Frisch aufgetischt: In seinem Buch „Wir lassen sie verhungern“ präsentiert uns Jean Ziegler die Rechnung für unseren Wohlstand – der Hunger in den Ländern der Dritten Welt ist ein Abfallprodukt kalkulierter Profitgier von Konzernen und Spekulanten. Skandalös daran ist die Ignoranz der Industrienationen, die angesichts einer permanenten Hungerkatastrophe den maßlosen Überfluss zelebrieren. Gandhis Mahnung, dass die Erde genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier biete, trifft die wunde Achillesferse unserer Gesellschaft.
Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind an Hunger: Was hat das – ganz konkret – mit meinem Leben zu tun?
Der World Food Report der UNO macht transparent, dass die Weltlandwirtschaft heute problemlos zwölf Milliarden Menschen, fast das Doppelte der Weltbevölkerung, ernähren könnte. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gibt es keinen objektiven Mangel mehr. Dennoch sterben jährlich weltweit mehrere zehn Millionen Menschen einen qualvollen Hungertod. Das Problem ist nicht die Produktion, sondern der Zugang zur Nahrung – ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet. Insofern hat es sehr viel mit Ihrem Leben zu tun, beispielsweise mit Ihren Kaufentscheidungen, die die Mechanismen der Hungerkatastrophe bedienen: Zusammengerechnet sterben 57000 Menschen pro Tag an Hunger, eine Milliarde Menschen sind Zeit ihres Lebens unterernährt – auf einem Planeten, der Unmengen an Reichtum produziert und wo das Recht auf Nahrung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht.
Dann hat mein Einkauf im Supermarkt also Konsequenzen für den weltweiten Handel?
Natürlich! Die Verbraucher können vieles bewirken. Man sollte zum Beispiel keine gentechnisch manipulierten Nahrungsmittel kaufen, weil dies unmittelbar zur Finanzsklaverei der Bauern in den Dritte-Welt-Ländern führt. Diese Saaten sind Patentprodukte, die zwar eine höhere Ernte einbringen, aber eben auch gekauft werden müssen und teure Düngemittel benötigen. Weiterhin sollte man auf den Konsum von Fleisch verzichten oder diesen zumindest stark einschränken. Ein Viertel der Weltgetreideernte wird in die Massentierhaltung investiert. Außerdem sollte man fair gehandelte Produkte kaufen, die möglicherweise etwas teurer sind, aber die Existenz der Bauern sichern, indem sie Landwirtschaft betreiben können. Und möglichst nur zu regional erzeugtem und saisonalem Obst und Gemüse greifen. Nicht zu vergessen die Spenden als humanitäre Soforthilfemaßnahme an die Welthungerhilfe, Terre des hommes, Oxfam, Brot für die Welt und die Caritas – alle diese Organisationen leisten wertvolle Arbeit mit ihren Lagern für Hungerflüchtlinge und Feeding Centern für verhungernde Kinder. Helfen ist ein Gebot der Menschlichkeit.
Wer zieht die Fäden beim globalen Monopoly?
Die Macht der Agrokonzerne und Börsenspekulanten über die Nahrung übersteigt jene der Staaten und Organisationen. Zehn multinationale Konzerne kontrollieren 85 Prozent aller gehandelten Nahrungsmittel – vor allem die Grundnahrungsmittel Reis, Mais und Weizen, die wiederum 75 Prozent des Weltkonsums decken. Dabei ist ausschließlich die Profitmaximierung von Interesse. Es geht nur darum, die Kapitalrendite zu erhöhen. Die Mechanismen, die den strukturellen Hunger in der Welt bewirken, sind deren Strategie.
Sie sprechen in Ihrem Buch von „Mechanismen struktureller Gewalt“…
Zum einen boomt der Einsatz von Agrar-Treibstoffen. Im Jahr 2011 verbrannten die USA 138 Millionen Tonnen Mais und Getreide, um Biomethanol und -diesel herzustellen. Da die Vereinigten Staaten jeden Tag 20 Millionen Barrel Erdöl benötigen, aber nur etwa ein Drittel im eigenen Land fördern können, muss der Großteil aus Afrika und dem Mittleren Osten importiert werden. Das bedeutet gleichzeitig, dass die USA horrende Summen für das Militär ausgeben muss, um die Erdölquellen zu sichern. Präsident Obama will daher fossile durch vegetale Energie ersetzen, natürlich auch aus Gründen des Klimaschutzes. Hunderte Millionen Tonnen von Nahrungsmitteln zu verbrennen, ist jedoch ein Verbrechen gegen die hungernde Menschheit.
…und Sie bezeichnen die Weltordnung als „kannibalisch“…
Das stimmt, denn zum andern existiert eine höchst unethische Börsenspekulation mit Grundnahrungsmitteln. Die Banken haben in den Jahren 2007 und 2008 an den Finanzbörsen circa 85000 Milliarden Dollar an Vermögenswerten vernichtet. Anschließend haben sich die Interessen der Großbanken auf die Rohstoffbörsen gerichtet, besonders auf Agrarprodukte. Hier wird nach wie vor mit legalen, aber unethischen Finanzinstrumenten gehandelt, um mit Reis, Mais und anderem Getreide astronomische Profite einzufahren: Der Preis für eine Tonne Mais hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Für die Ärmsten der Welt ist diese Preisexplosion der Grundnahrungsmittel eine Katastrophe. Laut einem Bericht der Weltbank leben 1,2 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar pro Tag – sie vegetieren in den Slums von Manila, São Paulo, Mexiko City usw. Von dem Wenigen müssen Mütter ihre Kinder ernähren: Wenn die Lebensmittelpreise drastisch ansteigen, verhungern sie.
Ein weiterer Mechanismus ist das Agrardumping: Auf jedem afrikanischen Markt wird heute Gemüse, Geflügel und Obst aus Europa verkauft, das um die Hälfte oder ein Drittel billiger ist als gleichwertige einheimische Erzeugnisse. Afrikanische Bauern können im Wettbewerb nicht bestehen und haben nicht die geringste Chance, auch nur das Existenzminimum für ihre Familien zu erwirtschaften. Die Kommissare in Brüssel fördern mit ihrer Dumpingpolitik den Hunger in Afrika – und wenn die Hungerflüchtlinge nach Europa flüchten wollen, werden sie mit militärischer Gewalt auf das offene Meer zurückgedrängt, wo jedes Jahr Tausende ertrinken.
Der vierte Mechanismus ist die Überschuldung der armen Länder, die zum Landgrabbing führt. Viele Länder Afrikas sind reine Agrarstaaten mit geringer Produktivität. Sie verfügen über keinerlei Geld, um in Bewässerungs-, Agrartechnik oder Düngemittel zu investieren: Der Großteil wird wie vor 5000 Jahren mittels Regenlandwirtschaft betrieben. Es gibt keine Subventionen seitens der Staaten, weil sie hoch verschuldet sind. Öffentliche Finanzinstitute wie die Weltbank oder die Europäische Entwicklungsbank raten diesen Staaten, ihre Schulden abzubauen, in- dem sie das Ackerland Hedgefonds und Investoren überschreiben. Die ausländischen Investoren besitzen Kapital, Technik, Transportmittel und Handelsbeziehungen. Sie produzieren Avocados, Südfrüchte, Kaffee etc. für den Export nach Europa oder Nordamerika. Für die Versorgung der einheimischen Bevölkerung bleibt fast nichts übrig.
Wie stark ist die Stimme Deutschlands – einer gefestigten Demokratie und starken Wirtschaftsmacht – im Weltparlament der UNO?
Die Bundesrepublik ist eine lebendige und großartige Demokratie. Die Bürger können morgen den Bundestag zwingen, das Börsengesetz zu revidieren und die Spekulation auf Grundnahrungsmittel zu verbieten. Die mörderischen Mechanismen, die für die Massenvernichtung in der Dritten Welt verantwortlich sind, sind menschengemacht und können von Menschen gebrochen werden.
Der Bundesfinanzminister kann durch die Bevölkerung dazu gezwungen werden, bei der nächsten Generalversammlung des Weltwährungsfonds in Washington nicht mehr für die Gläubigerbanken zu stimmen, sondern für die sterbenden Kinder beziehungsweise für die Totalentschuldung der fünfzig ärmsten Länder der Welt. Oder man kann Druck ausüben, damit der deutsche Landwirtschaftsminister in Brüssel für die Abschaffung des Agrardumpings eintritt.
Wie kommt es, dass angesichts dieser Fakten ein solch hohes Maß an Verdrängung existiert?
Das ist möglich, weil die Medien nur die halbe Wahrheit berichten. In den fünf Ländern am Horn von Afrika herrscht seit fünf Jahren eine Dürrekatastrophe, darüber wurde berichtet. Aber nur wenige bleiben an dem Thema dran und erklären, warum in diesen Regionen keine Bewässerungssysteme angelegt oder Nahrungsmittelreserven für den Notfall gespeichert werden. Die Länder stecken im Teufelskreis der Verschuldung, aus dem sie sich nicht befreien können und verfügen über keinerlei finanzielle Mittel. Der ausbleibende Regen ist für den konjunkturellen Hunger infolge einer Dürreperiode verantwortlich, die ausbleibende Hilfe und die genannten Mechanismen bewirken jedoch den beständigen strukturellen Hunger. Natürlich haben sowohl die Konzerne als auch die Spekulanten ein Interesse daran, den Hunger als ausschließlich klimabedingtes und regionales Phänomen erscheinen zu lassen. Die wahre und viel komplexere Kausalität wird verschwiegen.
Glauben Sie, dass die notwendigen sozialen Veränderungen auf friedlichem Wege durch einen Bewusstseinswandel möglich sind?
Absolut – ich bin diesbezüglich sehr optimistisch: Immer mehr Menschen ernähren sich nicht nur aus gesundheitlichen Gründen vegetarisch oder vegan, sondern weil sie die Zusammenhänge erkennen und nicht achtlos das Leid anderer bewirken wollen. Sie verzichten auf chinesische Erdbeeren im Januar und kaufen stattdessen fair gehandelte Produkte sowie regionale und saisonale Erzeugnisse. Damit übernehmen sie Verantwortung und sind offensichtlich bereit, ihr Denken, ihre Muster und Handlungen zu verändern. Dies ist ein höchst erfreuliches Signal und eine Entwicklung, die ich sehr begrüße. Mein Buch soll einen Aufstand des Gewissens wachrufen und eine Waffe gegen den Hunger sein. Die Bürger der europäischen und nordamerikanischen Staaten verfügen über alle Grundrechte, die es erlauben, bereits morgen die Reformen durchzusetzen, die das Hungermassaker beenden können. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie: „Gott hat keine anderen Hände als die unseren.“ (George Bernanos)
Jean Ziegler, Schweizer Soziologe, ist emeritierter Professor der Universität Genf. Er war bis 1999 Abgeordneter im eidgenössischen Parlament und von 2000 bis 2008 erster Sonderberichterstatter der Uno für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrates, Träger verschiedener Ehrendoktorate und internationaler Preise, z. B. des Internationalen Literaturpreises der Menschenrechte. Seine zahlreichen Publikationen sorgen sowohl für heftige Kontroversen als auch für ein hohes internationales Renommee (z. B. Die nicht gehaltene Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2011 – „Der aufstand des Gewissens“; Ecowin Verlag)
Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt (C. Bertelsmann Verlag, 20 Euro)