Achtsam essen – Das 3-Wochen-Programm: Woche 1

Was wäre eine Yogastunde ohne Achtsamkeit? Nicht viel mehr als Gymnastik. Genauso bringt das ausgeklügeltste Ernährungskonzept nicht viel, wenn wir nicht lernen, den Autopiloten abzuschalten und wirklich achtsam mit unserer Nahrung umzugehen. Unser 3-Wochen-Programm zeigt dir Wege zu einer bewussteren Art zu essen – und zu genießen.

Text: Stephanie Schauenburg / Titelbild: Foxy Forrest Manufacture von Getty Images via Canva

Eines ist klar: Yoga und bewusste Ernährung gehören zusammen. Oder kennst du eine*n Yogi*ni, der oder die intensiv übt und zugibt, sich von Currywurst, Limo und Eiscreme zu ernähren? Viel eher kennst du endlose Diskussionen darüber, was denn nun der “richtige” Ernährungsstil sei. Oder ein latent schlechtes Gewissen, weil du es immer noch nicht geschafft hast, deine Ernährung konsequent umzustellen. Fragt sich nur, worauf genau du überhaupt umstellen willst oder sollst?

Überfluss macht uns planlos

Ständig kommen neue Theorien, Konzepte, Heilslehren und Verbote auf den Tisch. Es sollte vermutlich vegetarisch, vielleicht vegan, bitte bio, betont basisch, lieber low-carb, aber auch mal paläo sein. Auch einzelnen Nahrungsmitteln wird entweder das Prädikat “wertvoll” umgehängt oder sie werden als “total ungesund” verdammt – nur leider sind diese Etiketten oft widersprüchlich und das, was heute als hypergesund gilt, kann morgen schon ein No-Go sein. Die Folge: Immer mehr Menschen sind unzufrieden mit ihrem Ernährungsstil, sie haben das Gefühl, ständig etwas falsch zu machen, sie sind verwirrt und suchen nach einer verständlichen, verbindlichen Anleitung – dabei wissen sie gleichzeitig: All das ist nicht nur Ausdruck eines absurden Optimierungswahns, es wäre auch völlig undenkbar ohne den noch nie da gewesenen materiellen Überfluss, in dem wir (im Gegensatz zum Großteil unserer Vorfahr*innen und Millionen unserer Zeitgenoss*innen) heute leben.

Bewusst und achtsam beim Essen

Achtsam essen
Foto: Anna Tarazevich via Canva

Die yogische Antwort auf all das kann eigentlich nur heißen: raus aus den verkopften Konzepten und rein in die authentische Erfahrung. Bewusst hinschauen, ausprobieren, spüren – mit einem Wort: Achtsamkeit üben. Seit der ursprünglich buddhistisch geprägte Begriff der “Achtsamkeit” im Mainstream angekommen ist, wird er selbstverständlich auch auf die Ernährung bezogen. Das Erfrischende daran: Anstatt mit medizinischem und ernährungswissenschaftlichem (Halb-)Wissen zu wuchern und dem Fetisch “Gesundheit” zu huldigen, geht es hier endlich mal wieder ganz einfach ums Essen. Genau wie die Yogapraxis besteht auch die Praxis des achtsamen Essens zunächst einmal darin, bewusst wahrzunehmen, was ich in diesem Moment eigentlich tue – möglichst fein und ohne permanent zu urteilen und zu werten. Die Ziele lauten hier wie dort: das Körpergefühl verbessern, Vertrauen in die eigene Wahrnehmung entwickeln, Verhaltensmuster erkennen und durchbrechen, freier und bewusster handeln.

Der Hunger des Geistes

Aber auch die Schwierigkeiten sind beim achtsamen Essen ähnlich gelagert wie bei der körperlichen und geistigen Yogapraxis: Genau wie Haltungs-, Bewegungs- und Denkmuster ist auch das Essverhalten von Konditionierungen geprägt, die vielfach bis in die früheste Kindheit zurückreichen. Solche Prägungen überwindet man nicht einfach, indem man beschließt: “Ab heute esse ich achtsam.” Je mehr du dich dem Thema zuwendest, desto deutlicher wirst du vermutlich erkennen, wie häufig du beim Thema Essen vollständig im “Autopilot-Modus” läufst. Alle, die schon einmal eine Fressattacke erlebt haben oder die Phänomene “Frustfuttern” und “Trostessen” aus eigener Erfahrung kennen, wissen: Es gibt viel mehr Arten von Hunger als nur einen leeren Magen. Sogar wenn du versuchst, deinem emotionalen Hunger mit rigiden Ernährungsregeln zu begegnen, befriedigst du damit unter Umständen wieder nur einen weiteren Hunger: den des Geistes.

Yoga des Essens braucht viel Übung

Achtsam zu essen ist daher genau wie Yoga ein Übungsweg, auf dem du, wenn du willst, lange Zeit unterwegs sein kannst. Genau wie die meisten Asanas können auch die Übungen zum achtsamen Essen noch nach langer Praxis immer wieder zu ganz neuen, überraschenden Erkenntnissen führen. So entdeckst du mit der Zeit nicht nur eine ganz neue Art, dich zu ernähren und zu genießen, sondern tatsächlich so etwas wie ein “Yoga des Essens”.

Die 5 wichtigsten Punkte

1 Langsam – Lieber schlemmen statt schlingen.
2 Mit allen Sinnen – Sehen, riechen, tasten, schmecken und genießen.
3 Frei von Ablenkung – Wenn ich esse, esse ich.
4 Gerade genug – Aufhören, sobald der Hunger gestillt ist.
5 Liebevoll und dankbar – Würdigen statt werten.


Tipp: Im YogaWorld Journal 02/2025 haben wir uns dem Thema “Intuitiv Essen” gewidmet und stellen verschiedene Ansätze vor, die dabei helfen können, den eigenen Körpersignalen zu vertrauen. Hier kannst du dir das Heft bestellen:


Bist du bereit? Los geht’s mit Woche 1 unseres 3-Wochen-Programms “Achtsam essen”:

1. Woche: Bewusstwerdung

Achtsam essen
Foto: Image Professionals via Canva

In der ersten Woche nimmst du dir jeden Tag Zeit für ein kleines Experiment. Beobachte möglichst unvoreingenommen, was sich verändert, wenn du eine oder mehrere Mahlzeiten täglich diesen vielleicht ungewohnten Erforschungen widmest. Was fällt dir leicht? Was ist schwierig? Alle sieben Techniken helfen dir, auch auf Dauer achtsamer zu essen – es lohnt also, sich in den kommenden Wochen und Monaten immer wieder an sie zu erinnern, sie in unterschiedlichen Situationen zu erproben und miteinander zu kombinieren.

Tag 1: Nahaufnahme

Nimm dir heute 5 bis 10 Minuten Zeit für etwas so Kleines wie eine Rosine, einen Keks oder eine Tasse Tee. Richte alle deine Sinne und volle Aufmerksamkeit auf dieses Objekt: Wie sieht es aus? Wie fühlt es sich in der Hand an? Wie riecht es? Welche Gefühle, Erwartungen und Gedanken weckt es, schon bevor du es in den Mund nimmst? Und was genau passiert dann? Was meldet deine Zunge, was dein Gaumen? Welche Empfindungen entstehen, wenn du es im Mund bewegst, langsam (und noch langsamer!) kauen und schließlich schlucken? Wie fühlst du dich danach?

Info: Vielleicht kennst du die Übung mit der Rosine, wenn du einmal einen Kurs in MBSR – Mindfulness Based Stress Reduction – gemacht hast. Sie stammt von deren Begründer Jon Kabat-Zinn.

Tag 2: Entdeckung der Langsamkeit

Zähle heute zu Beginn der Mahlzeiten eine Weile mit, wie oft du im Schnitt kaust, bevor du einen Bissen herunterschluckst. Dann verdoppelst du diese Zahl. Kaue ganz langsam, bewege das Essen dabei im Mund hin und her und beobachte Geschmack und Konsistenz. Auch beim Trinken versuche, nicht sofort zu schlucken, sondern die Flüssigkeit eine Weile im Mund zu behalten und ihre sinnlichen Qualitäten wahrzunehmen.

Info: Wenn dir die doppelte Zeit unsinnig lang vorkommt, dann solltest du wissen: In der ayurvedischen Medizin wird zu 30-maligem Kauen jedes Bissen geraten. In traditionellen Yogakreisen gibt es sogar die Regel: “Kaue das Feste, bis es flüssig wird, und das Flüssige, bis es fest wird”.

Tag 3: Stille

Richte heute mindestens eine Mahlzeit ein, in der du nicht nur Radio, TV und Handy konsequent zum Schweigen bringst, sondern auch dich selbst. Sogar Lektüre oder andere “stille” Ablenkungen sollten tabu sein. Deine alleinige Aufmerksamkeit gilt dem Essen.

Tipp: Wenn deine Lieben bei diesem Experiment nicht mitmachen wollen, dann esse am besten im Anschluss an die Familie alleine.

Tag 4: Zwei Hände voll

Versuche heute etwas, das du vielleicht auch schon in deinen Yogabüchern zum Thema richtige Ernährung gelesen hast: Dort lautet eine gängige Regel, man solle bei keiner Mahlzeit mehr zu sich nehmen, als in die eigenen beiden Hände passt, wenn man sie zu einer Schale formt. (Wobei man sich natürlich fragen kann, wie hoch sich das Essen in dieser Schale türmen darf?) Beobachte dich dabei auf mehreren Ebenen:

Habe ich nach dem Essen noch Hunger?
➳ Ist es wirklich mein Magen, der nach mehr verlangt?
➳ Welche Rolle spielen Appetit, Gelüste, Ängste – also mein Geist?
➳ Wie fühle ich mich am Ende des Tages?

Info: Diese traditionelle Regel gibt es etwas anders formuliert auch in vielen modernen Ernährungsratgebern. Dort heißt es, man solle den Magen nie mehr als zu zwei Dritteln füllen – was in etwa dem Volumen der beiden Hände entspricht.

Tag 5: Pranayama beim Essen

Atemübungen und Atemgewahrsein sind Kernpunkte der Achtsamkeitspraxis. Es lohnt sich also, auch beim Essen einmal bewusst die Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten. Stimme dich vor der Mahlzeit 1 bis 2 Minuten lang mit geschlossenen Augen auf deinen Atem ein. Wenn du magst, vertiefe den Atem etwas oder übe die volle Yogaatmung, soweit sie dir vertraut ist. Anschließend beobachte während der gesamten Mahlzeit deine Atmung.

➳ Wie atme ich, während ich kaue?
➳ Was passiert beim Schlucken?
➳ Wie wirkt sich die Atembeobachtung auf das Essen aus?

Tag 6: Hunger Games

Ein wichtiges Ziel der achtsamen Ernährung besteht darin, das natürliche Gefühl für Hunger und Sättigung zurückzuerlangen. Esse heute deshalb immer dann (aber auch nur dann!), wenn du deutlich spürst: Jetzt habe ich Hunger. Genauso beendest du jede Mahlzeit, sobald du merkst: Jetzt brauche ich eigentlich nichts mehr. Klingt einfach, ist aber ganz schön schwierig.

Info: Expert*innen gehen davon aus, dass die meisten Essgewohnheiten (und auch etliche Essstörungen) in der Kindheit anerzogen sind. Schon der Zwang, zu vorgeschriebenen Zeiten und Mengen zu essen (Stichwort: “Du stehst erst auf, wenn der Teller leer ist!”), überstimmt irgendwann das authentische Bauchgefühl. Dann weiß man schlicht und einfach nicht mehr, was die individuell und momentan gerade richtige Zeit, Art und Menge ist.

Ganz wichtig: Dies bedeutet nicht, dass regelmäßige Mahlzeiten falsch wären, im Gegenteil – nur muss der Rhythmus wirklich passen.

Tag 7: Sonntagsschmaus

Achtsam essen: Bowl
Foto: bit245/ Getty Images via Canva

Verwöhne dich heute ganz bewusst mit deinem Lieblingsessen. Nehme dir Zeit für den Einkauf, würdige die einzelnen Zutaten und ihre sinnlichen Qualitäten, zelebriere die Zubereitung, richte das Essen schön an, decke den Tisch mit Sorgfalt und dann – genieße in vollen Zügen! Vielleicht bemerkst du dabei, dass du einige der praktizierten Techniken dieser Woche unwillkürlich einsetzt. Aber vielleicht entscheidest du dich auch ganz bewusst, dieses Mal weder allein und still zu essen noch bei einer Schale voll Nahrung Halt zu machen. Worauf es ankommt, ist nicht die Einhaltung von starren Regeln, sondern der bewusste Umgang damit – verbunden mit einem dankbaren, sinnlichen Genuss.


Hier kommst du zum Programm von Woche 2:

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