Die Bhagavad Gita gehört zu den prominentesten und faszinierendsten Werken der alten indischen Kultur und ist neben dem Yoga-Sutra des Patanjali das wichtigste Buch über die Yoga-Philosophie. Wie dieser Klassiker uns heute dabei helfen kann, unsere Wünsche zu erkennen und uns für ihre Erfüllung einzusetzen, darüber sprach YOGA JOURNAL mit dem indischen Yogameister R. Sriram.
YOGA JOURNAL: Sriram, Dein neues Buch heißt: „Wünsche dir alles, erwarte nichts und werde reich beschenkt.“ Das klingt fast wie ein Griff in die Wundertüte. Welches Konzept verbirgt sich dahinter?
R. SRIRAM: Ein Grundkonzept der Yoga-Philosophie in Patanjalis Yoga-Sutra ist Ishvara Pranidhana (1.23). Es bedeutet, dass eine Macht existiert, die uns umgibt, dass unser Tun geschützt ist und wir aufgehoben sind in einem größeren Plan. Für unser Handeln bedeutet dies: Wir tun die Dinge, ohne dabei etwas für uns selbst zu erwarten. Es geht um das selbstlose Tun. Jeder kennt es: Wenn ich spontan einem alten Menschen über die Straße helfe, knüpfe ich daran keine Erwartung. Doch mit fast allem, was wir im Alltag tun, sind Erwartungen verbunden. Und genau da beginnt das Problem. Wir wollen den Partner, die Kinder so haben, wie wir uns das vorstellen. Und sind enttäuscht, wenn wir „hineininvestieren“ und hinterher zu wenig zurückbekommen. Das ist die Falle – deshalb werden wir so verwickelt in alles, was wir tun. Darum sind wir verärgert – oder enttäuscht oder eifersüchtig oder deprimiert oder zornig. Die Grundlehre der Bhagavad Gita besagt, dass der Mensch lernt, Taten, also Karma, auszuführen, ohne Erwartungen daran zu knüpfen. Das ist Yoga.
Erwartungen nein, Wünsche ja?
Erwartungen binden uns und machen uns unfrei. Das Wünschen hingegen ist eng verknüpft mit Kreativität, mit dem Tun – du musst aktiv werden, um deinen Wunsch zu erfüllen, und zwar mit Selbstvertrauen – du musst an dich und deinen Wunsch glauben und offen sein für das Glück.
Wie kann uns die indische Philosophie bei der Verwirklichung unserer Wünsche helfen?
Durch Anschauung, Überlegung und Eigeninitiative. Aus der Bhagavad Gita habe ich einige Slokas, also Textstellen, übersetzt und interpretiert, die das Thema „Wünsche“ beleuchten. Die indische Philosophie habe ich mit Erfahrungen aus meinem persönlichen Leben und meiner Arbeit als Yogalehrer verknüpft und untermale sie mit Fallbeispielen für bestimmte Wunschsituationen. Um die Ideen der Bhagavad Gita zu verwirklichen, bedarf es jedoch nicht nur der Inspiration durch die zitierten Textstellen, sondern auch praktischer Meditationsübungen, um in die eigene Erfahrung einzutauchen – sie geben uns Abstand zur eigenen Denkweise.
Die von dir beschriebenen Meditationsformen sind direkt anzuwendende, praktische Übungen. Welche Rolle spielt das Yoga-Sutra für die Meditation?
Im Gegensatz zum Yoga-Sutra entfalten sich die Lehren der Bhagavad Gita vor dem Hintergrund einer alltäglichen Situation. Dadurch bekommen die Anweisungen etwas äußerst Lebenspraktisches: Wir stehen vor einem Konflikt und wissen nicht, ob wir hineingehen oder ihm lieber ausweichen und ihn ignorieren sollen. In dieser Situation lehrt Krishna, der göttliche Meister, seinen Schüler Arjuna, dass er den Konflikt zwar annehmen, ihn aber auf eine yogische Weise annehmen und austra- gen soll. In der Bhagavad Gita geht es also vordergründig darum, wie Konflikte im Alltag gelöst werden können – wie man Streitigkeiten mit dem Partner, den Kindern, Kollegen oder dem Chef besser und auf yogische Weise bewältigen kann. Alles, was wir über den Weg in den Yoga-Sutren lernen können, wird vor dem praxisbezogenen Hintergrund der Bhaghavad Gita abgebildet. Insofern ist die Bhagavad Gita ein lebendiger Text, allerdings als philosophisches Werk keine so ausgeklügelte Studie über den Geist wie das Yoga-Sutra. Das Yoga- Sutra ist das komplexere System, in dem es um den persönlichen Befreiungsweg eines Menschen geht – um sein Dilemma, wie er zu mehr innerer Läuterung kommen kann.
Was hat das alles mit dem Thema „Wünsche“ zu tun?
Wenn wir Yoga machen, dann möchten wir fitter werden, frei von Schmerzen, ruhiger, freier und glücklicher. Das alles sind Wünsche. Alle Menschen haben Wünsche. Und sie sind wichtig, denn sie treiben uns im Leben an. Das Problem, das die Bhagavad Gita und das Yoga-Sutra ansprechen, sind nicht die Wünsche. Es geht darum, Raga, die Gier, abzubauen.
Worin besteht der Unterschied zwischen Wunsch und Gier?
Der reine Wunsch ist frei von Erwartungen, die Gier aber ist ganz unmittelbar an Erwartungen geknüpft. Das führt oft zu großen Missverständnissen. Wir dürfen nicht wunschlos sein, das Wünschen ist sogar notwendig für unser Leben. Wir können es uns nicht leisten, unsere Wünsche zu verbannen. Die Lösung ist, zu lernen, Wünsche zu haben, uns für sie einzusetzen und für das, was wir uns gewünscht haben, Verantwortung zu tragen. Und wir müssen darauf vertrauen, dass die Wünsche erfüllt werden. Gleichzeitig müssen wir uns von jeder Erwartung frei machen. Wünsche dir etwas, setze dich dafür ein, trage Verantwortung für das, was du dir wünschst, und vertraue dir, dass du das kannst. Und dann lass los. Lass die Erwartung los, dass der Wunsch auf eine ganz bestimmte Weise in Erfüllung gehen muss. Das sind die fünf Schritte, die ich in dem Buch in einzelnen Kapiteln und mit einzelnen meditativen Übungen beschreibe.
Wenn wir das jetzt einmal praktisch durchdeklinieren, wie sähen diese fünf Schritte aus, wenn ich mir zum Beispiel einen neuen Job suchen will?
Ich muss mich weiterbilden, vorbereiten, Bewerbungsunterlagen versenden, mein Selbstbewusstsein stärken, damit ich im Bewerbungsgespräch gut ankomme. Ich muss bereit sein, Verantwortung zu tragen. Meinem Gegenüber zeige ich, wie gut ich mich auf die neue Aufgabe vorbereitet habe, so dass er erkennt, dass ich ein verantwortungsbewusster Mitarbeiter werden kann. Doch im Bewerbungsgespräch selbst sitze ich nicht mit der Erwartung, dass ich den Job unbedingt bekommen muss. Denn dann würde ich mich verkrampfen. In der Situation lasse ich eher los, so dass mein Gegenüber das Gefühl gewinnt: Diesen Bewerber will ich haben.
Widerspricht das nicht der Gewohnheit, die wir im Westen pflegen: Uns so toll wie möglich zu präsentieren und zu zeigen, dass wir etwas haben wollen?
Das ist kein Widerspruch. Man soll sich sehr gut vorbereiten und präsentieren, außerdem Selbstbewusstsein zeigen und vermitteln dass man die Fähigkeit besitzt, Verantwortung zu tragen. Aber dabei muss man gelassen sein. Erst diese Losgelöstheit gibt einem die Ausstrahlung, dass man für den Job geeignet ist. Nur so kann man in seinem Gegenüber das Gefühl erwecken, dass er etwas versäumt, wenn er einen nicht einstellt.
Bezieht sich die Aussage, dass man, nachdem man sich von Erwartungen gelöst hat, reich beschenkt wird, darauf, dass man alles als Geschenk betrachten kann, wenn man es nicht erwartet hat?
Es ist nicht nur das. Man lernt zum einen, alles, was man bekommt, als Geschenk zu empfangen. Zudem lernt man Gelassenheit. Die Idee der Bhagavad Gita ist, dass die höchste Form des Karma-Yoga Vairagya ist: Gelassenheit, Nicht-Anhaften. Man lernt jedoch Gelassenheit nicht, indem man sagt: „Ich gebe das Fleischessen auf, das Rauchen, das Trinken usw.“ Man lernt sie dadurch, dass man von der Erwartungshaltung zurücktrittt. Alleine dadurch, dass man zunächst einmal diese Haltung lernt, wird man reich beschenkt. Zum anderen wird man beschenkt, weil man durch diese Gelassenheit empfangsbereit wird und so bewirkt, dass Wünsche in Erfüllung gehen.
Was ist mit Ehrgeiz – im Sinne von „zielstrebig einen Wunsch verfolgen“ – gemeint?
Was wir „Ziel“ nennen, ist etwas, das in der Zukunft liegt. Im Yoga, genau wie im Buddhismus, ist Achtsamkeit, also im Augenblick zu sein, die höchste Tugend. Sich auf ein Ziel zu fixieren, entfernt uns immer von der Gegenwart. Die Frage ist also: Wie können wir zielorientiert sein und dennoch in der Gegenwart? Die Bhagavad Gita sagt uns: Es ist sehr wichtig, ein klares Ziel zu haben. Aber wir haben kein Recht darauf, dieses Ziel zu erreichen. Wir haben nur die Pflicht, das, was wir im Augenblick tun, mit voller Hingabe und Kompetenz zu tun. Wenn wir ein klares Ziel haben und im Augenblick mit voller Kompetenz handeln, sollten wir davon ausgehen können, dass das Ziel für uns näher rückt. Und es kann sogar sein, dass man, während man mit großer Kompetenz und Wachsamkeit im Jetzt handelt, das Ziel immer wieder neu definiert. Ziele sind nichts Statisches.
Schlagen wir den Bogen zur Meditation. Du beschreibst Übungen, um den Atem zu beobachten. Was bedeutet der Atem für uns?
In unserer modernen Welt gibt es immer diesen Streit zwischen Kopf und Bauch. Herz und Bauch sind wichtige Meditationszentren im Körper. Die Meditationsübungen führen dahin, dass wir mehr und mehr lernen, dem Herzen zu folgen, um den Streit zwischen Kopf und Bauch in dem Sinne besser zu lösen: Wie bringen wir den Kopf ins Herz hinein? Der Atem ist ein Mittel dazu, aber auch die Beobachtung, das Beruhigen der Sinne. Die Übungen sind bewusst einfach gehalten; jeder, der sich für das Thema interessiert, kann damit üben, wie er sich der Verwirklichung seiner Wünsche nähern kann.
Wie sähe der Meditationsweg für Menschen aus, die auf dem Yoga-Weg bereits weiter sind?
Normalerweise übt man im Yoga Pranayama. Durch das Üben bekommen wir ein Gefühl dafür, für eine Weile still in einer Position zu sein. Und wir beginnen, Stille zu erfahren. In unserem Körper. In unserem Geist.
Was passiert, wenn der Geist schweigt und im Herzen ruht?
Die Worte, die der Geist bislang sprach, gingen nicht durch das Herz. All das, was der Geist jetzt flüstern mag, kommt durch das Herz. Es spricht sozusagen die Herzensstimme. Man hört die eigene innere Stimme. Und darum geht es im Yoga.
Wenn der Geist ruhig geworden ist, wer empfängt dann diese Stimme?
Im Yoga nennen wir dies den göttlichen Funken in uns Purusha. Wir können auch Seele sagen. Der Geist selbst empfängt nur die Erfahrung der Stille. Die Stimme, die erklingt, dieser innere Ton, wird von der Seele zur Kenntnis genommen. Das bedeutet, dass wir eine tiefe Antwort nur aus dieser absoluten Stille heraus erfahren. Eine Antwort, die aus der Stille kommt, aus dem Herzen, kann nie eine taktische Antwort sein. In diesem Zustand, wenn der Geist ganz ruhig ist und im Herzen weilt, vernehmen wir Antworten, die weder aus unserem Wissensschatz noch aus unserer klugen Überlegung heraus entstehen. Es ist nicht mehr Wissen, dass wir empfangen, sondern tiefe Gewissheit.
Ist diese Stille Samadhi?
Sie ist ein Moment von Samadhi. Erst, wenn er nachhaltiger ist, sprechen wir vom Samadhi-Zustand.
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R. Sriram wurde 1954 in Chennai geboren und ist Schüler von T. K. V. Desikachar. Mit 23 Jahren begann er, intensiv Yoga zu praktizieren. Er unterrichtete mehrere Jahre am renommierten Yoga-Institut KYM in Chennai, ehe er mit seiner Familie nach Deutschland zog. Hier gehört Sriram zu den Wegbereitern der Desikachar-Linie. Er hält Vorträge und Seminare im In- und Ausland und unterrichtet Ausbildungsgruppen in München, Berlin, Frankfurt, im Odenwald und immer wieder in seiner Heimat Indien. Srirams Buch „Wünsche dir alles, erwarte nichts und werde reich beschenkt: Indische Philosophie für ein erfülltes Leben“ ist im Februar 2012 im GU-Verlag erschienen.