Als erfahrener Yogalehrer und promovierter Psychologe beschäftigt sich Patrick Broome schon lange mit der Frage, was uns emotional in die Stabilität bringt. Er plädiert für weniger Nabelschau – und viel mehr Yogapraxis.
Interview: Stephanie Schauenburg / Titelbild: yuriyseleznev via Canva /
Portrait-Fotos: Christian Krinninger
Patrick, du schriebst kürzlich, Furchtlosigkeit habe sich bei deinem letzten Retreat als Thema herauskristallisiert …
… und kurz darauf hab ich gesehen, dass ich das vor zwei Jahren schon mal als mein Jahresmotto ausgegeben hatte! Damals hatte ich Fotos der Musiker Roger Rekless und Robert Ehrenbrand vor Augen, die auf Konzerten die Faust nach oben reckten, und ich dachte mir, um diese Haltung geht es: Furchtlos sein, sein Ding machen und darauf hinweisen, was falsch läuft – und es läuft gerade so furchtbar viel falsch…
Sprichst du da von den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen oder vom Yoga?
Von beidem. Ich seh die Welt natürlich aus der Perspektive des Yogalehrers – und in der Yogawelt ist das für mich gerade ein ganz großes Thema: Lehrer*innen sollten von dem Gedanken wegkommen, alle müssten sie lieben, und stattdessen ihre eigene Wahrheit leben. Wenn wir Menschen in die Stabilität und Furchtlosigkeit bringen wollen, dann müssen wir diese Qualitäten als Lehrende erst mal selber verkörpern. Wir müssen herausfinden, was es bedeutet, sich selbst und das, was da scheinbar gerade alles aus den Fugen gerät, zu ertragen.

Wie kann Yoga diese Stabilität konkret vermitteln?
Eigentlich wäre der naheliegende Ansatz eine Feuer-Praxis, also eine, die die transformative Kraft des Yoga betont und in der wir lernen Wut und Angst in etwas Produktives umzuwandeln. Aber erst einmal brauchen viele von uns eine Praxis, die uns in eine geistige Stabilität bringt. Das wäre eine Mond-Praxis, in der man länger in den Haltungen bleibt, auch viele Vorwärtsbeugen übt und all das, was dabei hochkommt, nicht wegdrückt, sondern sich dem stellt.
Dieses Nicht-Wegdrücken und in der Situation bleiben ist ja ein ganz wichtiger Ansatz nicht nur im Yoga, sondern vor allem auch in der modernen Psychologie …
Das ist richtig, wobei die Auseinandersetzung mit sich selbst auch nicht in diese ewige Nabelschau umschlagen sollte, die gerade unheimlich viel betrieben wird: Man geht immer wieder hinein in sein persönliches Drama und bleibt darin stecken. Dabei sollte man auch lernen, eine gesunde Distanz zu erzeugen, und sagen können: Okay, das ist da, das ist ein Teil von mir, den will ich auch nicht mehr wegdrücken, aber ich kann trotzdem weitergehen.
Das Wort „Nabelschau“ ist eigentlich spannend, denn im Bauch sitzen ja auf energetischer Ebene viele unserer angstvollen Gefühle.
Genau, es sind die unteren drei Energiezentren, in die wir erst mal eine Stabilität bringen müssen, bevor wir höher gehen. Mut ist ein Teil davon, er wird im dritten Chakra verortet und bedeutet gerade nicht, Angst wegzudrücken, sondern Herausforderungen mit einem gewissen Respekt zu begegnen. Denn wenn wir uns mit unserer Angst vertrauter machen, steht sie uns nicht mehr so im Weg. Wir können Dinge vorsichtig und mit Intelligenz tun.
Das erinnert mich daran, dass wir im allgemeinen Sprachgebrauch kaum zwischen Furcht und Angst unterscheiden, wobei Furcht sich ja eigentlich auf eine konkrete Gefahr bezieht und Angst eher diffuse Ursachen hat. Findest du diese Unterscheidung hilfreich?
Auf jeden Fall. Je bunter deine Innenwelt ist, desto mehr kannst du dir alle möglichen diffusen Schrecken ausmalen. Wenn du dich aber fragst: „Was macht mir da eigentlich gerade Angst? Aha, ich habe Furcht vor Ablehnung“, dann kannst du an einem konkreten, eingegrenzten Thema arbeiten. Dann lernst du, um mal dieses Beispiel zu nehmen, deinem Partner trotz deiner Furcht vor Ablehnung ab und zu mal eine Grenze zu setzen.
Hinter all unseren kleinen und großen Ängsten steht laut Yogaphilosophie eine ganz große, die existenziellste von allen: die Angst vor dem Tod.
Ja, die haben wir als diffuse Angst die ganze Zeit und sie schwingt in allem mehr oder minder stark mit.
Bedeutet das, dass wir Furchtlosigkeit zwar anstreben, aber nie vollständig erreichen können?
Lass es uns so sagen: Wir streben nicht Furchtlosigkeit an, wir streben mehr Mut an. Mut, Dinge zu tun, obwohl wir Furcht davor haben. Denn dann wachsen wir.
Hast du nicht den Eindruck, dass die Gegenwart tatsächlich furchteinflößender ist als frühere Zeiten?
Wir sagen, es sei alles so dunkel in unserer Zeit, aber da ist auch eine Bewusstheit, die ist so stark wie noch nie. Das sollte man nicht unterschätzen. Wir nehmen auch viel stärker die Mechanismen wahr, die uns in der Angst halten wollen. Ich finde das eigentlich großartig. Es zeigt, dass wir doch schon am Übergang sind von einem sehr dunklen Zeitalter in ein vielleicht nicht ganz so dunkles.
Wobei die Kräfte, die uns in der Angst halten wollen, schon ziemlich viel Macht haben, würde ich sagen …
Absolut. Du kontrollierst niemanden so gut wie jemanden, der Angst hat. Du treibst niemanden so leicht in den Konsum wie jemanden, der Angst hat. Aber das wird auch mehr gesehen und besprochen – und es gibt immer mehr Menschen, die sich dieser Angst verweigern. Wobei es mir natürlich auch eng um die Brust wird, wenn ich die Nachrichten lese. Umso wichtiger ist es, im kleinen, eigenen Umfeld die guten Kräfte zu stärken und vielleicht von dort aus etwas hinauszustrahlen.
Das klingt sehr bescheiden.
Wenn ich etwas gelernt habe in meinem Leben, dann ist es, dass es ganz vieles gibt, das ich kaum oder gar nicht beeinflussen kann. Das muss man lernen zu akzeptieren. Wenn zum Beispiel die Mehrheit der US-Amerikaner Trump als Präsidenten haben will, dann hilft es nichts, hasserfüllte Posts auf Social Media abzusetzen.
Das stimmt, manchmal tragen wir auch selbst zu dem ganzen Irrsinn bei, in dem wir leben, und merken es nicht mal …
Genau. Manchmal ist es auch ein gutes Statement, nichts zu sagen. Und dann kommt wieder ein Moment, wo es wichtig ist, Stellung zu beziehen. Nicht gegen einen bestimmten Menschen, sondern gegen die ungerechten Dinge, die passieren.

„Sanftheit, Offenheit und Mitgefühl – diese Qualitäten kommen alle aus der Kraft.“
Das hat auch viel mit einem stabilen Wertesystem zu tun.
Natürlich, wobei man unterscheiden sollte: Es gibt Werte, auf die wir uns als Gesellschaft geeinigt haben. Die sind wichtig und wir sollten sie respektieren. Aber wofür ich ganz persönlich stehe, das muss ich erst einmal durch eine tiefe spirituelle Praxis herausfinden. Erst in dieser Tiefe finde ich meine Aufgabe, nur von dort ausgehend weiß ich, was Wahrheit für mich ausmacht, was diejenigen meiner Werte sind, die nicht verhandelbar sind. Und die sollte ich leben, nicht einen Wertekatalog, den ich von irgendwo übernehme.
Auch ein Aspekt von Furchtlosigkeit, denn natürlich ist es einfacher, Mainstream-Meinungen zu vertreten als das, was du „die eigene Wahrheit“ nennst.
Diese Mainstream-Meinungen sind ja auch sehr laut gerade. Wer auch nur einen Moment lang ein bisschen davon abweicht, über den wird unglaublich schnell hergefallen.
Dabei könnte Furchtlosigkeit ja auch bedeuten, dass ich andere Auffassungen aushalten kann, ohne sie als Bedrohung oder Verletzung zu empfinden, über die ich herfallen müsste.
Das erlebe ich zur Zeit auch so: Wir müssen wirklich wieder Toleranz lernen. In einer Demokratie gehört das zwingend dazu.
Aber vielleicht gehen wir vom Gesellschaftlichen noch mal zurück ins Persönliche: Wie finden wir Stabilität, wenn das Leben einen wirklich schüttelt und die Furcht unweigerlich wächst? Du zum Beispiel lebst schon viele Jahre mit einer Krebsdiagnose …
Meine Antwort darauf ist: Praxis, Praxis, Praxis! Ich habe meine Yogapraxis so oft verloren in den letzten Jahren. Aber jetzt erlebe ich gerade wieder, wie wichtig mir ein starkes, tägliches Üben ist. Ich spüre den Effekt so deutlich – und ich möchte ihn nicht mehr missen. Dahin müssen wir im Yoga zurück.
Eine stabile Praxis, die uns auch die nötige Stabilität im Alltag bringt?
Ja. Hatha-Yoga bedeutet Kraft, es bedeutet, Gegensätze kraftvoll zueinander zu bringen und dadurch zu transformieren. Dafür brauchen wir Praxis. Wenn ich höre, „Ach, seit ich so viel unterrichte, übe ich kaum noch“, dann will ich antworten: „Dann hör auf zu unterrichten und übe!“ Sonst ist da keine Wucht dahinter.
Warum Wucht?
Wir brauchen Leute mit Wucht! Ich erinnere mich an eine Szene bei der Yoga Conference in Köln. Da hat eine Yogalehrerin gefragt, wofür Yoga da ist, und es wurden Begriffe wie Mitgefühl, Liebe und Verbundenheit genannt. Sie hat gelacht und gesagt: „Nein, Yoga ist die Praxis von Kraft, von Standfestigkeit!“ Darum geht es, glaube ich. Das gilt es wieder anzuerkennen.
Kann Standfestigkeit nicht auch Starre bedeuten?
Ich glaube eher, sie ist die Voraussetzung, aus der heraus sich auch wieder andere Qualitäten entwickeln können: Sanftheit, Offenheit und Mitgefühl – diese Qualitäten kommen alle aus der Kraft. Das Mantra, das ich gerade übe, ist dafür da, die Kraft von Shiva zu entwickeln, aber auch sein Mitgefühl (Anm. d. Red: Mehr dazu weiter unten). Aber zuerst kommt immer die Kraft.
Warum?
Weil das, was uns oft daran hindert, mitfühlend zu sein, innere Ängste sind. Sich von anderen berühren, sich von der Welt berühren zu lassen, erfordert Kraft, es erfordert Furchtlosigkeit, denn nur so können wir Empfindlichkeit zulassen und kultivieren.
„Wenn wir uns mit unserer Angst vertrauter machen, steht sie uns nicht mehr so im Weg.“

Patrick Broome ist – unter anderem als erster Yogalehrer der deutschen Fußballnationalmannschaft – eines der prominentesten Gesichter der deutschen Yogaszene. Er bildet seit vielen Jahren Yogalehrende aus und betreibt in München drei Studios. Über Furchtlosigkeit schrieb er schon 2015 in seinem Buch „Spirituelle Krieger“.
patrickbroome.de


