Kerzengerade: Der Schulterstand

Es gibt zwei Gruppen von Yogis: Die, die den Schulterstand lieben, und die, die ihn am liebsten aus dem Unterricht verbannen würden. Ob man die Haltung liebt oder verabscheut, hängt meistens davon ab, ob man mit dem Körper eine senkrechte Linie bilden kann. Ein stabiler Schulterstand ist einfach und fühlt sich gut an. Ein wackeliger, schiefer Schulterstand macht dagegen keinen Spaß, ist schwierig und vielleicht sogar schmerzhaft.

Mit den richtigen Hilfsmitteln fühlt sich ein korrekt ausgerichteter Schulterstand stabil und leicht an.

Verschiedene Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit man in dieser Haltung gerade und aufrecht stehen kann. Eine der wichtigsten ist, dass man die Arme hinter dem Rücken fest gegen den Boden drückt und dabei den Brustkorb geöffnet hält. Dafür müssen zwei Muskeln flexibel sein: der M. pectoralis major (Großer Brustmuskel) und der M. anterior deltoid (vorderer Deltamuskel). Das Dehnen dieser Muskeln – oder das Kompensieren der fehlenden Länge – kann die Qualen eines schlecht ausgerichteten in das gute Gefühl eines aufrechten Schulterstandes verwandeln.

Hochgestapelt

Damit sich der Körper im Schulterstand vertikal nach oben strecken kann, muss er durch das Skelett unterstützt werden. Das heißt, die Knochen müssen sauber übereinander stehen, um den Großteil des Gewichts zu tragen. Dann müssen die Muskeln kaum Arbeit leisten, außer kurzzeitig, um die Position der Knochen wieder zu korrigieren, falls sie sich in der Haltung leicht verschieben. Bauch und Brustkorb haben durch die entspannten Muskeln mehr Platz und eine freiere Atembewegung wird möglich. Zusammengefasst: Wenn es Ihnen möglich ist, das Skelett korrekt auszurichten, benötigt die Haltung minimale muskuläre Anstrengung und der Atmen fließt frei. Sie ermüden nicht so schnell und können für einen längeren Zeitraum in der Haltung bleiben. Die physiologische Wirkung der Asana entfaltet sich erst durch das längere Halten. Die Nacken- und obere Schultermuskulatur wird durch die starke Streckung entspannt, da die Nervenaktivität unterbrochen wird, die diesen Bereich sonst unter Anspannung hält. Die Umkehrhaltung stimuliert die Blutdrucksensoren im Nacken und oberen Brustkorb sowie die Reflexe, die das Gehirn beruhigen, das Herz langsamer schlagen lassen und die Blutgefäße entlasten.

Dagegen befinden sich in einem schlecht ausgerichteten Schulterstand die Schulterblätter, die Wirbelsäule, das Becken und die Beine nicht in einer senkrechten Linie. In diesem Fall bewirkt ihr Körpergewicht, das sich der ganze Körper in den Gelenken beugt: Aufgrund der Beugung in den Hüftgelenken hängen die Beine über dem Kopf. Durch die Neigung des Beckens krümmt sich die Wirbelsäule und die Brust sinkt ein. Um den Körper dennoch gegen die Schwerkraft nach oben zu ziehen, bedarf es einer starken Muskelanstrengung, vor allem in den M. erector spinae (Rückenstrecker) und den M. deltoideus posterior (hintere Deltamuskel) der Schultern. Wenn die Ausrichtung nicht stimmt, arbeiten diese Muskeln nicht nur zwischendurch, um die Stellung der Knochen zu korrigieren, sondern sind konstant angespannt, um gegen die Schwerkraft zu arbeiten. Und: Sie können sich noch so sehr anstrengen, der Brustkorb wird auf der Vorderseite teilweise zusammengedrückt und die Atmung ist erschwert. Hinzu kommt, dass sich Ihre Arme ohne die nötige Flexibilität im Brustkorb und in den Schultern wahrscheinlich vom Boden abheben. Der Körper fängt an zu wackeln und Sie müssen erst recht strukturelle Korrekturen vornehmen, indem sie die sowieso schon angespannten Rückenmuskeln noch stärker einsetzen müssen. Die Kombination aus angespannten Muskeln, Schwierigkeiten beim Atmen und permanenter Wachsamkeit verursacht schnell Ermüdung und oftmals auch stechende Schmerzen im Rücken oder in anderen Körperteilen.

 

Beugen und Strecken

Bisher haben wir den Fokus hauptsächlich auf die Arme, den Brustkorb und die Schultern gelegt. Ob man den Körper im Schulterstand vertikal ausrichten kann, hängt allerdings auch teilweise davon ab, wie flexibel die Nackenmuskulatur ist. Sind die Nackenmuskeln verkürzt, können Sie dies ausgleichen, indem Sie die Schultern auf einer gefalteten Decke ablegen und den Kopf auf der Erde platzieren. Dadurch muss sich der Nacken nicht so stark dehnen, um den Körper in eine senkrechte Position zu bringen. Ihre Fähigkeit, aufrecht im Schulterstand zu stehen, hängt nun stärker davon ab, wie weit Sie Ihre Schultern strecken können.

Um eine intensive Schulterdehnung zu erfahren, verschränken Sie im Stand Ihre Finger hinter dem Rücken und heben Sie Ihre Arme und den Brustkorb nach oben an, während Sie die Schultergelenke gleichzeitig nach hinten und unten rollen. Diese Bewegung der Arme nach hinten und oben führt zu einer Extension der Schulter. Je höher Sie Ihre Arme nach oben heben können, ohne dass dabei der Brustkorb oder die Schultern einsinken, desto größer ist die Chance, dass Sie eine angenehme vertikale Ausrichtung im Schulterstand erreichen. Wenn Sie genügend Bewegungsspielraum im Schulterbereich haben und diese Aktion auch im Schulterstand ausführen können – indem Sie die Rückseiten der Oberarme hinter sich fest in die Matte drücken – lastet Ihr Körpergewicht gleichmäßig auf beiden Schultern. Der Brustkorb wird nach vorne in eine geöffnete senkrechte Position gebracht.

Um in einen senkrechten Schulterstand zu kommen, müssen Brustkorb und Schultern beweglich genug sein, damit die Brust in eine aufrechte Position kommen kann. Gleichzeitig müssen die Ellenbogen und die Rückseite der Oberarme fest in den Boden direkt hinter den Schulterblättern drücken.

Ist diese Flexibilität erreicht, können Sie die Ellbogen beugen und die Handflächen an die hinteren Rippenbögen legen. Sie können das Gewicht Ihres Oberkörpers in den Händen ruhen lassen und von dort über die Unterarme und Ellbogen an die Erde abgeben. Wenn Sie Ihre Hände nahe genug zu den Schultern bringen, können Sie Ihre Unterarmknochen zwischen Ihren Rippen und dem Boden stabilisieren, wodurch eine Art Stützpfeiler für den oberen Rücken und die Brust entsteht. Der Großteil des Gewichts wird von den Rücken- und Schultermuskeln genommen. Gleichzeitig wird die vertikale Linie Ihres Knochengerüstes stabiler, indem es fest im Boden verankert wird. Diese Aktivität ist der Schlüssel für einen entspannten Schulterstand.

Für die Position der Arme müssen der M. pectoralis major (Großer Brustmuskel) und der vordere (anterior) Teil des M. deltoideus (Deltamuskel) flexibel sein. Der M. pectoralis major verbindet die Vorderseite des Oberarmes mit dem Schlüsselbein (Clavicula) und dem vorderen Teil des Brustkorbs (dem Brustbein, den Rippenknorpeln und dem Bindegewebe des oberen Bauches). Wenn sich der linke und rechte M. pectoralis major gleichzeitig zusammenziehen, bewegen Sie die Arme nach vorne (Flexion), vor dem Körper zueinander (Adduktion) und nach innen (Innenrotation). Sind diese Muskeln allerdings verkürzt, werden Sie im Schulterstand Ihre Arme hinter dem Rücken nicht vollständig strecken können. Entweder heben sich die Ellbogen von der Matte, wenn sich Ihr Brustkorb nach vorne bewegt, oder der Brustkorb sinkt ein, wenn sich die Ellbogen zum Boden bewegen. Durch die Adduktion und Innenrotation der großen Brustmuskeln rutschen die Ellbogen auseinander, so dass sie den Oberkörper nicht mehr von hinten stützen können.

Der vordere Teil des M. deltoideus verbindet den oberen äußeren Teil des Armes mit dem äußeren Bereich des Schlüsselbeins, ziemlich nahe der Verbindung zwischen Schlüsselbein und dem oberen Teil des Schulterblattes. Wenn sich der vordere Teil des Deltamuskels zusammenzieht, hebt er den Arm nach vorne (Flexion der Schulter). Ist er verkürzt, schränkt das die Fähigkeit ein, den Arm nach hinten zu strecken (Extension der Schulter). Im Schulterstand verhindern verkürzte M. deltoideus anterior, dass die Ellenbogen den Boden erreichen. Oder: Wenn Sie die Ellenbogen ganz bis auf Boden bringen, sinken die Spitzen der Schultern zur Brust.

 

Hilfsmittel

Die offensichtliche Lösung ist, die verkürzten Muskeln regelmäßig und allmählich stärker zu dehnen, bis die Oberarme in dieser Haltung den Boden direkt hinter dem Rücken erreichen. Zwischenzeitlich können Sie Hilfsmittel benutzen, um den Dehnungsprozess zu unterstützen und den Schulterstand nicht nur als erträglich, sondern sogar als angenehm zu erleben.

Um die Oberarme enger zusammen zu halten, können Sie einen Gurt verwenden, den Sie in einer Schlaufe direkt oberhalb der Ellbogen um die Arme legen (schlafen die Arme dabei ein, sollten Sie den Gurt etwas lockern oder ganz entfernen). Um die Oberarme zu erden, können Sie eine keilförmige Unterlage oder eine gefaltete Yogamatte unter ihre Ellenbogen legen.

 bildschirmfoto-2016-10-05-um-13-10-23

Praktisch umgesetzt

Bei verkürzten M. pectoralis und M. deltoideus anterior falten Sie vier Yogadecken wie folgt: Als erstes legen Sie jede Decke halb zusammen, indem sie die beiden kurzen Enden aufeinander legen. Dann falten Sie das entstandene Rechteck wieder in der Hälfte, so dass die beiden kurzen Enden aufeinander liegen. Zum Schluss falten Sie die Decken nochmal in der Hälfte – mit den beiden kurzen Enden zueinander. Jede Decke sollte nun eine lange, gefaltete Kante besitzen. Stapeln Sie nun die vier Decken mit den gefalteten Kanten sauber übereinander. Platzieren Sie den Stapel ungefähr 20 bis 30 Zentimeter vor einer Wand, so dass die gefalteten Kanten von der Wand weg zeigen.

Falls Sie eine keilförmige Unterlage haben, die lang genug ist, um beide Ellenbogen zu unterstützen, legen Sie diese auf die Seite der Decken, die zur Wand hin zeigt. Die höhere Seite liegt zur Wand hin. Besitzen Sie kein keilförmiges Hilfsmittel, falten Sie einfach eine Yogamatte mit den Enden zueinander und dann noch zweimal in der gleichen Weise, bis Sie ein langes schmales Rechteck haben. Platzieren Sie die gefaltete Matte auf der Seite der Decken, die näher an der Wand ist. Nehmen Sie nun einen Gurt und bilden Sie damit eine Schlaufe, die so weit wie der Abstand Ihrer Schultern ist (oder noch weiter, falls Ihre Schultern nicht flexibel sind).

Halten Sie den Gurt in einer Hand, legen Sie sich auf die Decken und strecken Sie die Beine an der Wand nach oben. Platzieren Sie Ihre Schultern etwa fünf Zentimeter von der gefalteten Kante der Decken weg auf dem Boden. Beugen Sie die Knie, drücken Sie die Füße in die Wand und heben Sie die Hüften.

Legen Sie nun die Schlinge des Gurtes um die Oberarme, direkt über den Ellbogen. Drehen Sie die Handflächen zur Decke und verhaken Sie die kleinen Finger (Sie können auch alle Finger ineinander verhaken). Strecken Sie Ihre Ellbogen, drehen Sie die Oberarme nach außen und drücken Sie die Rückseite Ihrer Oberarme in die Unterlage. Bewegen Sie die Hüften und den Brustkorb weiter von der Wand weg. Verlagern Sie Ihr Gewicht leicht und vorsichtig von einer Seite zur anderen und rollen Sie die Spitzen der Schultern nach hinten zur Wand, bis Sie direkt auf dem oberen Teil der Schultern stehen. Achten Sie darauf, dass Sie Ihren Nacken dabei nicht verletzen, indem Sie die Schultern zu schnell und zu weit in die Position bringen. Kommen die Schultern nicht gleich beim ersten Mal direkt unter den Körper, versuchen Sie es, so weit es geht. Nur die Basis des Nackens sollte auf den Decken liegen, der Rest verlängert sich über die Kante hinaus.

Lösen Sie Ihre verhakten Finger, beugen Sie die Ellenbogen und bringen Sie die Handflächen an Ihren Rücken (es ist wichtig, dass Ihre Hände am Rücken nicht rutschen, platzieren Sie sie deshalb unter Ihrem Shirt auf der Haut). Laufen Sie nun mit den Händen nach oben zu den Schulterblättern. Dann, ohne dass die Hände die Position verlassen, legen Sie sie flach an den Rücken und drücken Sie diesen nach vorne.

Wenn Sie bereit sind, nehmen Sie Ihre Beine langsam von der Wand. Aktivieren Sie die Beinmuskulatur, indem Sie die Muskeln zu den Knochen ziehen, um somit eine größere vertikale Stabilität zu schaffen. Seien Sie vorsichtig, dass Sie nicht das Gleichgewicht verlieren und fallen. Versuchen Sie, eine gerade Linie von den Schultern durch die Hüftgelenke bis zu den Fußgelenken zu schaffen. Bringen Sie den gesamten Körper so weit in die Senkrechte, bis Sie ein Gefühl der Leichtigkeit spüren und die Muskulatur des unteren Rückens und Bauches sich entspannt. Blicken Sie sanft zu Ihrem Brustkorb. Bleiben Sie so lange in der Haltung, wie es für Sie angenehm ist. Um wieder nach unten zu kommen, entfernen Sie als erstes den Gurt und bringen Sie anschließend Ihre Hüften zum Boden.

 

ACHTUNG:

Vermeiden Sie den Schulterstand während der Periode, bei Nackenverletzungen, Glaukom (Grüner Star) oder Bluthochdruck. Bei Schmerzen sollten Sie sofort aus der Haltung kommen und sich Rat bei einem erfahrenen Yoga-Lehrer holen.


Dr. Roger Cole (rogercoleyoga.com) ist zertifizierter Iyengar-Yogalehrer in Del Mar, Kalifornien, USA.

 

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Das Neueste

Adventskalender-Türchen 22: Weiterbildung “Yoga für Jugendliche” mit Sandra Walkenhorst

Wir freuen uns, in der Adventszeit ein ganz besonderes Geschenk zu vergeben: Einen Platz in der renommierten Weiterbildung "Yoga...

Adventskalender-Türchen 21: Liebe is(s)t pflanzlich: Vegan World Jahresabo

Wenn du schon länger das YOGAWORLD JOURNAL liest oder auf YogaWorld.de surfst, dann bist du bestimmt auf unser Schwestermagazin...

Adventskalender-Türchen 20: “ViA PRANA” die YOGA-Wasserflasche von VitaJuwel

Heute öffnet sich ein ganz besonderes Türchen in unserem Adventskalender. Dahinter verbirgt sich die ViA PRANA Edelsteinwasserflasche – eine...

Yoga-Playlist zur Wintersonnenwende – von Daniela Mühlbauer

Am 21. Dezember ist Wintersonnenwende. Wir feiern die Rückkehr des Lichts, denn die Tage werden ab jetzt endlich wieder...

Adventskalender-Türchen 19: Gewinne 2 Nächte in der Forsthofalm in Leogang

Asanas in Alleinlage - hinter diesem Türchen wartet ein ganz besonderer Gewinn auf dich und deinen Lieblingsmenschen.   Yoga inmitten...

Adventskalender-Türchen 18: Yoga-Set mit Socken von OGNX

Mach mit bei unserem Adventskalender-Gewinnspiel und gewinne ein exklusives Yoga-Set von OGNX! Wir verlosen ein komplettes Outfit, bestehend aus...

Pflichtlektüre

#132 Rauhnächte verstehen und gestalten: Wie du die mystischen Nächte optimal nutzt – mit Beate Tschirch

Erfahre, wie Rituale, Reflexion und Intuition dir helfen, die transformative Kraft der Rauhnächte zu entfalten Pünktlich zur Adventszeit – genau...

Adventskalender-Türchen 21: Liebe is(s)t pflanzlich: Vegan World Jahresabo

Wenn du schon länger das YOGAWORLD JOURNAL liest oder auf YogaWorld.de surfst, dann bist du bestimmt auf unser Schwestermagazin...

Das könnte dir auch gefallen
Unsere Tipps