Alignment Check mit Timo Wahl: Gestreckt – oder doch lieber rund?

In dieser neuen Asana-Kolumne klärt Timo Wahl über gängige Mythen der Asana-Praxis auf: Ergibt es Sinn, dass etwas auf eine bestimmte Weise unterrichtet und geübt wird? Oder eher nicht? Und warum überhaupt? In der ersten Folge geht es um Vorwärtsbeugen und die Frage, wie aus ihnen eine “runde Sache” wird.

Text & Fotos: Timo Wahl

So lange ich zurückdenken kann, habe ich sie gehört, die mahnenden Worte diverser Lehrer*innen: Der Rücken sei auf jeden Fall in der Vorbeuge gerade zu halten, auf das natürliche Hohlkreuz sei stets zu achten. Bei genauerem Lesen der Hatha-Yoga-Schriften zeigt sich allerdings: Hier wurden Vorwärtsbeugen eher als rund beschrieben. Da heißt es zum Beispiel, man solle die Rückseite des Körpers dehnen oder das Knie mit der Stirn berühren. Was also nun? Ist sie so gefährlich, die “runde” Vorwärtsbeuge, oder ist es vielleicht sogar besonders gut, auf diese Weise zu üben? Wie auch im Leben, bin ich kein Freund starrer Vorgaben. Ich beschäftige mich lieber mit der Frage nach dem “Warum”. Welche Wirkung hat also eine Vorbeuge mit “geradem” Rücken und wie unterscheidet sich diese Wirkung von der “runden” Variante?

“Gestreckt” bedeutet mit den Beinen zu arbeiten

Timo Wahl zeigt dir anhand von Pashchimottanasana, wie man Vorwärtsbeugen variieren kann.

Beugt das Becken nach vorn und der Rücken bleibt dabei gerade, ist die Bewegungsweite ausschließlich von der Flexibilität der Muskulatur der Beinbeuger (Beinrückseite) abhängig, die ihren Verlauf vom Sitzbein zum Unterschenkel nehmen. Da der Rücken dabei in seiner natürlichen Hohlkreuzstellung bleibt, können die hier anliegenden Muskeln in der Lendengegend den Rücken optimal stabilisieren und somit jedwede Druckwirkung des passiven Bewegungsapparats und damit der Bandscheiben minimieren.

Ist unser Anliegen, Länge möglichst über die gesamte Körperrückseite zu bringen, dann führt das häufig zu Ausweichbewegungen und der Rücken wird folglich rund. Und auch das ist völlig unproblematisch! Passive Strukturen wie das sogenannte Hintere Längsband, das Dornspitzband und andere stabilisieren den Rücken passiv. Zudem ist eine Dehnung dieser Ligamente durchaus sinnvoll, da es mit einer erhöhten Beweglichkeit der unteren Rückenabschnitte zu sinkender Zugwirkung und grundlegend zu reduzierten Druckbelastungen kommt. Kritisch wird es nur dann, wenn wir zusätzlich über die Arme Zugkraft aufwenden und das Wirken der Schwerkraft mit Muskelkraft kombinieren. Legen wir dann aber beispielsweise ein ausreichend hohes Kissen unter, kann auch dieses intensive “Helfen” durch die Arme keinen Schaden mehr anrichten. Die Anatomie nennt dieses Prinzip “Kompensationsschutz”.

Die runde “Hatha-Yoga-Variante” sorgt für Ruhe im System

Klassisch werden sitzende Vorwärtsbeugen also durchaus mit rundem Rücken genommen. Die Wirkzeit liegt hier wie auch beim Yin-Yoga oft bei mehreren Minuten. Daraus ergibt sich eine Dehnung der gesamten hinteren Muskel- und Faszien-Schicht, die vom Kopf bis zu den Fußsohlen reicht. Das Besondere hier sind jene Fasern, die in der Faszie rund um das Rückenmark liegen. Werden diese gedehnt, erfahren wir einen intensiven parasympathischen Reiz, der neben der nachhaltig längenden Wirkung der Position auch unser Nervensystem beruhigt und damit Blutdruck, Herzfrequenz und Atmung nach unten reguliert. Klingt toll? Ist es auch! Und übrigens die beste Einschlafhilfe am Ende eines aktiven Tages!

Was können wir als Quintessenz mitnehmen?

  • Halte den Rücken gerade, wenn du eine Last trägst, Zugkraft anliegt oder du Kraft nutzt.
  • Nutze die gestreckte Vorwärtsbeuge, wenn du den Fokus auf die Dehnung deiner Beinrückseiten legen willst.
  • Runde den Rücken, wenn du etwas unterlegen kannst oder einfach nur entspannt das eigene Gewicht nach vorn sinken lässt.
  • Profitiere von der beruhigenden Wirkung einer länger gehaltenen, “runden” Vorbeuge zum Ausgleich für aktive Übungen.

Kurse, Retreats, Ausbildungen und den Podcast von TIMO WAHL findest du unter: www.timowahl.de


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