Das Konzept der Koshas ist zwar weniger bekannt als etwa die Chakras, aber es wird immer beliebter. Hier liest du, worum es dabei geht und wie du damit nicht nur deine Praxis vertiefen kannst, sondern auch das Verständnis deiner selbst.
Text: Stephanie Schauenburg / Titelbild: Roy Ensink / Getty Images Signature via Canva
“Ich bin im Herzen Rheinländer”, hörte sich Martin kürzlich in der Vorstellrunde eines Retreats sagen. Später hat er sich gewundert: Er ist zwar in Köln aufgewachsen, hat aber sein ganzes Erwachsenenleben anderswo verbracht. Das Rheinland ist eine prägende Schicht in seiner Biografie, er fühlt sich dort heimischer als anderswo – aber ist es das, was er ist? Was ihn in seinem Innersten ausmacht? Eher nicht. Mir geht es ähnlich: Ich bin Journalistin und Yogalehrerin, ich bin Mutter, Tochter und Schwester, ich bin die Frau, die ich im Spiegel sehe – und all das (und vieles, vieles mehr) ist mir mal mehr und mal weniger wichtig, mal mehr und mal weniger bewusst. Auf eine geheimnisvolle Weise weiß ich sogar, dass ich es zugleich nicht wirklich bin. Es sind Schichten meiner Persönlichkeit.
Sicher kennst du das: Im Lauf unseres Lebens lagern sich Erlebnisse und Erfahrungen wie Sedimente in uns ab, wir umgeben uns mit verschiedenen Rollen, Identifikationen und Selbstbeschreibungen – und rätseln dennoch immer wieder, was davon wahr ist, was Bestand hat und warum man immer nur Teile dieses komplexen Gebildes präsent hat? Ich kann zum Beispiel stundenlang an einem Artikel arbeiten, ohne mir meines Körpers im Mindesten bewusst zu sein. Es ist, als sei er überhaupt nicht vorhanden. Genauso kann ich umgekehrt durch meine Asanapraxis fließen, meinen Atem und meine Kraft spüren und völlig “vergessen”, wie die Frau im Spiegel aussieht. Oder heißt. Oder denkt. Ist das nicht verrückt?
Ein Modell des Menschen

Im Lauf der Jahrhunderte haben sie verschiedene Vorstellungen dazu entwickelt, allen voran das Konzept der Chakras (Energieknoten) und Nadis (Energiebahnen). Sehr viel weniger bekannt war lange Zeit das Modell der Koshas. Es beschreibt fünf Schichten, die wie die Häute einer Zwiebel unseren innersten Kern umhüllen. Die äußerste Hülle, der materielle Körper, ist am gröbsten beschaffen, nach innen hin werden die Koshas dann immer subtiler: Unter dem physischen Körper liegt die energetische Dimension. Sie umhüllt wiederum die Ebene der Gedanken und Gefühle, die ihrerseits die Schicht von Intuition und Erkenntnis umschließt. Die innerste Hülle ist die der reinen Glückseligkeit. Unter ihr verbirgt sich schließlich unser Lebenskern: Purusha, die individuelle Seele, oder auch: Atman, die Weltseele, der göttliche Funke.
Die große Yogapionierin Sally Kempton beschrieb dieses Phänomen vor vielen Jahren in diesem Artikel einmal so: “Als junge Frau fühlte ich mich entweder völlig leer oder zersplittert in zahllose Schichten, zwischen denen ich hin und her zu driften schien.” Sie fragte sich wie viele von uns: Wer bin ich wirklich? Wie hängen die einzelnen Splitter und Schichten zusammen? Was denkt, wenn ich denke? Was fühlt, wenn ich fühle? Woher kommt meine Kraft, wohin geht sie? Als Kempton begann, sich mit Yoga zu beschäftigen, entdeckte sie: Diese Fragen sind dort seit jeher zentral. Und das nicht nur auf einer philosophischen oder metaphysischen Ebene, sondern ganz konkret: Man erforschte, wie Menschen aufgebaut sind, aus welchen Anteilen sie bestehen. Dabei ging es den Yogi*nis immer ganz besonders um die feinstofflichen, energetischen Aspekte.
Ich mag dieses Bild einer Zwiebel mit fünf Schichten viel lieber als das ebenfalls manchmal verwendete Bild einer russischen Matroschka-Puppe, denn anders als deren hölzerne Hüllen sind die Häute einer Zwiebel durchlässig. Zwischen ihnen ist Verbindung, Austausch und Veränderung. Und das ergibt Sinn: Wenn du zum Beispiel körperlich erschöpft bist, wirst du anders fühlen und denken, als wenn du vor Vitalität sprühst; wenn du Angst hast, wird sich dein Körper verkrampfen und dein Atem nicht frei fließen. Alles ist immer im Fluss und alles beeinflusst sich gegenseitig. Der Yogalehrer Ralph Skuban hat daher 2015 in einem Interview mit uns ein anderes Bild für die Koshas vorgeschlagen: ein von Wasser durchdrungener, lebendiger Schwamm, in dem sich alle fünf Schichten durchdringen und bedingen und der sich ausdehnt.
Ein Übungsweg

Diese Durchlässigkeit und Verbundenheit ist wichtig für das Verständnis der Koshas. Dennoch bietet das Bild der Zwiebelhäute auch wertvolle Orientierung: Hier gibt es eine klare Struktur, eine Ordnung. In der traditionellen Lehre stellt man sich die Arbeit mit den Koshas so vor, dass man von außen nach innen, von grobstofflich zu feinstofflich, zum Wesenskern vordringt. Indem man nach und nach die Identifikationen mit den einzelnen Schichten aufbricht und sie transzendiert, kann man demnach einen Zustand des reinen Gewahrseins erreichen.
Klingt unerreichbar? Keine Sorge: Auch für weniger ambitionierte, moderne Yogi*nis stellen die Koshas ein spannendes Übungsfeld dar. Sally Kempton sieht das Modell hier als eine Art Landkarte: Es hilft uns, die unzähligen Facetten unserer Persönlichkeit und unseres Erlebens sinnvoll einzuordnen. Wenn ich zum Beispiel wie in Mascha Kalekos Gedicht “Sozusagen grundlos vergnügt” bin und mich aus tiefstem Herzen freue, am Leben zu sein, dann weiß ich, dass das nicht an äußeren Bedingungen liegt, sondern dass ich gerade mit meiner innersten Schicht, der Wonnehülle, in Kontakt bin. Gleichzeitig erinnert uns das Kosha-Modell daran, dass immer alles gleichzeitig da ist – mein Körper, meine Energie, meine Gedanken und Gefühle, meine Intuition, meine angeborene Lebensfreude.
“Sich der Koshas gewahr zu werden und sie präsent zu halten, bedeutet, zum eigenen Leben zu erwachen und alle Teile seines Selbst zu integrieren.”
Sally Kempton
Zwar haben die meisten von uns einen bewussten Zugang in den meisten Momenten nur zu einer oder zwei Hüllen, aber mit etwas Übung rutschen die anderen weniger vollständig und nicht mehr so dauerhaft weg. Das kann uns zu einem ganzheitlicheren, vollständigeren Bewusstsein verhelfen. Deshalb bieten Yogalehrende seit einigen Jahren immer häufiger Workshops zur Erforschung und Erfahrung der eigenen Koshas an. Eine von ihnen ist Steffi Rohr, sie hat auf Basis des Kosha-Modells ein eigenes Übungskonzept entwickelt. Darin vergleicht sie die Wirkung der Hüllen mit Schichten eines Lampenschirms: “Je nachdem, wie gut es jeder einzelnen Hülle geht, kann das innere Licht mehr oder weniger weit nach außen strahlen.” Mit ihrem Konzept möchte sie Menschen helfen, “ihr eigenes Leuchten wiederzufinden, sich selbst zu lieben, schön zu finden und mit ihrem eigenen Sein und Scheinen die Welt ein wenig lebendiger zu machen.”
Dabei geht es um weit mehr als um Selbstakzeptanz oder gar Optimierung: Die Beschäftigung mit Koshas kann uns auch anregen, unsere Identifikationen und Anhaftungen zu hinterfragen und uns mehr und mehr von ihnen zu lösen: Ich lebe in diesem Körper, aber ich bin nicht dieser Körper. Ich denke diese Gedanken, fühle diese Gefühle, aber da ist in mir auch eine Instanz, die sagen kann: “Glaub nicht alles, was du denkst.” Auf diese Weise verwickeln wir uns weniger in unser tägliches Drama, wir werden durchlässiger, friedlicher und freier. Und wir kommen dem ein bisschen näher, was im Inneren der vergänglichen Hüllen unserer individuellen Persönlichkeit verborgen ist: Atman, der unvergängliche, überpersönliche Lebensfunke, der uns alle verbindet. Vielleicht können wir dann aus voller Überzeugung sagen: Das bin ich – tat twam asi.
Stefanie Rohr zeigt dir im zweiten Teil dieses Artikels einige Asanas, die dich mit deinen verschiedenen Kosha-Schichten in Verbindung bringen: