Die unfreie Radikale – Christa Ritter im Interview

Autorin, Intellektuelle, Piratenpartei-Kandidatin, „Haremsdame“ – das „Ich“ hinter ihrer schillernden Lebensfassade konnte Christa Ritter lange nicht spüren. Ein Gespräch über weibliches und männliches Ego, den Geist von 1968, das Internet und Rainer Langhans, den sie einen „Mann der Zukunft“ nennt.

Dieses Interview wird einfach und schwierig zugleich, ahne ich. Es ist nicht mein erstes mit Christa Ritter, wir sind auf Facebook verbunden und verfolgen dort gegenseitig unsere Alltagsfreuden, unsere Sinnsuche und unsere zeitweilige Verzweiflung darüber. Einfach wird es wegen ihres erfrischenden Charmes und ihrer seltenen Offenheit, die mir als Journalistin das sichere Gefühl gibt: Material bekomme ich genug. Schwierig allerdings, weil mir manche ihrer Ansichten sauer aufstoßen, mir ein ständiges „Aber“ auf der Zunge liegt, ich aber gleichzeitig fasziniert bin. Doch beginnen wir von vorn: Fotografin Stefanie und ich holen Christa zu Hause ab, um mit ihr in den nahegelegenen Münchner Luitpoldpark zu gehen. Ihre Yogaübungen habe sie hinter sich, lässt sie uns wissen, nun wolle sie noch schnell etwas Lippenstift auflegen, für die Fotos. Auch über ihre Falten macht sie sich Sorgen. Schon sind wir mittendrin im Thema…

Eitelkeit, Selbstliebe, Narzissmus, Ego – wo liegen da für dich die Grenzen für dich?

Ehrlich gesagt sind das für mich Begriffe aus der alten Welt, mit der es ’68 zum Bruch kam und die wir langsam verlassen. Für mich deuten sie nicht auf Neurosen hin, die man therapieren sollte. Sie könnten eher Zeichen des Ausstiegs sein, eine Folge dieses rätselhaften Aufbruchs von ’68. Ich fühlte mich schon davor irgendwie gestört, ein bisschen verrückt … (überlegt)

Anders als andere?

Ja. Ich habe Anfang der Siebziger sogar mal eine Therapie begonnen, doch ich merkte schon in der ersten Sitzung: Hier soll ich für eine unerfreuliche Gesellschaft passend gemacht werden. Dieses Scheiß-Angebot fand ich nicht verlockend: Ehe und Kleinfamilie hier, Karriere und Geld verdienen dort.

Das ist das, was du unter der „alten Welt“ verstehst? 

Und vieles mehr. Dieses Materialistische, Gewalttätige, der Geschlechterkrieg … Wir haben ja jetzt dieses Jubiläum, 50 Jahre ’68, und ich habe das Gefühl, dass die ganze Welt ein wenig „angsthasig“ drauf ist. Nicht nur die Rechten. Als würden die Leute spüren, dass wir nun tatsächlich in eine „neue Welt“ gehen, repräsentiert durch die „Krake“ Internet. Ich habe ja diesen Mann an meiner Seite

… Rainer Langhans … 

Genau. Diesen Mann, der immer voraus lebte und im Internet noch viel mehr als ich ein Tool sieht, wie wir uns aus dieser grausamen „alten Welt“ befreien können. Ich selbst fremdle noch, bin im Netz noch nicht so beheimatet. Dafür nutzt du es aber durchaus rege. In deinen Posts bist du sehr offen. Das bietet sich an. Du kennst sicher den Spruch „Das Private ist politisch.“ Der wurde auch stark von der Frauenbewegung aufgegriffen, welcher ich mich damals verbunden fühlte. Blöderweise meinten wir nur die Männer: Die waren schuld, sollten sich ändern. Weil es uns Frauen noch gar nicht gab, Carmen! Ich behaupte heute als eine, die sich seit mindestens 50 Jahren selbst sucht: Frauen haben noch kein Ego.

Immer noch nicht? 

Nein. Selbst ich nicht. Lange war mir nicht bewusst, dass ich frauenbewegt in einer Sackgasse gelandet war. Ohne klassische Familie war ich vor allem beruflich unterwegs, habe mich dabei notgedrungen an den Richtlinien der Männer orientiert. Durchaus mit Protest, ich wurde eine ewige Neinsagerin, unfähig, ein weiblich autonomes Ego zu entwickeln. Mir scheint, auch den Männern wollten wir das ihre brechen. Ein Fehler!

Inwiefern? 

Weil das männliche Ego auch bedeutet, fantastisch zu forschen, revolutionär zu sein. Warum nutzten wir ihre Begeisterung nicht für unseren Weg? Nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stark! Wobei ich von der direkten politischen Praxis nicht so viel mitbekommen habe, ich lebte ja nicht in den politischen Zentren wie Frankfurt und Berlin, sondern in Düsseldorf, arbeitete noch dazu in der Werbung – quasi dem Inbegriff des kapitalistischen Materialismus. Ich hatte meine speziellen Macken durch mein Elternhaus.

Das sehr bürgerlich war. 

Ja. Wobei ich erst im Nachhinein sehe, wie liberal meine Eltern auch waren. Sie haben zum Beispiel jüdischen Freunden in die Emigration verholfen, ein Ehepaar eine Zeit lang bei uns versteckt. Hinter der aufgeklärt bürgerlichen Fassade hatte aber auch sie der Nazi-Bazillus befallen. Durch diese Verdrängung war ich schon in meiner Kindheit verunsichert, nahm überall Lügen wahr, bin oft angeeckt.

Wie muss ich mir das vorstellen? 

Zum Beispiel schrieb ich etwa mit 14 in einem Aufsatz über mein Karnevals-Erlebnis, dass ich meinen Freund geküsst hätte. Zwei Sätze! Meine Klassenlehrerin war außer sich vor Entsetzen, hat einen Elternabend einberufen und meine Mutter vor allen anderen zur Minna gemacht!

Heute kaum noch vorstellbar.

Da siehst du mal, wie viel sich schon geändert hat. Anfangs dachte ich naiv, es geht so wundervoll mit „Make Love Not War“ weiter. Da war dieses fantastische Gefühl: Wir erobern uns selbst. Für einen kurzen Moment stimmte das auch. Ich fühlte mich androgyn, nicht mehr verklemmt, heute würdest du das post-gender nennen. Alle sind Freunde, alle teilen alles. Ich glaube, das meint Rainer, wenn er das Internet so hypt: Dass wir uns alle als große zärtliche Bruder- und Schwesternschaft erleben. Eine weltweite Community der Freunde.

Sich der Welt dort zu öffnen, kann aber auch gefährlich sein.

Ungewohnt eben. Aber so lernst du dich kennen. Wenn du etwas postest, bist du privat, gleichzeitig ist das Politik – unsere 68er-Utopie! Du vertraust und traust dich sogar, dort endlich auch deine sonst versteckten fiesen Seiten rauszuschleudern. Und indem du dazu stehst, es anschaust, dich verbesserst, baust du dir nach und nach ein komplexes Selbstbild. Du wirst, wer du bist durch eine ständige Praxis der Selbstermächtigung. Aber natürlich verlieren wir auch viel Vertrautes und das macht Angst. Die Welt wird sich total verändern, wir wissen letztlich noch nicht, wohin es geht.

Offenheit kann auch schützen, oder?

Niemand sucht mehr nach wunden Punkten, wenn du dich verletzbar zeigst. Ja, die Leute im Netz honorieren es, wenn ich meine Macken teile. Das bringt uns einander näher. Aber du entfachst eben häufig auch einen Shitstorm.

Man könne andere nur lieben, wenn man sich selbst liebt – glaubst du das? 

Absolut! In mir gibt es eine tiefe Scheu, mein inneres Unbekanntes anzugucken. Ich bin erst mal extrovertiert, springe nach draußen, bin nicht gerade spirituell. Vielleicht ist es auch eine Bequemlichkeit, dass ich meine Verantwortung häufig noch an die Männer delegiere. Das hat mir übrigens in der #MeToo-Debatte gefehlt: der Part der Frauen. Dabei ging es doch um den klassischen Deal: Die Frau macht sich schön, bietet Sex, der Mann gibt ihr einen Job, Bedeutung und Geld. Die alte Eva hat wie wir damals nur protestiert: Der Mann ist schuld! Sie bietet sich an, um einen Job zu bekommen, ist aber empört, wenn
es um das Bezahlen geht. Verrückt, dass Frauen noch immer keine Täterinnen sind. Auch heute noch will die Frau also keinen Ausstieg aus dem alten Deal, sie will nur ihre Gage erhöhen.

Puh, problematischer Ansatz. Dass ich mich hübsch mache, gibt doch niemandem das Recht, mich gegen meinen Willen anzufassen.

Auch eine Frau kann Nein sagen.

Was angesichts gewisser Machtstrukturen nicht immer so einfach ist.

Aber Frauen registrieren ihren Anteil an dem Spiel nicht. Männer setzen sich dem Geschäft aus: Was gebe ich dir, wo hört es für mich auf? Im Zweifel verlasse ich den Deal, schlage meine Variante vor, bin selbstbewusste Täterin.

Oft ist aber auch psychische Manipulation im Spiel.

Die Frauen als geübte Opfer mindestens genauso gut drauf haben! Wir spielen aus dem Hinterhalt mit, stellen uns nicht dem Wettkampf, gehen kein Risiko ein. Es stimmt, dass im Film kaum spannende Frauenrollen auftauchen. Das wird sich erst ändern, wenn wir uns ändern. Selbst kreativ werden. Und damit auch riskieren, abgelehnt zu werden. Wieder und wieder. Das machen Männer ja auch. Solange wir nur für unseren schönen Körper geliebt werden wollen, erleben wir uns nicht in unserer Fülle, also grundtief, nie existenziell.

Ich persönlich denke nicht in diesen pauschalisierenden Mann-Frau-Stereotypen und finde #MeToo wahnsinnig wichtig. Aber ich ahne vielleicht, was du meinst. Wir beide sind zum Beispiel geschminkt. Warum machen wir das?

Darin zeigt sich meine Unsicherheit, mein mangelndes Ego. Das alte Muster: Die Frau ist für die Schönheit zuständig, der Mann für alles andere.

Hier sitzt allerdings gerade kein Mann. 

Trotzdem ist das tief in uns verankert. Es ist nicht leicht, sich aus der Mater zu lösen, die unsere alte Welt bestimmt. Inzwischen beschweren sich ja manche, dass Frauen mit zunehmendem Alter unsichtbar werden. Ja, weil sie nicht aus der Körperfixierung aussteigen! Erlebe ich alles mit mir und meinen „Haremsfrauen“. Die Fixierung auf die Jungen macht es uns besonders schwer, nun auch unser Alter neugierig zu entdecken.

Auch immer mehr Männer machen sich heutzutage Gedanken um ihre Optik, oder?

Ich finde auch, Männer haben sich seit ’68 verändert. Mehr als wir Frauen. Es gibt auch viel mehr männliche Narzissten als weibliche, scheint mir. Und was macht der Narzisst letztlich? Er fragt: Wer bin ich? Mit seiner „Störung“ zeigt er sich selbst und sucht eine Alternative. Wie die „Autisten“.

Autismus ist eine Entwicklungsstörung. 

So deutet man das gern. Aber Egoisten, Narzissten, Autisten, alle mit sozialen Störungen bewegen sich in etwas Unbekanntes hinein, in diese neue Welt des Virtuelleren, das Internet. Du kannst auch Aliens sagen, Sucher neuer Welten. Vor ’68 war eine große Leere in mir, die ich füllen wollte. Diese Lücke schließt bei Frauen oft ein Mann. Bei mir nicht, ich
war nicht verheiratet, also blieb sie.

Aliens gefällt mir besser. Hat Rainer denn besagte Lücke gefüllt?

Ein bisschen schon.

Also doch wieder ein Mann. 

Ja, ihm gelang nie diese Rolle des alten Adams, er war ja selbst immer Autist. Daher sieht er Frauen anders, irgendwie utopischer. Das ist sehr hilfreich für mich. Als ich Filme machen wollte, half er mir rund um die Uhr. Schließlich haben wir sogar den Grimme-Preis bekommen, alle applaudierten: „Wie toll!“ Verrückt war, dass ich den Preis nicht spürte, weil ich mich nicht als autonome Filmemacherin wahrgenommen habe. Das war gar nicht ich, das war also auch nicht mein Preis.

Klingt traurig.

Und wie! Aber ich gebe nicht auf. Seit Kurzem tut sich bei mir was. Manchmal ahne ich für Momente, dass es da in mir etwas gibt, das die eigentliche Christa sein könnte. Ein zartes Bild: Das werde ich. Vielleicht sogar mehr als ein Ego: ein spiritueller Mensch? Du bist größenwahnsinnig, tobt es ganz schnell in mir. Über diesen kleinen Pups freust du dich? Du bist und bleibst nur eine verweigernde Frau, ein Loser. Ein Schritt vor, vier zurück, immer.

An solchen Gefühlen arbeitet ihr im „Harem“ auch, oder? 

Natürlich! Wir sind dabei auch auf die ganze Verachtung gestoßen, die Frauen füreinander hegen, dahinter natürlich auf die Selbstverachtung. Sobald du das erlernte Lächeln, die oberflächliche Harmonie infrage stellst, tut sich der Abgrund auf, die verborgene Seite. Frauen sind untereinander selten gute Freundinnen.

Findest du? Ich denke durchaus, dass ich solche habe.

Tust du auch, aber nur in begrenztem Maße. Um unser Ich zu entdecken, müssen wir uns einen tieferen Blick zutrauen. Experten sagen: Erst wenn du die Krankheit siehst, kannst du sie auch heilen. Aber das ist schwer auszuhalten, dieses Entsetzen über sich selbst.

Wie bleibst du auf deinem Weg geduldig?

Bleibe ich ja nicht. Oft sehe ich nicht, wie fantastisch dieser Umbruch ist, den wir gerade erleben. Auch mein eigener Aufbruch, der bei mir noch dazu von Rainer und den Frauen mitgetragen wird.

Empfindest du es eigentlich so, dass ihr euch Rainer teilt? 

Klar! Und das ist oft ein Riesenproblem, weil ich zwar keine Weibchenfrau bin, aber doch gerne die ganze Aufmerksamkeit bekomme – wie alle Frauen.

Ich nicht. Mit Aufmerksamkeit geht ja auch eine Verantwortung einher … 

Meine früheren Verhältnisse mit Männern waren fast immer offen, ich vermied das alte Eva-Spiel. Da ahnte ich noch nicht, welche Krux darin verborgen liegt. Dass ich mich trotzdem mit Eifersucht, Besitz, Trägheit konfrontieren muss, besonders der Opferrolle, um schließlich zu mir selbst zu kommen.

Du erwähntest andere Männer …

Andere Männer waren nie verboten bei uns im „Harem“. Allerdings haben die es selten lange ausgehalten, sahen sich immer in Konkurrenz zu Rainer. Aussichtslos in ihrer Adam-Rolle!

Insofern seid ihr Frauen im Grunde schon weiter. Ihr empfindet auch Konkurrenz, Neid, Eifersucht, arbeitet aber damit.

Ja. Hoffentlich finde ich durch meine Hölle in etwas Inneres, wie die anderen auch. Schließlich darf ich in einer Zeit leben, in der zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit auch Frauen aufgerufen sind, sich selbst zu ermächtigen. Wird das Internet das nötige Tool dafür sein? Fantastisch, sollte ich mir viel öfter sagen. Voran, alles gut. Der reinste Irrsinn!

Das Aufnahmegerät ist schon ausgeschaltet, wir laufen noch ein Stück gemeinsam durch den Park, sprechen darüber, dass ich bei einem Interview gerne mal gucke, wo es hinläuft, anstatt ständig die Richtung vorzugeben. Christa nickt, erinnert sich an früher, findet einen Vergleich: „Ich habe ja mal Dokumentarfilme gemacht …“ Dann stutzt sie, lächelt. „Wow, jetzt habe ich es tatsächlich gesagt: ICH habe Filme gemacht!“


Jean-Marc TurmesCARMEN SCHNITZER holte 1990 Mamas Indienröcke aus dem Keller, trug sie seitdem oft und gerne. 1993, also 25 Jahre nach ’68, erschien erstmals ein Artikel von ihr außerhalb der Schülerzeitung, in der Coburger Neuen Presse. Thema: Neo-Hippies.

 

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