Wie lange dauert eigentlich eine Wolke – hast du dir diese Frage schon mal gestellt? Andrea Goffart kann dir inzwischen sagen, dass sie ziemlich lange dauert und dass Wolken-Gucken ein wunderbarer Zustand ist. Sie hat sich im Selbstversuch dem hingebungsvollen Nicht-Tun genähert.
Text: Andrea Goffart / Titelbild: Hirurg von Getty Images via Canva
Einen Sonntag hatte ich mir ausgesucht: 24 Stunden leerer Raum – leer von Verabredungen, von Menschen, von Terminen, von irgendetwas, das mit Tun zu tun haben könnte. Handy und iPad nicht nur im Flugmodus, sondern komplett ausgeschaltet. Klingel auch aus. Der Gatte auf Reisen. Einen ganzen Tag lang nicht lesen, nicht sprechen, keine Wäsche waschen, kein Sport, keine Musik. Und irgendwann am Nachmittag sitze ich auf meinem Sessel und denke, wie viel sinnvoller es mir doch erscheint, Wolken zu beobachten, als ein Buch zu lesen. Nie wieder will ich etwas anderes tun, will diesen Selbstversuch endlos ausdehnen. Wobei dieser Gedanke schon wieder eine Absicht beinhaltet. Mist! Genau das wollte ich doch nicht – ich wollte loslassen. Da sein, völlig absichtslos, nur dem Impuls des Moments folgen.
Und so saß ich Stunde um Stunde und schaute den Wolken dabei zu, wie sie kamen und gingen, sich auftürmten und verflüchtigten, wie sie fantastische Fabelwesen, grimmige Gesichter, Zwerge und Riesen, Kaninchen und Drachen vor meinen Augen entstehen ließen. Ich badete im Licht und im Schatten, fühlte die Wärme der Sonne auf der Haut und hörte dem unablässigen Kommen und Gehen meiner Gedanken zu. Und gleichzeitig war da ein permanenter Impuls, diesen Zustand sofort abzubrechen: Wann kann ich endlich etwas tun? Ist schon Zeit zu essen, spüre ich Hunger? Muss ich nicht vielleicht auf Toilette? In unserem Gespräch bestätigt mir Rani Kaluza, die das Buch “Doing Nothing – Über die hohe Kunst des Nicht-Tun” geschrieben hat, dass der Verstand immer wieder mitspricht. Er fragt: “Was soll ich jetzt machen?”. Das reine Nicht-Tun, stellt sie fest, scheint schlichtweg zu hoch für den menschlichen Verstand zu sein.
Das Tun ist unsere Rettung! Wirklich?
Nicht-Tun ist vor allem eine Einladung, sich unseren gesellschaftlichen Umgang mit dem Tun anzuschauen. Eigentlich tun wir ständig etwas – und wenn wir mal nichts tun, dann haben wir ein schlechtes Gewissen, weil wir eigentlich etwas tun müssten. Auch wenn wir uns entspannen wollen, wenn wir Stress reduzieren sollen, tun wir etwas. Am besten etwas, das die Krankenkasse bezahlt. Und in diesem unaufhörlichen Tun möchten wir meist etwas ändern, wir wollen es diesmal anders tun: besser, schneller, erleuchteter. Auf keinen Fall darf es so bleiben, wie es ist.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Dieser Beitrag ist kein Plädoyer gegen das Tun! Wir alle kennen das gute Gefühl, etwas getan, geschafft, bewirkt zu haben. Im Tun liegt ja auch Kreativität, hier ist Selbstwirksamkeit zu Hause. All das ist so fest in unser Leben eingewoben, dass eine Bekannte kürzlich sagte, sie sei glücklich, wenn sie den ganzen Tag “scharren kann wie ein Huhn”: immer tätig, in sinnvoller Bewegung und dadurch auch in Kontakt – zu anderen, zu sich selbst.
“Wenn die Gedanken wie schöne Fische sind, sei du der See.
Wenn die Gedanken wie geschriebene Wörter sind, sei du das Papier.
Wenn die Gedanken wie wilde Pferde sind, sei du die riesige Weide.
Wenn die Gedanken wie graue Wolken sind, sei du der Himmel.
Wenn die Gedanken wie kreisende Planeten sind, sei du das Universum.”
– Rani Kaluza in ihrem Buch “Doing Nothing – die hohe Kunst des Nicht-Tun”
Das Nicht-Tun ist also keine spirituelle (Verweigerungs-)Haltung. Es ist eine Praxis und vor allem ist es eine Chance, immer wieder auch Pausen zu machen, in denen wir dem Leistungsdruck auf geistiger und körperlicher Ebene entkommen. So können wir dem Tun bewusst ein Sein an die Seite stellen und dadurch in Kontakt mit dem Jetzt kommen. Ganz ähnlich erklärt es auch Lisa Erichson, die in Hamburg Yoga im Wandel unterrichtet: “Der Moment ist eigentlich immer gut genug. Auch dein Körper stimmt so, wie er ist. Du selbst bist vollkommen und absolut richtig, so wie du gerade im Augenblick bist.”
Wenn wir aufhören, unser Müssen und Wollen, diese ganze Geschwätzigkeit und Geschäftigkeit des Alltags zwischen uns und den Moment zu legen, dann laden wir Hingabe ein, betont Lisa: “Wenn ich im Yoga wahrnehme, dass ich heute total unkonzentriert bin, dann kann ich mich verurteilen, kann beschließen, dass mit mir etwas nicht stimmt, und schon bin ich wieder im Tun, im Veränderungsdruck. Oder ich nehme es einfach nur wahr und lasse die Wertung raus. Je tiefer das gelingt, desto entspannter und gelassener wird die ganze Angelegenheit.”
Nicht-Tun ist nicht nichts tun
“Was hat Nicht-Tun mit Yoga zu tun?”, frage ich Gabriele Lehner, die das Heilyoga Kum Nye vermittelt. Sie erklärt es mir so: “Die Verwandtschaft von meiner Art Yoga zu leben und Nicht-Tun sehe ich darin, dass alles, was da ist, sein darf. Nichts wird getan, um irgendetwas zu verändern. Diese Erfahrung führt uns in die Tiefe dessen, was wir sind, wenn wir das Tun aufgeben.” Wenn wir Yoga aus der Absichtslosigkeit heraus üben – aus einer Haltung des Nicht-Wollens, Nicht-Wissens, Nicht-Habens, dann kann es Nicht-Tun werden.
Nicht-Tun liegt also vordringlich in der Motivationslosigkeit unseres Tuns, nicht so sehr in der Handlungslosigkeit unseres Seins. Mir fällt dabei der Schmetterling ein, der von einer Blüte emporsteigt, ohne zu wissen, wo er hinwill; mir fällt die Katze ein, die sich so lange in der Sonne rekelt, bis ein Impuls kommt. Dann zieht sie weiter. Darum geht es: Sinn und Zweck des Tuns nicht kennen zu müssen. Einfach nur wahrnehmen, was im Innen und Außen gerade da ist – mühelos, sinnlos, zwecklos – und sich dem hingeben.
Doch dann taucht im menschlichen Geist ganz schnell wieder eine Unsicherheit auf: Wie lange soll ich denn jetzt bitteschön absichtslos sein? Wann soll ich gehen, soll ich mich bewegen? Dahinter stehen wichtigere Fragen: Möchte ich diese Situation vermeiden? Möchte ich nur weiterziehen, weil mir langweilig ist oder ich verlegen bin? Oder ist es ein Impuls, der aus Freude entsteht und zu einem Mehr an Lebendigkeit führt?
Wenn dem Tun das “Um zu …” fehlt, also die Idee, etwas erreichen zu wollen oder überhaupt etwas zu wollen, dann erwächst es ganz natürlich aus sich selbst heraus. “Absichtsloses Da-Sein ist kein überflüssiger Luxus”, schreibt Rani in ihrem Buch, “sondern eine Quelle der Regeneration, Intelligenz und Freude”. Sie äußert den Verdacht, dass Menschen, die über einen längeren Zeitpunkt unablässig aktiv sind, irgendwann ein wenig seltsam werden – und nicht selten auch krank.
Von der Meditation zum Nicht-Tun
Aber ist Nicht-Tun nicht ziemlich genau das, was auch Meditation ist? Alter Wein in neuen Schläuchen? Wir sitzen, tun nichts und werden still. Gegenfrage: Folgen wir in der klassischen Meditationspraxis nicht häufig einer Motivation, einem “Um zu …”? Viele Übende wollen “besser” werden, länger sitzen können, Fähigkeiten erwerben, um im Alltag besser zu bestehen: Gelassenheit zum Beispiel oder Resilienz. Um all das zu erreichen, vermitteln uns die meisten Meditationsschulen Methoden, die unser rekursives Denken eindämmen sollen: Konzentration auf den Atem, Visualisierungen, Mantras.
Diese Techniken, das betont Rani in unserem Gespräch, sind sinnvoll, wenn es darum geht, die perfiden Tricks des Denkens zu studieren und zu durchschauen, wie der eigene Geist funktioniert. Doch irgendwann, sagt sie, wurden diese Methoden für sie zum Hindernis, denn es gab immer noch jemanden in ihr, der machte und etwas, das gemacht wurde. Sie erkannte: So kommt man nicht in Kontakt zum Moment, man ist zu beschäftigt damit, etwas auszuführen. Das Jetzt offenbarte sich für sie nur, indem sie das Tun aufgab.
Yogalehrerin Gabriele Lehner drückt es so aus: “Wenn wir versuchen, Nicht-Tun zu tun, dann ist das ein Paradox. Wir dürfen am Ende also auch das Üben sein lassen, dürfen selbst das Loslassen noch lassen.” Erst dann kommen wir in eine echte Hingabe. Dann wird aus der Meditation ein Geschenk und der feine Schleier zwischen mir und dem (meist sehr unspektakulären) Moment reißt auf. Auch allein im Café zu sitzen kann eine Meditation sein, den Sonnenuntergang zu beobachten oder im Stau zu stehen und sich verloren zu fühlen in diesem Warten. Überhaupt ist Warten auch Meditation, vor allem in den leersten Momenten, wenn der Grund des Wartens verloren geht. In diesen leeren Momente spürst du: Hier ist das Leben, hier steht es und wartet auf mich.
Es ist so still – ich weiß nicht weiter
Stille ist das Herz des Nicht-Tun. Sie wird anders, wenn wir uns auf das absichtslose Da-Sein einlassen, tiefer und zugleich durchsichtiger. So zumindest nehme ich es wahr. Die Gedanken werden schärfer, sie durchdringen die Stille und sind zugleich auf Abstand. Diese Stille, die sich im Nicht-Tun offenbart, ist immer da, selbst im dröhnenden Lärm, so beschreibt es Rani, und so sagen es auch viele Weisheitslehren.
Darin liegt für mich eine große Sehnsucht – und wieder mal eine Absicht: Ich will unbedingt die Fähigkeit erwerben, die Stille auch inmitten eines überfüllten Regionalzugs am Freitagnachmittag einzuladen, ich möchte sie am liebsten immer im Gepäck haben: Handy, Wasserflasche, Portemonnaie und Stille. Wie schön, dass auch diese, meine “Unvollkommenheit” des Wollens sein darf. Alles gehört zu mir, auch meine aktuell liebste Freundin – das Nicht-Wissen. Im Gespräch mit Rani waren wir uns einig, dass das Eingeständnis von Nicht-Wissen Räume öffnet: Zunächst einmal wahrnehmen und dann vielleicht sogar aussprechen: Ich weiß gerade nicht weiter.
Die Macht des “Nicht-Wissen”
“Im Übrigen könnte man annehmen, es sei nicht viel Intelligenz dafür nötig, entschieden nicht weiterzuwissen, doch das täuscht”, schreibt Rani in “Doing Nothing” und ich stimme ihr vehement zu: Ich halte das Eingeständnis von Nicht-Wissen, gerade auch im Kontext von Leadership, für eine der machtvollsten Gesten, die uns zur Verfügung stehen. Rani nennt es scherzhaft “Power-Nicht-Tun”: in Demut zurücktreten und dem Leben den Raum überlassen.
In ihrem Buch “Wenn alles zusammenbricht” schreibt die buddhistische Nonne Pema Chödrön ganz Ähnliches über ihren langen Weg der Hingabe an das, was ist. Sie berichtet, dass wir meistens glaubten, ein Problem lösen zu müssen. Ihre Anweisung lautet anders: Sie lädt zum Innehalten ein, dazu, etwas ganz und gar Ungewohntes zu tun und anders zu reagieren, anstatt direkt wieder in die gewohnte Richtung zu rennen und die alten Tricks anzuwenden. Wir könnten einfach beobachten, was geschieht, wenn wir uns nicht einmischen und unser Wissen, Wollen und Können “einfach” aufgeben. Wir könnten die Angst vor der Planlosigkeit, vor Kontrollverlust bemerken und unser Vertrauen in den Augenblick legen. Bewusst wahrnehmen und sagen: Heute lasse ich mal los. Oder noch besser: Heute lasse ich es mal gut sein. Ich lade das Nicht-Tun ein.
In den Gesprächen für diesen Beitrag hat Andrea Goffart überrascht entdeckt, dass sie mit ihrem Workshop-Format “Schreiben – einfach so” schon lange zum Nicht-Tun einlädt. Absichtslos, spielerisch und vor allem mit Freude – so darf es sein, das Schreiben. Das Sein. Mehr über Andrea und ihre Workshops erfährst du auf ihrer Website.
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