“You carry your issues in the tissues” – Tränen im Yoga

Bist du beim Yoga schon mal in Tränen ausgebrochen? Du bist nicht allein! Hier erfährst du, wie Yogalehre und moderne Wissenschaft solche emotionalen Reaktionen erklären – und warum sie sogar heilsam sein können.

Text: Carrie Havranek / Fotos: Yan Krukau, Pexels.com

Wann ich das erste Mal im Yoga geweint habe? Ich weiß es nicht mehr. Es ist einfach so häufig passiert, dass es fast schon ein normaler Teil meiner Praxis zu sein scheint. Manchmal fühlt sich mein Körper an, als sei er aus Zement, mein Atem fließt nicht richtig und keine Übung ist so, wie ich mir das wünsche. Dann schmecken meine Tränen nach Frustration. Es gibt auch Tränen, mit denen sich etwas zu lösen scheint, besonders wenn ich Hüftöffner oder Vorwärtsbeugen übe. Wenn ich dagegen im Yin Yoga oder in dem fast hypnotischen Zustand in Yoga Nidra weine, habe ich keine Ahnung, warum. Ganz häufig erlebe ich das auch in Shavasana. Und manchmal geschieht es, wenn ganz bestimmte Elemente zusammenkommen und tief in mir etwas zum Schwingen bringen: die Übung, die Stimmung in der Stunde, die Musik, die Worte meiner Lehrerin…

Was ist da los?

“You carry your issues in your tissues”, ist bei uns in den USA ein beliebter Spruch in der Yoga Community: “Du trägst deine Themen in deinen Geweben.” Demnach sammeln wir die mentalen und emotionalen Anspannungen, die wir im Alltag unweigerlich erleben, in unserem Körper an – auf unbestimmte Zeit. Wenn wir dann regelmäßig Yoga üben, bewusst unseren Atem verlangsamen und uns mit den Bewegungen unseres Körpers verbinden, dann verstummt das im Alltag oft vorherrschende sympathische Nervensystem (bekannt für die Kampf-, Flucht- oder Starre-Reaktion) und das auf Ruhe, Verdauung und Regeneration abzielende parasympathische Nervensystem übernimmt das Ruder. In diesem entspannteren Zustand, so die Theorie, können sich die in den Geweben gespeicherten physischen und psychischen Spannungen lösen. Und weil Körper und Geist während oder nach der Praxis auf die uns allen bekannte, wundervolle Weise zugleich gelöst und sehr achtsam sind, beginnen wir auch, diese Emotionen auf subtile Weise wahrzunehmen.

Das hört sich vielleicht erst mal nach Eso-Wischiwaschi an, aber die Vorstellung, dass der Körper Emotionen speichert, findet man durchaus auch in der modernen Psychologie. Der Psychiater und Traumaforscher Bessel van der Kolk arbeitet seit 30 Jahren an der Schnittstelle von Neurowissenschaften und klinischer Therapie. Er vertritt die Auffassung, dass das Zusammenspiel von mentaler, physischer und emotionaler Bearbeitung von Traumata ungemein komplex und vielschichtig ist. So konnte er immer wieder beobachten, dass unterdrückte Gefühle sich irgendwann in körperlichen Symptomen zeigen. Vor diesem Hintergrund begann er, neue Behandlungsmethoden für posttraumatische Belastungsstörungen zu erforschen, darunter achtsame Bewegungsformen wie Yoga und bestimmte Arten von Sport.

Natürlich beruhen nicht all unsere Tränen im Yoga auf akuten oder verschütteten Traumata. Dennoch eröffnen van der Kolks Forschungen einen völlig neuen Blick auf die Wechselwirkungen zwischen Gefühlen und dem Körper: Bestimmte Formen von Bewegung – wie Yoga – können demnach tatsächlich unterdrückte Gefühle zum Vorschein bringen und im besten Fall auflösen.

„Meine Matte ist eine Insel, auf der ich die Herausforderungen des Lebens bearbeiten kann.“

Die Rolle des Atems

Wie diese emotionalen Reaktionen insbesondere durch Yoga genau ausgelöst werden, ist bisher nicht geklärt. Dennoch deuten sowohl Forschungen als auch individuelle Erfahrungen darauf hin, dass dabei der Atem eine zentrale Rolle spielt. Max Strom hat Tausende von Menschen in seinen Yoga-Workshops und -Stunden erlebt und seine Arbeit seit langer Zeit der heilenden Wirkung des Atems verschrieben. Aus diesem Erfahrungsschatz heraus sagt er: “Ich bin mir ganz sicher, dass Atemmuster das Zugangstor sind. Sie führen uns hinter den schützenden Panzer, den wir uns über die Jahre angelegt haben. Deswegen ist der Atem das wichtigste Werkzeug für emotionale Heilung.”

Auch hier weiß die Forschung noch nicht so genau, wie Atem und Psyche zusammenwirken und wo exakt im Gehirn und im Körper da was passiert, aber eines wissen wir mit Sicherheit: Das Nervensystem ist überall im Körper präsent – und das Nervensystem macht Gefühle spürbar. Außerdem ist sehr gut erforscht, wie insbesondere eine verlängerte Ausatmung den Parasympathikus anregt, was uns dann in die Ruhe und Entspannung führt. In der Kombination aus langsamem Atem und rhythmischen, achtsamen Bewegungen, wie wir sie im Yoga lernen, kommt dann beides zusammen. “Weinen ist überhaupt kein Problem, das wir beheben müssten”, betont Max Strom, “dass wir manchmal weinen, ist ganz einfach ein Teil unseres genetischen Programms.”

Heilsame Räume

Es gibt sehr viele Gründe, warum dir beim Yoga die Tränen kommen können: Vielleicht sind es angestaute Emotionen. Vielleicht hast du in diesem Moment zum ersten Mal seit Tagen überhaupt Gelegenheit runterzukommen, in dich hineinzuspüren und Gefühle zu verarbeiten. Oder du bist einfach nur dankbar und gerührt für diese Erfahrung, diesen Moment. Es kann auch sein, dass die Bewegung die Ausschüttung bestimmter Hormone anregt, die wiederum die Emotionen beeinflussen. Aber womöglich ist das Warum gar nicht so entscheidend und viel drängender ist die Frage: Wie gehen wir damit um?

Als Yogalehrende können wir nicht wissen, was in diesem Moment die Tränen unserer Teilnehmer*innen hervorruft. Wir müssen es auch nicht wissen. Aber wir müssen auf eine heilsame Weise damit umgehen können. Ein wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang ist trauma informed yoga, zu deutsch trauma-sensitives oder trauma-sensibles Yoga. Das beginnt damit, die Situation des Menschen, der da weinen muss, nicht “reparieren” zu wollen. Max Strom rät in seinen Ausbildungen dazu, sich erst mal ein paar Minuten lang zurückzuhalten, bevor man Hilfe oder auch nur ein Taschentuch anbietet: “Geht man zu schnell auf jemanden zu, dann kann es passieren, dass er oder sie zurückweicht und das, was da hochgekommen ist, wieder wegdrückt.”

Die Yogalehrerin und Sozialarbeiterin Melissa Renzi zieht es vor, überhaupt nicht direkt auf ihre Schüler*innen zuzugehen, wenn sie weinen: “Ich verwende lieber eine unterstützende Sprache und betone, dass alle Emotionen und Erfahrungen im Yoga willkommen sind. Außerdem geht es in meinen Stunden sehr viel darum, dass man Pausen machen darf, sich auf seine eigene Art bewegen, hinsetzen oder anlehnen kann, um einen physischen Ankerpunkt zu haben.” All das kann dazu dienen, wieder bewusst ins Hier und Jetzt zu kommen und sich sicher zu fühlen.

Allerdings ist “Sicherheit” in diesem Zusammenhang relativ: “Sich verletzlich zu zeigen, ist für bestimmte Menschen tatsächlich nicht gefahrlos”, betont Tamika Caston-Miller. Die Yogalehrerin und Historikerin spricht für alle, die aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft, sexuellen Orientierung oder auch wegen körperlichen Einschränkungen Diskriminierung ausgesetzt sind: “Ihre besondere Verletzbarkeit hat ihnen oft sehr viel Leid eingebracht. Solche Menschen dazu aufzufordern, ihre Schutzschilde abzulegen, setzt eine Menge Vertrauen voraus.” Das braucht Zeit und es hängt nicht nur vom Unterricht ab. Vielmehr gilt es, Gemeinschaften aufzubauen, in denen alle daran mitwirken, dass man sich gegenseitig wirklich respektiert und sich willkommen fühlen kann, so, wie man ist.

Was tun, wenn es geschieht?

Aber auch angenommen, meine Yogaklasse gibt mir dieses Gefühl von umfassendem Respekt und Akzeptanz: Meinen Tränen freien Lauf zu lassen, ist dennoch nicht gerade einfach. Dabei hilft es, sich bewusst zu machen: Es ist völlig normal – und überhaupt kein Grund für Scham! Todd Norian unterrichtet einen im Tantra wurzelnden und auf das Herz zentrierten Yogastil. Er weiß: “Schon eine kleine Veränderung in der Ausrichtung einer Haltung kann innerlich manchmal eine komplette Wende sein: Deine Energie beginnt mit einem Mal zu fließen!” Im Umgang mit den eigenen Tränen empfiehlt er die “drei C’s”: curiosity, compassion, courage, also Neugier, Mitgefühl und Mut:

-> Sei neugierig: Beobachte alle Gefühle, die du erlebst. Es ist nicht nötig zu verstehen, warum du weinst oder auf eine bestimmte Art empfindest. Nimm es einfach wahr und interessiere dich dafür.

-> Sei mitfühlend: Gib deinen Gefühlen Raum und versuche nicht, ihnen Widerstand zu leisten. Keine Bewertung! Das hilft dir, die Verarbeitung von Emotionen zu etwas ganz Normalem, Natürlichen werden zu lassen.

-> Sei mutig: Verletzlichkeit ist ein Akt des Mutes und es ist nicht nur okay, sich selbst diese Ehrlichkeit im Umgang mit den eigenen Gefühlen zuzugestehen, es ist sogar essenziell. Während der Yogastunde herzhaft zu weinen, ist vielleicht genau das, was du jetzt gerade brauchst, um eine Menge angestauter Spannung und Frustration zu lösen. Es kann solchen Gefühlen ihre Schwere nehmen.

Was mich selbst betrifft, so bin ich mir sicher: Hätte ich in meiner Praxis nicht gelernt, wie ich Schmerz durch meinen Körper hindurch bewegen kann, dann hätte er sich irgendwo festgesetzt und mich krank gemacht. Meine Matte ist für mich eine Insel, wo ich die Herausforderungen des Lebens bearbeiten kann – ob ich nun dabei weine oder nicht. Manchmal verändert das alles – auch wenn ich nicht recht begreife, warum und wie. Aber meistens fühle ich mich danach besser. Und ganz egal, wie viel die Wissenschaft nun erklären oder nicht erklären kann, ich glaube, Max Strom hat recht: “Das Ziel von Yoga ist nicht, sich kunstvoll zu verknoten. Wir sind auch so schon ganz schön verknotet. Es geht ganz allein darum, die Knoten in unseren Herzen wieder zu lösen.

Yoga ist keine Therapie

Wenn schwierige Emotionen anhalten, dann braucht es oft die Begleitung eines Therapeuten oder einer Therapeutin. Yogalehrende sind dafür weder ausgebildet noch dürfen sie therapeutisch arbeiten, ganz egal wie mitfühlend oder weise sie sein mögen. Die Rolle von Yoga besteht nicht im Bereitstellen von Lösungen, sondern eher darin, dich überhaupt in den Kontakt zu dir selbst zu bringen und dir bewusst zu machen, welche Themen weiter bearbeitet werden sollten.


Carrie Havranek ist Journalistin, Yogaübende und Reiki-Meisterin. Sie lebt in Pennsylvania an der US-amerikanischen Ostküste.

Übrigens: In Yoga Journal Heft 3/21 haben wir uns schon einmal und sehr viel ausführlicher mit Yoga und Gefühlen beschäftigt. Falls du das Heft nicht mehr hast, kannst du es in unserem Shop nachbestellen oder als Online-Ausgabe lesen: yogaworld.de/shop

Einen kleinen Ausschnitt aus dem damaligen Dossier findest du hier:

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