Meditation für mehr Mitgefühl

Bedingungslose Liebe ist das schönste Geschenk, das wir bekommen und geben können. Das ist oft leichter gesagt als getan. Wie Metta und Karuna unser Leben beeinflussen können…

Wie fänden Sie es, würden Sie bedingungslos geliebt werden, so wie Sie sind, ohne etwas Besonderes dafür tun zu müssen? Wie wäre es, wenn Sie sich vollends, wahrhaftig und radikal akzeptiert fühlen würden, ohne sich für einen Teil Ihres Selbst entschuldigen oder etwas verbergen oder leugnen zu müssen? Wir alle sehnen uns nach Liebe und Anerkennung. Aber nur wenige können von sich behaupten, sich selbst diese Art von Achtung entgegenzubringen. Das Problem ist: Wenn wir uns nicht selbst so lieben und achten, wie wir sind, ist es schwierig, andere wahrhaftig und bedingungslos zu lieben. Und, als Gedanke wahrscheinlich noch beunruhigender: Falls wir das Glück haben, jemanden zu finden, der uns bedingungslos anerkennt und liebt, wie können wir dann offen sein für die Liebe des anderen, wenn wir uns selbst noch nicht völlig anerkannt haben?
Bedingungslose Liebe wird möglich, wenn Sie üben, die vier Geisteshaltungen, die Brahmaviharas, auszubilden. Zusammengenommen stellt dieses Quartett die Grundlage für wahrhaftige, authentische und bedingungslose Liebe dar. Diese vier Qualitäten sind die liebevolle Freundlichkeit (Metta bzw. Maitrî), das Mitgefühl (Karuna), die Freude (Mudita) und die Gelassenheit (Upekkha bzw. Upeksha). Sowohl Patanjali, der Verfasser des Yoga-Sutra, als auch Buddha lehrten, wie wichtig es ist, diese vier Qualitäten auszubilden.

Das Ziel: innere Ausgeglichenheit

Swami Satchidananda (1914-2002), Yogameister und Begründer des ganzheitlichen Yoga, übersetzt die Brahmaviharas im Yoga-Sutra (I.33) folgendermaßen: „Indem man freundlich gegenüber den Glücklichen, mitfühlend gegenüber den Unglücklichen, voller Freude gegenüber den Rechtschaffenen und voller Missachtung gegenüber den Bösen auftritt, bewahrt der Geist seine ungestörte Ruhe.“ Satchidananda sagt, diese vier Qualitäten seien der Schlüssel dazu, Gelassenheit im Geist zu etablieren: „Benutzt du den richtigen Schlüssel bei der richtigen Person, bewahrst du deinen Frieden.“ Wer fähig ist, die vier Brahmaviharas anzuwenden, kann endlich das unter Kontrolle bekommen, was Patanjali ­„Vikshepa“ nennt: die Neigung des Geistes, sich ablenken zu lassen. Patanjali lehrt uns, dass jemand, der mit Gleichgültigkeit auf das reagiert, was um ihn herum passiert, innerlich nie zur Ruhe kommen wird. Die vier erstrebenswerten Geisteshaltungen bekämpfen unsere Unruhe und bringen uns innerer Ausgeglichenheit näher.

Begegnen wir fröhlichen Menschen, hilft uns eine freundliche Haltung ihnen gegenüber, Gefühle von Neid und Missgunst zu verhindern. Treffen wir auf Menschen, die leiden, sollten wir Mitgefühl zeigen und, wenn möglich, auch helfen, das Leid zu vermindern. Uns an den Qualitäten rechtschaffener Menschen zu erfreuen und zu erbauen, inspiriert uns, selbst solche Qualitäten zu entwickeln. Und wenn wir schließlich mit Menschen konfrontiert sind, die wir als nicht rechtschaffen, als nicht vertrauenswürdig oder gar als kriminell verdammen, so lehrt uns die klassische Yogatradition, dass wir versuchen sollten, auch ihnen mit Gleichmut zu begegnen. Oft geben wir dem Drang nach, diese Menschen zu kritisieren und zu verurteilen, weil wir der Ansicht sind, sie wären fehlgeleitet. Aber das hilft uns keinesfalls dabei, geistige Gelassenheit zu bewahren! Die Kommentatoren des klassischen Yoga weisen darauf hin, dass der Yogi keine Aufmerksamkeit von seiner eigenen Praxis abzweigen soll, um diejenigen zu ändern, die höchstwahrscheinlich eh keinen Ratschlag annehmen werden. Wie Satchidananda sagt: „Wenn du versuchst, andere zu belehren und zu bekehren, wirst du deinen Frieden verlieren.“

Unendliche Liebe

Viele zeitgenössische Yogis interpretieren Patanjalis Yoga-Sutra I.33 etwas freier. So übersetzt der Autor, Buddhismus- und Yogalehrer Chip Hartranft das Sutra folgendermaßen: „Der Geist beruhigt sich, wenn man Freundlichkeit, Mitgefühl, Freude und Gleichmut in Richtung aller Dinge ausstrahlt, seien sie erfreulich oder unerfreulich, gut oder schlecht.“ Diese offene Sicht der Dinge wird in der buddhistischen Tradition oft betont. Dort kennt man die Brahmaviharas auch als „die grenzenlosen Vier“ oder „die vier Unmessbaren“. Sie sind Ausdruck für die sozialen Beziehungen und die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen, die im buddhistischen Yoga einen hohen Stellenwert haben. Beide Anschauungen sind nützlich: Darüber zu reflektieren, welche Intention und welcher Zweck hinter den beiden Auslegungen liegen, kann Ihrer Praxis mehr Tiefe verleihen.

Beginnen Sie bei sich selbst

Oft rate ich meinen Schülern, Metta und Karuna, Freundlichkeit und Mitgefühl in ihrer Praxis zu kombinieren. Wenn wir beides üben, beginnen wir, uns selbst gegenüber freundlicher aufzutreten und uns selbst mehr zu achten, bevor wir diese Fähigkeiten auf andere Menschen übertragen können. Diese radikale Selbst-Anerkennung kann für diejenigen unter uns, denen es schwer fällt, sich als wertvoll und liebenswert zu erachten, eine große Herausforderung sein. Wenn wir liebevolle Freundlichkeit uns selbst gegenüber üben, kann es passieren, dass ganz andere, nämlich negative Gefühle hochkommen, Gefühle, die wir bisher unterdrückt oder ignoriert haben. Ich bin fest überzeugt, dass wir erst dann bereit sind, anderen wahre Liebe entgegenzubringen, wenn wir uns selbst gegenüber geöffnet haben. Darum muss dies der erste Schritt sein.
Im Buddhismus werden seit Jahrtausenden detaillierte Anleitungen gegeben, wie man die Brahmaviharas aufbauen kann. Am Anfang begeben Sie sich in eine angenehme Sitzposition. Als einleitende Übung zu Metta bhavana (dem Aufbau von Metta), rufen Sie sich ihre eigene Güte zu Bewusstsein, etwa einen bestimmten Moment, in dem sie etwas Gutes, Freundliches oder Liebevolles gesagt oder getan haben. Das kann etwas ganz Simples sein, wie jemandem einen Sitzplatz im Bus anzubieten oder Ihrer Familie eine Mahlzeit zuzubereiten. Nun richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihr Herzzentrum – egal, ob Ihr Herz offen und aufnahmebereit oder verschlossen ist. Urteilen Sie nicht. Beobachten Sie einfach nur Ihre Gefühle. Dann beginnen Sie, folgende Metta-Wendungen zu ­rezitieren:

Möge ich glücklich sein.
Möge ich friedlich sein.
Möge ich Freude und den Quell ­dieser Freude genießen.
Möge ich Leichtigkeit und Wohlbefinden von Körper, Geist und Seele erfahren.

Erleben Sie körperlichen oder emotionalen Schmerz? Haben Sie Minderwertigkeitsgefühle, fühlen Sie Angst oder Traurigkeit, während Sie diese Worte sagen? Dann fügen Sie folgende Sätze des Karuna bhavana (Aufbau von Karuna) hinzu:

Möge ich frei von Leid sein.
Möge ich mich selbst akzeptieren und achten.
Möge ich Ruhe in Körper, Geist und Seele erfahren.
Möge ich mitfühlend auf
Leid reagieren.

Während Sie diese Worte wiederholen, achten Sie darauf, wie Ihr Körper auf jeden Satz reagiert. Gewöhnen Sie sich an den Nachhall der Worte in Ihrem Geist. Es kann sich mechanisch anfühlen, die Sätze zu wiederholen, als wären Sie dabei nicht aufrichtig. Wenn das passiert, dann ist Ihr Herz zwar verschlossen. Dennoch sollten Sie weitermachen. Irgendwann sickern die Sätze durch… „Fake it till you make it“, riet mir einst einer meiner Lehrer. Tun Sie so als ob, bis es Ihnen gelingt. Achten Sie genau wie bei jeder anderen Übung darauf, ob Ihre Gedanken abschweifen. Verabschieden Sie sich von diesen Gedanken und kehren Sie wieder zurück zu Ihrer Übung und Ihrer Intention: Sie wollen Freundlichkeit und Mitgefühl sich selbst gegenüber aufbauen.

Öffnen Sie Ihr Herz für Freunde, Fremde und Feinde

Nachdem Sie Metta und Karuna an sich selbst geübt haben, ist der zweite Schritt, obige Worte an andere Menschen zu richten – Menschen, die gut zu Ihnen waren und denen gegenüber Sie Dankbarkeit und Respekt empfinden: zum Beispiel Ihre Eltern, Freunde, Lehrer oder wer auch immer Ihnen in Ihrem Leben geholfen hat. All diese Menschen tragen Sie bereits in Ihrem Herzen.
Wenn ich mit diesen Kategorien arbeite, fällt es mir manchmal schwer, nur ein bestimmtes Bild eines Freundes oder geliebten Menschen zu beschwören. Ich fühle mich dann so, als müsste ich mein Herz vergrößern, um Platz zu schaffen für alle Lebewesen, die ich liebe. Und tatsächlich ist dieses Bewusstsein und diese Wertschätzung für die Liebe, die uns schon entgegengebracht wird, ein Quell der Freude, den wir durch diese Übung jederzeit anzapfen können. Ich lasse zu, dass die Gesichter all meiner Lieben vor meinem geistigen Auge auftauchen, und wende mich an jede Person mit ein oder zwei Sätzen, um wahrhaftig unsere Verbindung zu spüren.

Der nächste Schritt besteht darin, die Sätze einer neutralen Person zu widmen, jemandem, dem Sie keine starken Gefühle egal welcher Art entgegenbringen. Vielleicht ist das jemand aus der Nachbarschaft, den Sie nicht kennen, aber häufig sehen. Als ich damit begann, Metta Karuna zu üben, lebte ich in ­Brooklyn, und da gab es diesen Mann, der jeden Tag mehrmals seinen Hund auf der Straße Gassi führte. Ich wusste überhaupt nichts über ihn und hegte auch keine besonderen Gefühle ihm gegenüber, also wählte ich ihn als meine neutrale Person. Aber dann passierte etwas Bemerkenswertes. Nach ein paar Monaten kam ich zu der Überzeugung, dass ich ihm nicht länger als neutrale Person Liebe entgegenbringen konnte. Ich wusste zwar immer noch nichts über ihn, aber ich bemerkte, dass ich ihm gegenüber Zuneigung entwickelt hatte! Rief ich mir sein Bild vor Augen, fühlte ich Wärme, Interesse und Freundlichkeit. Er war mittlerweile in die Kategorie „Freund“ gewechselt.

Im vierten Schritt geht es darum, Metta Karuna einer schwierigen Person zu widmen, also jemandem, für den Sie Gefühle wie Ärger oder Angst entwickeln, jemandem, der Ihnen Schaden zugefügt hat und dem Sie nicht vergeben können oder wollen. Dabei ist sehr wichtig, Geduld mit sich selbst zu haben. Während Sie üben, kann es passieren, dass sehr starke Emotionen in Ihnen hochkochen. Akzeptieren Sie Ihre Grenzen und verlegen Sie sich darauf, wieder Ihnen selbst Liebe und Mitgefühl zukommen zu lassen. Wechseln Sie zwischen der schwierigen Person und Ihnen selbst, und beobachten Sie gut, wie sich Ihre Gefühle verhalten.

Ich hatte mal einen Schüler, der von seinem Vater missbraucht wurde, diesen aber seit 30 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Nachdem er neun Monate lang seine Metta-Karuna-Praxis sich selbst widmete, öffnete er sich für seine Freunde, Wohltäter und Bekannten und schließlich auch für neutrale Personen. Einige Monate später wagte er sich an seinen Vater, eine schwierige Aufgabe.
Ärger und Abneigung stiegen in ihm auf, also konzentrierte er sich wieder darauf, sich selbst Liebe zu geben. Indem er lernte, seiner eigenen Abneigung mit Liebe und Mitgefühl zu begegnen, entwickelte er mit der Zeit auch die Fähigkeit, Liebe und Mitgefühl auch seinem Vater zukommen zu lassen. Er hält immer noch Abstand zu seinem Vater, aber mittlerweile fühlt er ihm gegenüber tatsächlich Mitgefühl und Verständnis – und nicht mehr Angst und Wut.
Der letzte Schritt besteht darin, Metta Karuna allen Lebewesen entgegenzubringen. Genau das ist das Ziel dieser Übung: zu dem Wunsch zu gelangen, dass alle Lebewesen überall, klein oder groß, glücklich und frei von Leid sein mögen.

Auf der Matte

Um Metta Karuna in Ihre Asana-Praxis zu integrieren, beginnen Sie mit einer sanften, unterstützten Rückbeuge. Die Schultern werden dabei mit einer gerollten Decke oder einem ­Polster unter den Schulterblättern gestützt – so können Sie Ihre Aufmerksamkeit besser auf Ihr Herzzentrum richten. Bleiben Sie ein paar Minuten in dieser Haltung und denken Sie an Ihre Intention. Wenn Sie sich danach durch Ihre Asanas bewegen, werden Sie feststellen, dass in den Rückbeugen, Schulteröffnern und Drehungen ein körperlich geöffnetes Herzzentrum den Zugang zu liebenden Gefühlen erleichtert. Wenn Sie aufmerksam üben, können Sie fühlen, wie sich der Zustand Ihres Herzens verändert. Es wird offener…

Im Alltag

Abseits der Matte können Sie Metta Karuna aufbauen, indem Sie einfach die Augen offen halten, wo sich überall Möglichkeiten dafür bieten: Wenn sie im Supermarkt Schlange stehen, können Sie den anderen Wartenden und der Kassiererin Metta Karuna entgegenbringen. Wenn Sie spazieren gehen, können Sie Karuna an die obdachlose Frau mit dem Einkaufswagen senden. Und wenn sie bemerken, dass Sie mit Ablehnung auf die Obdachlose reagieren, können Sie sich auch selbst ein wenig Karuna zuteil werden lassen. Sie werden sehen, Metta und Karuna können Ihr Leben verändern… 


Frank Jude Boccio lehrt Yoga und Zen-Buddhismus und ist Autor des Buches „Mindfulness Yoga“. www.mindfulnessyoga.net

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