Mudras, die traditionellen indischen Handhaltungen, sind nicht nur mit Symbolik aufgeladen – sie können auch ein Schlüssel dazu sein, sich tiefer mit der Asana-Praxis zu verbinden.
Text: Linda Sparrowe, Übungen: Nubia Teixeira, Fotos: Andrea Boston
Vielleicht ist dir schon einmal aufgefallen, wie die Götter und Göttinnen bei indischen Skulpturen und Gemälden ihre Hände halten. Dieselben Haltungen sieht man auch im traditionellen indischen Tanz. Was das mit Yoga zu tun hat? Mehr als du vielleicht denkst. Mudra bedeutet wörtlich übersetzt “Siegel” oder “Zeichen”. Hasta ist die Hand. Hasta Mudras sind also Zeichen, die wir mit den Händen machen. Damit sind aber nicht irgendwelche alltäglichen Gesten gemeint, sondern jahrtausendealte, “heilige” Handbewegungen. Im klassischen indischen Tanz verdeutlichen sie den Zuschauern, wie die dargestellten Gestalten fühlen. Im Yoga hat jedes Hand-Mudra einen bestimmten Zweck, denn man geht davon aus, dass sie subtile Veränderungen auf körperlicher, mentaler und emotionaler Ebene erzeugen können. Wenn du beispielsweise während der Meditation unruhig oder ängstlich bist, dann kann es helfen, wenn du deine Handflächen auf die Oberschenkel legst: Diese Haltung beruhigt und erdet deine Energien. Fühlst du dich dagegen schlapp und müde, dann solltest du ein Mudra mit nach oben gewendeten Handflächen wählen, das dich erfrischt und belebt.
Die Hände als Fortsetzung des Herzens
Für die Yogini und Tänzerin Nubia Teixeira, die du in den folgenden Übungen kennenlernen wirst, sind die Hände eine Fortsetzung des Herzens: “Mit den Händen stellen wir Kontakt her, wir helfen, heilen, drücken uns aus, kochen, schreiben und berühren uns gegenseitig”. So gesehen ist es nur logisch, dass Hasta Mudras uns helfen können, diese Kräfte des Herzens auch bewusst über die Hände anzusprechen und zu lenken.
Mudras und die fünf Elemente des Ayurveda
Den Lehren des Ayurveda zufolge steht jeder Finger mit einem der 5 Elemente (Tattvas) in Verbindung. Berühren sich die Finger im Mudra, dann erzeugt das energetische Kreisläufe. So können wir die angesprochenen Elemente stimulieren und in die Balance zueinander bringen. Der Daumen steht für Feuer und die Wärme des Atems. Berührt er den mit der Luft verbundenen Zeigefinger, dann verbessert das nach ayurvedischer Vorstellung den Atemfluss im gesamten Körper. Ganz ähnlich funktioniert die Verbindung beim Mittelfinger, der das Element Äther in sich trägt: Im Kontakt mit dem Daumen entsteht mehr Raum und Weite. Beim Ringfinger verstärkt der feurige Daumen dessen Element, die Erde, das schenkt uns mehr Stabilität. Und beim kleinen Finger, der in Beziehung zum Wasserelement steht, verbessert die Berührung des Daumens die verschiedenen Kreisläufe des Körpers.
Erfahre hier, wie du dich noch mit dem fünf Elementen verbinden kannst.
Probiere es aus:
Beobachte anhand der folgenden 6 Übungen, wie das Mudra deine Erfahrung der Asana verändert. Vielleicht wirst du feststellen, dass mehr Energie fließt oder du tiefer in das bewusste Erleben der Haltung eintauchst. Du hast es in der Hand …
1. Ardha Padmasana mit Alapadma Mudra
Eine vollständig geöffnete Lotosblüte als Opfergabe – dieses Mudra steht für Fülle, Reinheit und Schönheit:
Asana: Setze dich auf den Boden oder erhöht auf ein Kissen. Wenn möglich lege den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel und den rechten Fuß unter das linke Knie in den halben Lotos. Am nächsten Tag übst du die Haltung dann seitenverkehrt.
Mudra: Öffne für das Alapadma Mudra deine rechte Hand nach oben und spreize die Finger etwas. Während der Zeigefinger lang nach vorn gestreckt ist, ziehst du die übrigen fächerförmig zum Arm. Halte die linke Hand gestreckt und ebenfalls nach oben geöffnet darunter.
Gebet: “Mit Dankbarkeit nehme ich Zuflucht bei dir, große Mutter. Ich bitte dich, erlaube mir zu erkennen, was ich in meiner Praxis manifestieren soll”.
2. Saraswati Bijasana (im Stand) mit Kapittha und Suchi Mudra
Diese Haltung stellt Saraswati dar, die Göttin der Weisheit, der Musik und der Künste. Sie schenkt uns Inspiration und eine zarte, frohe Stimmung:
Mudra: Zu Beginn bilden beide Hände eine lockere Faust. Lege nun für Kapittha Mudra bei der linken Hand die Zeigefingerspitze auf die Daumenspitze, dabei weist der Zeigefinger zum Gesicht – auf diese Weise hält Saraswati ihr himmlisches Instrument, die Veena.
Strecke dann für Suchi Mudra den Zeigefinger der rechten Hand zum Körper hin und lege die Daumenspitze auf den eingeklappten Mittelfinger – Saraswati greift in die Saiten der Veena.
Asana: Beuge im Stand leicht deine Knie und drehe die Füße etwas auswärts. Verlagere das Gewicht auf den linken Fuß und kreuze das rechte Bein so hinter das linke, dass die Knie dicht hintereinander sind und der rechte Fuß gestreckt nach oben zeigt. Blicke über die linke Schulter und schiebe auch das Becken etwas nach links. Hebe als letztes die Arme auf Schulterhöhe und bewege die linke Hand auf Höhe der Stirn, während die rechte am ausgestreckten Arm zum Körper zeigt. Wiederhole anschließend das Ganze andersherum.
Gebet: “Om Aim Saraswatyai Namah. Mögest du mich in den Fluss deiner Inspiration aufnehmen und mir Weisheit schenken”.
3. Saraswati Bijasana (im Sitzen) mit Simhamukha und Sukachanchu Mudra
In dieser Variante hält Saraswati ihr Instrument etwas anders, sie soll tröstend und beruhigend wirken:
Mudra: Die linke Hand formt Simhamukha Mudra: Daumen und kleiner Finger zeigen nach oben, die anderen Finger liegen gestreckt aneinander und weisen zum Gesicht. Die Finger der rechten Hand bilden für Sukachanchu Mudra einen Kreis, bei dem sich die Kuppe von Mittelfinger und Daumen sanft berühren.
Asana: Kreuze aus dem Stand den rechten Fuß so vor den linken, dass etwa 30 Zentimeter dazwischen liegen. Versuche die Mudras zu halten, während du nun die Knie beugst, dich auf die linke Ferse setzt und das linke Knie am Boden ablegst. Wiederhole auch diese Haltung anschließend seitenverkehrt.
Gebet: “Saraswati, dein Licht berührt meinen Intellekt, deine Schönheit berührt mein Herz”.
4. Utthita Hasta Padasana mit Bhramara Mudra
Brahmari Devi ist die Göttin der Bienen. Mit dieser Haltung rufst du deine Kraft und Lebendigkeit an:
Mudra: Lege für Brahmara Mudra den Nagel des Zeigefingers an den Ursprung des Daumens, zugleich berühren sich die Fingerkuppen von Mittelfinger und Daumen, Ringfinger und kleiner Finger sind abgewinkelt und gestreckt. Über den Kopf gehalten soll dieses Bienen-Mudra mit seiner hohen energetischen Schwingung sich mit dem Kronen-Chakra verbinden.
Asana: Hebe aus dem Stand das rechte Bein, halte deinen Fuß oder dein Bein mit der rechten Hand (oder einem Gurt) und strecke es zur Seite. Versuche, das Becken möglichst gerade zu halten. Forme mit der linken Hand Brahmara Mudra, hebe die Hand locker bis über den Kopf und wende deinen Blick zur Hand. Wiederhole anschließend die Haltung seitenverkehrt.
Gebet: “Brahmari Devi, ich höre deinen feinen Flügelschlag über meinem Kopf und spüre, wie er meinen Geist klärt. Möge ich mein Kronen-Chakra öffnen und mit höheren Mächten verbinden können”.
Probiere auch mal Bhramari Pranayama – die Bienenatmung – aus.
5. Ardha Parighasana mit Ardha Pataka Mudra
Diese Haltung symbolisiert deine Fähigkeit, Differenzen und Distanzen zu überbrücken:
Mudra: Öffne deine Hand und strecke die Finger. Beuge dann für das Ardha Pataka Mudra den Ringfinger und kleinen Finger nach innen. Ardha Pataka bedeutet “halbe Fahne”, sie symbolisiert das Flussufer, auf das wir unsere Brücke bauen.
Asana: Stelle aus dem Kniestand den rechten Fuß seitlich auf einer Linie zum linken Knie auf. Dabei zeigen die Zehen nach rechts. Forme mit beiden Händen Ardha Pataka Mudra. Stütze den rechten Ellenbogen auf den rechten Oberschenkel und führe die Hand auf Herzhöhe vor den Körper. Den linken Arm ziehst du mit nach unten zeigender Handfläche lang nach oben und rechts in eine Seitbeuge. Der Blick geht gerade nach vorn oder in einer leichten Drehung zur gehobenen Hand. Wiederhole das Ganze spiegelverkehrt.
Gebet: “Möge ich eine Brücke sein und anderen Menschen mit meinen Worten und Handlungen Trost und Frieden stiften.”
6. Anjaneyasana mit Pushpaputa Mudra
Diese Haltung fängt symbolisch vom Himmel kommendes reinigendes Wasser auf und klärt damit Augen und Geist:
Mudra: Lege die nach oben geöffneten Hände aneinander und beuge die Finger etwas, so dass sie eine Schale bilden. Pushpaputa Mudra ist zugleich die Geste des Empfangens und des Gebens. Ihr Name bedeutet wörtlich “eine Handvoll Blüten”. Stelle dir vor, dass du durch die so geformten Hände mit jeder Einatmung Licht in dein Herz lenkst und es ausatmend in die Welt hinaus sendest.
Asana: Die Sanskrit-Bezeichnung für den tiefen Ausfallschritt geht auf Anjani zurück, die Mutter des Gottes Hanuman, eine schöne Himmelstänzerin (Apsara). Ihre Anmut wollen wir nachempfinden, wenn wir aus dem Kniestand zunächst den linken Fuß nach vorne setzen und das Knie über dem Fuß ausrichten. Das Becken darf sinken, während wir beide Hände in Pushpaputa Mudra heben. Die Ellenbogen sind leicht gebeugt, Blick und Herz gehoben.
Gebet: “Einatmend empfange ich Fülle. Ausatmend gebe ich großzügig”.
Nubia Teixeira ist Yogini und Odissi-Tänzerin – einer der sieben klassischen indischen Tänze. Dieser Artikel basiert auf ihrem Buch Yoga and the Art of Mudras (mandala Publishing 2019). Mehr über Nubia findest du auf www.nubiayoga.com.