Jahrzehnte, nachdem Millionen von Frauen im Westen die Praxis für sich entdeckt haben, entwickelt sich Yoga nun in eine Richtung, die auch moderne, sportbegeisterte Männer anspricht.
James Arbona erwartete sich nicht viel von dieser Yogastunde. Der 48-jährige Kameramann aus New York hatte es schon einige Male versucht und nie Feuer gefangen. Blumige Metaphern, fremdartig klingende Gesänge und langsame Dehnübungen sagten dem begeisterten Basketballer und Läufer einfach nicht zu. Doch die Stunde, zu der ihn seine Freundin nun genötigt hatte, war anders: „Yoga for Dudes“ („Yoga für Kerle“). Arbona genoss es, er kam regelmäßig und weil er sich durch Yoga schon bald anders fühlte und die positiven Auswirkungen auch im Basketball spüren konnte, veränderte sich seine Einstellung dazu. Viele Männer haben in letzter Zeit ähnliche Erfahrungen gemacht. Zwar wird Yoga im Westen noch immer hauptsächlich von Frauen praktiziert (in den USA machen sie laut einer aktuellen Erhebung 77 Prozent aus, ältere Zahlen aus Deutschland sprechen sogar von rund 80 Prozent), doch der Anteil der Männer steigt. Studios mit entsprechenden Angeboten berichten, sie hätten bis zu 20-mal mehr männliche Teilnehmer als noch vor einigen Jahren.
Auch die regelmäßigen Marktforschungen der amerikanischen Ausgabe des YOGA JOURNAL ergaben, dass der Anteil der Männer an der Gesamtheit der Übenden in kurzer Zeit um fast fünf Prozent gewachsen ist. Wie erklärt sich dieser Wandel – und vor allem die Tatsache, dass es gerade die sportlichen, maskulinen Typen sind, die in letzter Zeit die Yogastudios stürmen? Bestimmt nicht dadurch, dass Männer neuerdings besonders beweglich und spirituell werden, oder dass sie mehr im Kontakt mit ihrer weiblichen Seite sind – auch wenn diese Qualitäten häufig mit Yoga in Verbindung gebracht werden und noch immer eine Menge Männer abschrecken. Viel eher liegt es daran, dass Yoga Männer endlich da abholt, wo sie stehen – sei es nun in speziellen Männerkursen oder durch eine andere Ansprache. „Männer sollten nicht gegen ihre Stärken arbeiten müssen“, erklärt Nikki Costello, die Lehrerin von James Arbona, die die wegweisenden „Yoga for Dudes“-Kurse im Kula Yoga Project in Manhattan entwickelt hat. „Wenn man die Männer sieht, wirklich so sieht, wie sie sind, dann müssen sie sich auch nicht dazu überwinden, Yoga anzunehmen.“
Historikern zufolge hat sich Yoga im Laufe der Jahrhunderte immer wieder an ein wechselndes Publikum angepasst. Was wir heute üben, lässt sich in weiten Teilen auf die Erziehung junger Inder vor etwa 75 Jahren zurückführen. Das Ziel von Yoga war damals, die Körper der Jungen zu kräftigen und ihre Konzentration zu fördern. Auch die westliche Körperkultur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielte eine wichtige Rolle. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts geschah dann etwas eigentlich sehr Erstaunliches: Die Frauen eroberten das traditionell Männern vorbehaltene Yoga für sich – und sie taten es so gründlich, dass Yoga im Westen zu etwas wurde, das unserem Männerbild sogar ziemlich zuwiderläuft.
Seit einigen Jahren gibt es nun eine Gegenbewegung. Einzelne Studiobesitzer und Yogalehrer wie Nikki Costello haben die Gelegenheit wahrgenommen, auch Männer an die Praxis heranzuführen, die dem Image von Yoga eigentlich eher ablehnend gegenüberstehen. Sie tun das unter anderem, indem sie den Unterricht speziell auf ihre Bedürfnisse zuschneiden. Welche Bedürfnisse das sind, konnte Costello beobachten, als sie zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts in einem großen Fitnessstudio unterrichtete: Schweißtreibende Sequenzen ohne viel Hokuspokus zogen einen viel höheren Prozentsatz Männer in die Stunden als gewöhnlich. Die Schüler waren sportbegeisterte, körperbewusste Alphatiere, es waren Businesstypen, die es liebten, sich zu verausgaben, Männer, die kein Blatt vor den Mund nahmen und mit Gefühlsduselei nichts am Hut hatten.
Costello erkannte, dass Asanas, wie sie in einer typischen Yogastunde des 21. Jahrhunderts unterrichtet werden, nicht zu den körperlichen Merkmalen dieser Schüler passten. Viele hatten sich im Fitnessstudio dicke Muskeln antrainiert, einen großen Bizeps, robuste Oberschenkel und breite Schultern. „Diese Jungs hatten häufig nur an isolierten Stellen ihres Körpers gearbeitet. Im Yoga geht es aber darum, wie alles zusammenhängt“, erklärt sie. Deswegen zielt sie in ihren Männerstunden weniger auf Kraft und Stabilität als auf Integration und Beweglichkeit. So werden von Sport und Krafttraining verhärtete Muskeln dazu gebracht, sich zu lockern und mit anderen Muskelgruppen zusammenzuarbeiten.
Den nach unten schauenden Hund beispielsweise übt Nikki Costello mit neuen Schülern überhaupt nicht, denn da ist die Tendenz groß, das gesamte Gewicht auf den Armen zu tragen und sich mit reiner Muskelkraft durch die Haltung zu mogeln. Stattdessen führt sie sie durch Übungen wie den Krieger II. Dabei ermutigt sie ihre Schüler, sich nicht allein auf die Kraft der Oberschenkel zu verlassen, sondern stattdessen die Dehnung in Leisten und Hüften zuzulassen und zu beobachten, wie die verschiedenen Details der Haltung sich gegenseitig beeinflussen. Diese Bezüge – zwischen einem Körperteil und einem anderen, zwischen Gedanken und Handlungen, zwischen Atem und Bewegung – sind es, um die es nach Costellos Meinung im Yoga geht. Sie sind zwar sowieso der Kern jeder Asana, nur erschließt sich das Männern, die es gewohnt sind, jeden Muskel einzeln zu trainieren, nicht unbedingt auf Anhieb. „Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem die Jungs die Bedeutung der körperlichen Vernetzung begreifen“, erklärt Nikki Costello. „Und wenn sie lernen, die einzelnen Körperteile miteinander zu verbinden und sich in dieser Bewusstheit zu bewegen und zu handeln, dann öffnen sie sich auch für die volle Erfahrung von Yoga.“
Von Andrew Tilin
Lesen Sie den Rest des Artikels in der September/ Oktober 2012-Ausgabe des YOGA JOURNAL.