Von der Tagesplanung über die Yogapraxis bis zur Skin Care: Routinen werden uns häufig als Allheilmittel verkauft. Bloß kein Chaos, bloß keine Leere, bloß keine Unsicherheit aufkommen lassen! Doch wann erleichtern sie uns das Leben und wann hindern sie uns eher daran, die eigene Lebendigkeit zu spüren?
Text: Madeleine Dore, Illustration/Titelbild: Mara Ohlsson & Midjourney
Du hast deinen Job verloren? Schaffe neue Routinen für deinen Alltag! Du hast mit Ängsten zu kämpfen oder betrauerst den Verlust eines lieben Menschen? Finde eine Routine! Krieg, Klimawandel und andere düstere Zukunftsaussichten machen dir zu schaffen? Routinen helfen dir sicher auch durch diese Zeit! Durchoptimierte Routinen scheinen in unserer auf Produktivität getrimmten Kultur die Lösung sämtlicher Probleme zu sein.
Routinen im Alltag
Und keine Frage, manchmal tut es richtig gut, einen festen Plan zu haben: Routinen vermitteln ein beruhigendes Gefühl von Struktur, Ordnung und Sicherheit, insbesondere wenn die Welt um uns herum gerade im Chaos zu versinken scheint. Vor allem aber erleichtern sie erst einmal den Alltag: Wann stehen wir auf, was frühstücken wir, welche Zahnpasta kaufen wir, wann gehen wir zum Sport, welche Menschen wollen wir sehen?
Müssten wir jede dieser unbedeutenden kleinen Entscheidungen täglich neu überdenken, würde uns das schnell überfordern und erschöpfen. Die Wissenschaft hat die psychischen und körperlichen Vorteile von Routinen schon seit einiger Zeit belegt. Seien es nun regelmäßige Schlafenszeiten, regelmäßige Bewegung oder eine regelmäßige Yoga– und Meditationspraxis: Gesunde Routinen wie diese können sogar bei Depressionen, Ängsten, der Trauma-Verarbeitung oder Suchtbekämpfung wichtige Hilfen sein.
“Auch eine hilfreiche
Madeleine Dore
Routine kann sich
irgendwann in
ein Hamsterrad
verwandeln.”
Doch was wir dabei oft übersehen, ist, dass Routinen mitunter auch genau das Gegenteil bewirken. Vor allem dann, wenn du ihnen allzu starr und zu unflexibel folgst, können sie Ängste und Unruhe sogar verstärken oder gar erst hervorrufen. Problematisch sind vor allem solche Routinen, die schwer einzuhalten sind. Schafft man es nicht, sie zu befolgen, sind Schuld- und Schamgefühle vorprogrammiert. Auch Routinen, die den gesamten Tag durchtakten, sollte man vermeiden: Sie hindern uns daran, offen zu sein oder überhaupt wahrzunehmen, wie der gegenwärtige Moment sich eigentlich entfaltet.
Genau das, was eine Routine definiert, nämlich eine Abfolge sich regelmäßig wiederholender Handlungen, ist eben auch der Kern eines festgefahrenen Alltagstrotts: Das sprichwörtliche Hamsterrad. Der Unterschied liegt im Erleben: Beim einen fühlen wir uns wach und lebendig, beim anderen abgestumpft und auf unangenehme Weise leer und antriebslos. Und das Gemeine ist: Auch das, was wir zu Beginn als ideale Routine erleben, kann sich irgendwann in ein Hamsterrad verwandeln.
Routine oder Trott – wo liegen die Unterschiede?
Wenn du eine Routine gefunden hast, die für dich gut funktioniert und dich sozusagen auf Hochtouren laufen lässt, dann bist du in Bewegung, dein Tag hat einen Rhythmus, der sich stimmig und gut anfühlt, der dich aufblühen lässt. Doch mit der Zeit kann dieser Rhythmus sich einschleifen und zum monotonen Ticken werden. Du fühlst dich zunehmend gelangweilt und unzufrieden. Möglich, dass es dir zum Beispiel eine ganze Zeitlang guttat, regelmäßig die immer gleiche Yogastunde bei der gleichen Lehrerin zur gleichen Zeit zu besuchen, aber irgendwann brauchst du neue Impulse.
Was anfangs noch eine gesunde Struktur war, die dich beflügelt hat, macht dich nun lethargisch, du wirst lustloser und bringst dich so auch um ihren positiven Effekt. Aber darum gleich alles aufgeben? Vielleicht hilft es, beides erstmal nicht als gegensätzliche Pole zu betrachten, sondern als Teile eines Kreislaufs, den wir kontinuierlich durchleben: Routine – Trott – Neuausrichtung – mehr oder minder stark veränderte Routine. Wenn du diese zyklische Struktur erkennst, merkst du auch, dass jede dieser Phasen ihren Wert hat.
“Wie können wir
Madeleine Dore
die nötige Struktur
finden, ohne das
hilfreiche Routinen
zum Trott werden?”
Wäre da nicht der spürbare Unterschied zwischen einer Struktur, die dir Stabilität gibt, und einem Alltagstrott, der sich wie eine Plackerei anfühlt, könntest du niemals erkennen, was der Psychoanalytiker C.G. Jung als “psychologische Entropie” bezeichnet hat: eine Spannung sich ständig wandelnder, ungeordneter und sich bedingender Gegensätze. Ändert sich etwas im Außen, ändert sich auch etwas in deinem Inneren und umgekehrt.
Dann gilt es abzuwägen, ob du an deinen Routinen festhalten oder sie anpassen musst, um seelisch im Gleichgewicht zu bleiben. Diese Spannung ist zwar unbequem, für unser persönliches Wachstum aber von entscheidender Bedeutung. Gäbe es sie nicht, wäre das, als würde man die Unterschiede zwischen heiß und kalt eliminieren, man stürbe, um es mit Jung zu sagen “in gleichmäßiger Lauheit”.
Chance zur Weiterentwicklung
Mit anderen Worten: Es muss nicht immer alles reibungslos und in perfekter Ordnung ablaufen, im Gegenteil! Ein sich ständig weiterentwickelnder Zyklus mit gegensätzlichen Phasen erlaubt es dir, eingefahrene Lebensweisen durch neue zu ersetzen – damit du seelisch nicht “stillstehst”. Aus diesem Grund ist ein Alltagstrott nichts, was man grundsätzlich verteufeln sollte. Er kann das Bewusstsein dafür schärfen, dass du etwas ändern möchtest.
Wenn du merkst, dass du dich in deinem Job, deiner Beziehung oder in anderen Lebenssituationen in einer Art Sackgasse befindest, kann dir das den nötigen Schubs geben, um dich neu zu orientieren. Der Sozialforscher Hugh Mackay spricht in diesem Zusammenhang von einem “Utopie-Komplex” unserer Gesellschaft: einer vermessenen Idee vom perfekten Leben, die uns keinen Gefallen tut, wenn es um den Umgang mit Problemen oder Spannungen geht.
“Je mehr wir über die menschliche Psyche lernen, desto mehr erkennen wir, dass Veränderungen, Unsicherheiten, Unvorhersehbarkeiten, Störungen und unerwartete Ereignisse uns dabei helfen, klarer zu erkennen, wer wir sind, was wir vom Leben wollen und was wir dazu beitragen müssen”, so Mackay.
Vom Hamsterrad in die (kleine oder große) Veränderung
Es gibt Dinge, die einen ganz plötzlich aus dem Trott reißen können: der Tod eines geliebten Menschen etwa, eine Krankheit, ein Arbeitsplatzverlust, eine tiefe Enttäuschung. Und natürlich gibt es solche lebensverändernden Meilensteine auch auf der Sonnenseite des Lebens: Wenn ein Kind geboren wird, man sich Hals über Kopf verliebt, einen neuen Job antritt oder eine Abschlussprüfung besteht zum Beispiel.
In all diesen Situationen sind wir gezwungen, etwas zu ändern. In anderen Fällen sind die Veränderungsprozesse aber schleichender und erfordern viel Geduld. “Phasen der Ruhe und Untätigkeit sind genauso wichtig wie Phasen großer Anstrengung, so wie auch die Stille zwischen den Tönen Teil der Musik ist”, schreiben Bob Sullivan und Hugh Thompson in ihrem Buch “The Plateau Effect: Getting from Stuck to Success” (“Der Plateau-Effekt: Vom Stillstand zum Erfolg”, bislang nicht auf Deutsch erschienen).
Angst vor dem Stillstand
Du kennst das vom Yoga, indem Anspannung und Entspannung, Festhalten und Loslassen auch unbedingt zusammengehören. Aber warum verurteilen wir uns überhaupt selbst so schnell, wenn wir das Gefühl haben, irgendwie festzustecken? Haben wir vielleicht einfach zu wenig Geduld für den Prozess? Manchmal weichen wir auch instinktiv aus, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die in einer Krise stecken. Oder wir schlagen jemanden eine schnelle Lösung für seine Probleme vor und finden, er oder sie solle doch jetzt langsam mal über diese und jene Sache “hinwegkommen”.
Auf der Stelle zu treten, festzustecken, nicht vorwärts zu kommen, all das erscheint uns als ineffizient und inakzeptabel, denn es passt so gar nicht in eine Welt, in der unerbittlich auf Produktivität gepocht wird. Deshalb ist es so wichtig, zu betonen: Dein wertvollstes Werkzeug, wenn du das Gefühl hast festzustecken ist Freundlichkeit dir selbst gegenüber. Und Geduld!
Mehr Geduld für Veränderungen
Manche Veränderungen beginnen ganz unmerklich. Es mag gar nicht so wirken, als tue sich etwas, aber unter der Oberfläche rüstest du langsam um und orientierest dich neu. In einer Folge des Psychoanalyse-Podcasts “This Jungian Life” wurde der Anpassungsprozess an neue Lebensumstände mit dem Butterstampfen verglichen. Man stampft und stampft und stampft die Sahne, aber nichts passiert, also stampft man weiter, und siehe da: Plötzlich hat man tatsächlich Butter!
Sich aus einem Alltagstrott oder einer festgefahrenen Situation zu befreien, kann ganz ähnlich vonstatten gehen: Manchmal hast du das Gefühl, dich an deinen Aufgaben und Routinen regelrecht abzuarbeiten und dennoch im Butterfass festzustecken. Du fühlst dich erschöpft und verwirrt und merkst nicht, dass die Veränderung längst im Gang ist: Plötzlich kommst du an einen Punk, von dem aus es eben doch wieder weitergeht.
Veränderungen lassen sich selten erzwingen. Aber mit Neugier und Achtsamkeit wirst du gerade auch an deinen Routinen merken, wann eine einst sinnvolle und stabilisierende Struktur so sehr eingefahren ist, dass du nicht mehr weiterkommst. Und wenn du das erkennst, hast du die Chance, dein Leben wieder einmal in seiner Gesamtheit wahrzunehmen und auszurichten.
In Bewegung bleiben
Auch wenn ein Trott, wie wir gesehen haben, ein toller Katalysator für Veränderung sein kann: Oft geht das auch mit großer Erschöpfung einher. Gerade das bedeutet ja das Bild vom Hamsterrad: Wir laufen und laufen und kommen dabei kein bisschen von der Stelle. Manchmal muss man in solchen Fällen erst einmal aussteigen und eine Pause machen. Weniger tun, um erst einmal wieder die Akkus aufzuladen. Es kann aber auch vorkommen, dass die Trägheit dann überhand nimmt und man gar nicht mehr in die Pötte kommt. Du lässt du dich womöglich immer tiefer in der Gefühl hineinsinken, in der Sackgasse zu stecken.
Vielleicht ganz einfach, weil sich das irgendwie vertraut anfühlt. Es ist bequemer, als sich der Ungewissheit der Veränderung zu stellen. Der Verhaltenspsychologe Charles Ferster erklärt, dass Menschen, die sich unwohl fühlen, häufig weniger aktiv sind – auch in Bezug auf Dinge, die ihnen eigentlich Freude bereiten und ihnen etwas bedeuten. Dadurch kann ein Teufelskreis entstehen: Wer sich aus der Welt zurückzieht, dem fällt die Rückkehr mit der Zeit immer schwerer.
“Routinen
Madeleine Dore
können uns in
eine Sackgasse
hineinmanövrieren
– aber auch
wieder aus ihr
herauslotsen.”
Es gilt also, diesen Kreis zu durchbrechen! Wenn du die Motivation für einen großen Schritt nicht aufbringen kannst, dann beginne mit einem ganz kleinen. Entscheidend ist die Bereitschaft, etwas Neues zu erleben – auch wenn darin noch nicht das Allheilmittel für all deine Probleme liegt oder und es sich vielleicht sogar erst mal unangenehm anfühlt. Denn jeder kleine Schritt kann dir dabei helfen herauszufinden, welche neue Routine für dich funktionieren könnte. Dran und offen bleiben ist die Devise. So lassen sich innere Spannungen abbauen und es geht vorwärts, anstatt dass du auf der Stelle trittst und immer mehr in dich zusammensackst.
Leben bedeutet Veränderungen
Das ist das Faszinierende: Einerseits kann uns eine Routine erst in eine Sackgasse hineinmanövrieren – sie kann uns aber genauso auch wieder aus ihr herauslotsen. Schon winzige Veränderungen, etwa in Sachen Schlafhygiene, Sport oder Kreativität, können die Bausteine für neue Routinen sein. Mit der Zeit wirst du merken, welche Säulen dir Stabilität geben und dich durch schwierige Phasen hindurchtragen können.
Gut möglich, dass du ein bisschen Übung brauchst, um zu erkennen, was dich stärkt und was für dich funktioniert. Vor allem kann sich das immer wieder im Leben ändern! Es gilt also, immer wieder erneut und geduldig dazuzulernen.
Der kontinuierliche Kreislauf aus Routine, Alltagstrott und Neuausrichting hilft dir, heraus-zufinden, was dir wichtig ist und woher du die Kraft bekommst, nötige Veränderungen zu meistern. Wenn du nicht verharrst in dem, was ist, wirst du erkennen, dass morgen nicht nur ein neuer Tag ist, sondern auch ein völlig anderer als heute. Ein Tag, in dem so viel Leben steckt, das es zu entdecken gilt, ob nun in der Routine, im Trott oder auf dem holprigen Weg dazwischen.
Die Autorin Madeleine Dore beschäftigt sich auf ihrem Blog “Extraordinary Routines” und in ihrem Podcast “Routines & Ruts” viel mit der Frage, was einen gut strukturierten und sinnvoll verbrachten Tag ausmacht. Zu diesem Thema hat sie auch ihr Buch “I didn’t do the thing today” geschrieben, das allerdings nur auf Englisch erhältlich ist.