln? Wo ist die Motivation? Wo das Weiterkommen, der Fortschritt?
„Wir alle sind in
gewisser Weise wie
Arjuna: Wir kennen
Leid und suchen
inneren Frieden.“
Willst du wirklich, dass dein Arzt handelt “ohne an die Früchte zu denken”? Natürlich nicht, ist mein erster Gedanke. Aber: So ein Arzt wäre vor allem ein konzentrierter Arzt, dessen Fokus auf dem reinen Handeln liegt, was ja ein gutes Ergebnis bedingt. Was ich nicht will, ist ein Arzt, der während der OP an seine Quartalsabrechnung denkt, an seinen Fähigkeiten zweifelt oder innerlich beim nächsten Golfspiel ist (um mal ein paar Klischees zu bemühen). Und genau darum geht es: Um die Konzentration, den Fokus. Handeln mit einem ruhigen Geist. Ohne Citta Vrttis (Gedankenbewegungen), wie es Patanjali nennen würde. Dann ist man in dem Teil des Selbst, das nicht aus dem denkenden Geist besteht. So sieht Handeln im Yoga aus. Denn Frieden ist innerer Frieden.
Bhakti Yoga: Lieben geht immer
Es gibt aber noch eine weitere Möglichkeit, einen weiteren Pfad des Yoga. Und der ist Krishna eigentlich am liebsten: Lieben. Im Verständnis, dass Krishna in allen Manifestationen steckt. Die Einheit in der Vielfalt erkennend und schätzend. “Handle so, dass es für alle gut ist”, sagt Krishna. Verhalte dich umsichtig, rücksichtsvoll, mitfühlend, respektierend, verständnisvoll, frei von Gewalt, zugewandt. Das ist Hingabe an das Leben, ebenso wie an das Sein selbst. Herz über Kopf. Wahrer Frieden.
Arjuna findet seine Fassung wieder und nimmt den Kampf auf. Moment mal? Morden um des Friedens willens? Entspann dich, Geist. Es ist symbolisch zu verstehen! Arjuna kämpft gegen Gewohnheiten, Ängste, den eigenen windigen Geist. Er kämpft für den Frieden, den laut Sri Nisargadatta Maharaj derjenige verdient, der ihn nicht stört.
Sybille Schlegel ist unsere Lieblingsautorin, wenn es um alltagstaugliche Texte zur Yogaphilosophie geht: So locker und leicht, so tief und wahr, einfach wunderbar! Dieser Text stammt aus unserer Reihe im YOGAWORLD JOURNAL “Die wichtigsten Texte der Yogaphilosophie”. Mehr über Sybille erfährst du auf ihrem Instagram Account. Live kannst du sie in Mainz erleben, im Hatha Vinyasa Parampa Studio, das sie gemeinsam mit Andreas Ruhula leitet.
Du willst noch tiefer in die Lehren der Bhagavad Gita eintauchen? Hier geht es zu einer passenden Podcast-Folge mit dem Yogaphilosophie-Experten Dr. Eckard Wolz-Gottwald: