„Wir sind dabei, den Anstand zu verlieren“

Seit vielen Jahren pflegt die Politikerin Claudia Roth engen Kontakt zum Dalai Lama. Abseits der tagesaktuellen Politik sprach sie mit uns über dessen Bekenntnis zur Gewaltfreiheit, über Mut, Humor – und ihre hoch anständige Oma.

TEXT: ALEXANDRA KLEINHEINRICH FOTOS: J. KONRAD SCHMIDT UND MANUEL BAUER

Im Sommer saß die Grünen-Politikerin Claudia Roth zwischen drei Friedensnobelpreisträgern – Lech Wałęsa, Rebecca Johnson und dem Dalai Lama – auf einem buddhistisch rot verkleideten Podium in Darmstadt. Das von der Tibet Initiative Deutschland veranstaltete Symposium „Gewaltlosigkeit ist der Weg“ war in wenigen Stunden aus- verkauft. „Gewaltfreiheit ist der einzige Weg, auf dem wir ein gewisses Maß an Freiheit zurückgewinnen können”, so die These des Dalai Lama.


THEATER, MUSIK UND POLITIK

Geboren 1955 in Ulm, studierte CLAUDIA ROTH Theaterwissenschaften und arbeitete später als Dramaturgin. Sie war Managerin der Band Ton Steine Scherben um Rio Reiser, bevor sie 1985 als Pressesprecherin der ersten Grünen-Fraktion im Deutschen Bundestag in die Politik wechselte. Dort bekleidete sie Ämter wie das der Vorsitzenden im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, war Beauftragte der rot-grünen Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt sowie Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Außerdem engagiert sie sich in Verbänden wie Pro Asyl oder dem deutschen Lesben- und Schwulenverband – und im Beirat der Tibet Initiative Deutschland e.V. Seit 2013 ist sie Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.


„Wir müssen die Welt teilen lernen, wenn wir sie erhalten wollen.“

Frau Roth, Sie sind eng mit dem Dalai Lama befreundet. Welche Eindrücke haben Sie vom Symposium über Gewaltfreiheit mitgenommen?

Es ist immer eine Sternstunde, dem Dalai Lama zu begegnen. Da sitzt jemand in einer unvorstellbaren Bescheidenheit, genau in dieser Zeit von Krieg, Gewalt, Krisen, Hass, Verächtlichmachung, und vermittelt dir, was Liebe statt Hass bedeutet, was Empathie statt Ignoranz bewirkt und worin unsere Verantwortung für globale Fragen liegt. Dabei verkörpert er selbst den Mut, über Jahrzehnte seine Haltung nicht aufzugeben: Gewaltfreiheit als Grundprinzip – nicht nur, aber auch für die Tibeter und Tibeterinnen, deren Menschenrechte von China seit Jahrzehnten mit Füßen getreten werden.

Wie setzen Sie selbst Gewaltfreiheit in Ihren Aufgaben als Politikerin um?

Ich glaube, dass der Dalai Lama eine Vision von Gewaltlosigkeit aufrechterhält, die Ernst Bloch „die Vision des Noch-Nicht-Seienden“ nennt. Gewaltfreiheit ist nicht überall Realität, im Gegenteil. Und ständig wird man gerade in der Politik vor Grenzfälle gestellt. Eine der schwierigsten Fragen für mich und auch in meiner Partei war die nach dem Einsatz von Mitteln der Gewalt im Rahmen der Vereinten Nationen. Kann also militärisches Eingreifen gerechtfertigt sein, wenn die reale Gefahr besteht, dass sich andernfalls ein System etabliert, das dauerhafte Gewalt bedeuten würde? Nach langen, schwierigen und auch hochemotionalen Diskussionen habe ich seither bestimmten UNO-mandatierten Einsätzen zugestimmt – wenn es in einem eng definierten Mandat darum ging, Gewalt zurückzudrängen, damit überhaupt eine gewaltfreie, politische Perspektive entstehen kann. Über jede einzelne dieser Entscheidungen denke ich bis heute nach. Und umso wichtiger erscheint es mir, das grundlegende Prinzip der Gewaltfreiheit nie aufzugeben.

Soll man sich demnach Gewaltfreiheit als Vision vorstellen?

Ja, aber keine Vision, die irgendwo weit weg und fiktiv ist. Sondern als klares Ziel: Ja, da will ich hin! Ich will prinzipiell Verhältnisse, die nicht auf Gewalt, auf Ausbeutung und patriarchalen oder rassistischen Strukturen beruhen. Kein „oben“ und „unten“, kein „wir“ und „die“, sondern Verhältnisse, die Brücken bauen. Und einer der weltbesten Brückenbauer ist der Dalai Lama, da er bereit ist, sich die Hände schmutzig zu machen und mit jedem den Mörtel anzurühren.

Was sagen Sie zu der Gewalt, die direkt vor unserer Haustür stattfindet?

Gewalt darf kein selbstverständliches Mittel der Auseinandersetzung sein. Die Realität ist aber eine andere: Wir erleben Brände in Unterkünften für Geflüchtete, Gewalt gegen Obdachlose, geschändete Moscheen und Stolpersteine. Wir erleben Angriffe gegen Frauen, Homosexuelle und Trans-Personen. Die Frage lautet also: Wie schaffen wir gesamtgesellschaftlich ein Ende von Gewalt? Wie schaffen wir es, dass häusliche Gewalt nicht weiter als Kavaliersdelikt gilt, sondern als schwerer krimineller Akt? Für Fragen wie diese brauchen wir eine Zivilisierung, eine viel nachhaltigere Bildung schon von frühester Kindheit an. Bereits im Kindergarten muss Gewaltlosigkeit vermittelt werden: dass auch der Stärkere letztlich gewinnt, wenn er dem Schwächeren hilft. Wir müssen Menschlichkeit lehren, nicht nur Mathe, und von Kindesbeinen an vermitteln: Die Menschenrechte sind unser Reichtum.

Wo beginnt die alltägliche Gewalt Ihrer Meinung nach?

Aggression und Gewalt beginnen schon in der Sprache. Ich bin dafür, dass wir uns viel mehr damit auseinandersetzen, denn Sprache bildet Realität nicht nur ab, sie formt sie auch. Rede- und Meinungsfreiheit sind ein hohes Gut, aber sie brauchen Grenzen, um zu bestehen: Hass und Hetze sind keine Meinung. Mit der gezielten Entgrenzung von Sprache, die einige nun vorantreiben, soll hingegen erst das Sagbare und dann das Machbare verschoben werden. Dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt der Angriff auf den Menschen. Viktor Klemperer, der sich mit der Sprache des Dritten Reichs befasst hat, zeigte: Die sprachliche Vernichtung war die Vorstufe der tatsächlichen.

Wo sollte Gewaltfreiheit konkret ansetzen?

Zunächst in der Familie und bereits in sehr jungem Alter. Wir brauchen Bildung, verstärkt auch Medienbildung, und Unterstützung bei dem, wo Kinder ohnehin die Schnellsten sind: beim Aufheben von Trennungen. Dass Ekin und Marie, Cem und Max aufeinander zugehen, ist im Kindesalter selbstverständlich. Das sollten wir verstärkt ins Erwachsenenalter mitnehmen: Vorurteile kann man lernen, muss man aber nicht. Das bedeutet dann auch: Wenn gewisse Politiker jetzt von einem „Heimatministerium“ reden, sollen sie bitte auch sagen: „Du gehörst dazu, du wirst gebraucht“ – statt auszugrenzen und zu spalten. Wenn der „Heimatminister“ seinen Stab vorstellt und in der Führung sind dann acht weiße Männer, frage ich mich, ob zu seiner Heimat keine Frauen dazugehören. Ich glaube, unsere wichtigste Aufgabe besteht darin, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen und anständig miteinander umgehen. Das mag sich erst mal irgend- wie altmodisch anhören, aber wir sind dabei, den Anstand zu verlieren.

Der Dalai Lama hat in Darmstadt von „äußerer und innerer Abrüstung“ gesprochen. Was machen Sie, um mit unguten Gefühlen und Geisteszuständen umzugehen?

Ich drehe einen Buchstaben um und wandle Wut in Mut um. Mut zum Widerspruch, Mut zum Widerstand, den Mut, den es braucht, wenn du Gesicht zeigst und die Stimme erhebst. Mir kann es nicht gut gehen, wenn es anderen schlecht geht – das war schon immer so. Wenn mein Nachbar vor Problemen steht, kann ich nicht einfach zusehen: So hat mir meine Oma Nächstenliebe beschrieben. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn ich will, dass es mir gutgeht, muss ich verdammt viel dafür tun, dass es meinem Nachbarn nicht schlecht geht. Eine große Aufgabe, die mir meine Oma mit auf den Weg gegeben hat. Ich arbeite dran, gemeinsam mit vielen in unserer Gesellschaft.

„Menschenrechte sind unser Reichtum“

Wie kommen Sie als leidenschaftliche Politikerin zur Ruhe?

Es gibt Momente, in denen ich mit Musik zu mir finde, oft hilft auch der Blick aufs Wasser oder in die große, weite Natur. Gerade bei meinen Aufenthalten in Dharamsala, in dieser atemberauben- den Gegend des Himalaja, ist mir immer wieder bewusst geworden, wie unfassbar klein wir sind. Das hat der Dalai Lama ja auch in Darmstadt gesagt: „Du bist verdammt klein als einzelner Mensch und hast gleichwohl eine verdammt große Verantwortung für das Ganze.“ Wir müssen die Welt teilen lernen, wenn wir sie erhalten wollen!

Hat der enge Kontakt zum Dalai Lama etwas in Ihnen verändert?

Was ich immer wieder von ihm lerne: Ich werde mir das Lachen nicht wegnehmen lassen. Humor hat eine befreiende Kraft, er verbindet Menschen, spendet Wärme. Das nutzt der Dalai Lama wie kaum ein zweiter, ohne dabei die Größe der anstehenden Herausforderungen herunterzuspielen. Auch inspiriert es mich, wie die Tibeter und Tibeterinnen es schaffen, trotz aller Unterdrückung immer noch daran zu glauben, dass es eine Perspektive für sie gibt. Das gibt Kraft.

Gibt es irgendetwas, das Sie an ihm kritisch sehen?

(lacht) Bestimmt. Vor allem aber eines: Dass er schon nachmittags schlafen geht.

Ist es für Deutschland angebracht, sich in die Angelegenheiten Chinas und Tibets einzumischen?

Ja, natürlich. Dazu ist Außenpolitik da, in beide Richtungen. Was passiert denn in Tibet? Die Kultur wird zerstört. Die Klimakrise wird ignoriert, die Nomaden werden vertrieben und eingekerkert, die Klöster werden abgerissen. Und dann wird versucht, aus Tibet ein buddhistisches Disneyland zu machen. Da verlieren ja nicht nur die Tibeter. Wir alle verlieren eine Weltkultur und eine Weltreligion. Insofern ist es auch unsere Aufgabe, uns einzumischen und auf Veränderung zu drängen. Die Veränderung als solche muss dann aber vor Ort erfolgen, die können und wollen wir niemandem abnehmen.

Welche Hebel haben wir dazu?

Viele. Diplomatie auf Regierungsebene, parlamentarischer Austausch, im Zweifel auch wirtschaftlicher Druck. Als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt kann es nicht sein, dass sich die deutsche Industrie vom Acker macht und so tut, als hätte sie mit den Menschenrechtsverletzungen durch und in China nichts zu tun. Und dann ist da ja noch die Zivilgesellschaft. Deshalb: Auch die Tibet-Initiative müsste viel stärker unterstützt werden. Ich würde mir wünschen, dass wieder mehr Persönlichkeiten für Tibet Gesicht zeigen, so wie es Richard Gere seit vielen Jahren macht. Mehr Menschen, die solidarisch sind und Haltung zeigen, ganz egal, ob sie nun Buddhistinnen und Buddhisten sind oder nicht. Das würde ich mir wünschen.

Welche (Yoga-)Haltung beschreibt Sie persönlich am besten?

Beim Yoga habe ich eindeutig noch Nachholbedarf. Aber: Mir geht es um Universalität und Humanität. Um das zu spüren, sagt jedenfalls meine Mitarbeiterin, soll ich mich in – wie heißt das gleich noch mal? – Tadasana hinstellen.

Claudia Roth stellt sich in Tadasana mit offenen Handflächen nach vorne.


ALEXANDRA KLEINHEINRICH

ist Yogalehrerin, Journalistin und Drehbuchautorin. Den Dalai Lama traf sie vor zwanzig Jahren zu einer zweistündigen Privataudienz in Dharamsala. Diese Begegnung war prägend: „Be kind whenever possible, it is always possible.“ ist seitdem ihr Leitsatz.

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