Herbstgerichte gewinnen an Geschmack, Farbe und Nährwerten, wenn man das Gemüse nicht nur in Teilen, sondern im Ganzen verwendet.
Die Erde ist locker und warm, als wir die winzigen Brokkolisetzlinge einpflanzen, die meine Schwägerin Jen in ihrem Gewächshaus gezogen hat. Sie zeigt uns, wie man die Erde rings um die zarten Stängel in einer behutsamen Bewegung anhäuft. Es erinnert mich an die Gesten, mit denen man ein Baby in seinem Bettchen zudeckt. Später wird Jen ihre Pflanzenbabys wässern und pflegen und sie wird hoffen, dass sie Wind, Schnecken und Raupen trotzen. Diese Fürsorge für die kleinen Pflänzchen lässt mich das Gemüse, das ich esse, auf neue Weise wertschätzen – nicht nur wegen all der Arbeit, die darin steckt, sondern auch wegen seiner unglaublichen, sprießenden Lebendigkeit. Wenn ich auf Jens Biohof zu Besuch bin und dort leuchtend grüne Salatköpfe oder feste, süßliche Brokkolis ernte, dann fühle ich mich fast schon verpflichtet, das meiste aus jeder einzelnen Pflanze zu machen. Jeder, der selbst einen Gemüsegarten hat oder viel auf dem Bauernmarkt einkauft, weiß vermutlich, was ich meine: Nahrungsmittel und die Ressourcen, die in sie hineinfließen, werden immer kostbarer. Sie zu verschwenden, fühlt sich einfach nicht richtig an. Und je mehr ich lerne, nicht nur mit Gemüseteilen, sondern mit der ganzen Pflanze zu kochen – also auch mit den knallroten Stängeln des Mangold, den holzigen Enden von grünem Spargel, den Blättern, die die Blumenkohlröschen umgeben – desto mehr Aroma, Inspiration und Befriedigung erlebe ich bei jedem Essen.
Es gibt viele gute Gründe für diese „Von-der-Wurzel-bis-zum-Stän-gel-Küche“, also für das Prinzip, auch diejenigen Teile einer Pflanze zu verwenden, die zwar essbar sind, für gewöhnlich aber weggeworfen werden. Da ist die ökonomische Seite: Gerade wenn man Biogemüse kauft, gibt man im Lauf der Zeit ganz schön viel Geld dafür aus und sollte so viel davon haben, wie nur möglich. Auch die Umwelt ist ein wichtiger Aspekt: Neueren Studien zufolge landen bis zu 50 Prozent der weltweit produzierten Nahrungsmittel nie in menschlichen Mägen, dabei werden zum Beispiel in den USA die Hälfte der Landfläche und 80 Prozent des Wassers für die Nahrungsmittelerzeugung aufgewendet. Essbares wegzuwerfen, bedeutet also eine enorme Verschwendung von Ressourcen.
Leckere Reste
Das aber vielleicht überzeugendste Argument für die Verwendung der ganzen Pflanze lautet einfach: Die bislang verworfenen Reste ihres Lieblingsgemüses können köstlich schmecken! Die dunkelgrünen Spitzen von Lauchstangen zum Beispiel brauchen zwar etwas länger, bis sie gar sind, dabei verwandeln sie sich aber in ein zart geschmortes Grün mit feinem Zwiebelaroma, das gerade eiergerichten mehr geschmackliche Tiefe verleiht. Fenchelgrün und -strunk schmecken süßer als die Knolle und haben ein intensiveres Aroma. Wenn sie Lakritz mögen, könnten sie den Fenchelstrunk zum Beispiel in feine Streifen schneiden und kandieren. Wenn es lieber herzhaft schmecken soll, dann mengen sie den fein ge- schnittenen Strunk und das Grün stattdessen unter einen Salat mit Fenchelstücken, gehobeltem Parmesan, Zitronensaft und Olivenöl. Und die Blätter von Rettichen und Radieschen entfalten als grüne Bestandteile in einem Salat mit Mais, Tomaten, Rettich und einem cremigen Dressing ein wunderbar pfeffriges Aroma. Auch die Blätter von rote Bete sind – genau wie Mangoldblätter, mit denen die Beten eng verwandt sind – kurz gedünstet eine Köstlichkeit. Die seidigen, dunklen Blättchen, die rings um den Brokkolistrunk wachsen, sehen ähnlich aus wie Spinatblätter und schmecken wie der süßeste Brokkoli, den sie je gekostet haben. Die geschälten Brokkolistrünke selbst sind süßlich und knackig. Ich knabbere sie gerne während des Kochens oder reibe sie in den Salat. Sogar den Strunk vom Blumenkohl werfe ich mittlerweile nicht mehr weg. Statt dessen schneide ich den gesamten Kopf in dicke Scheiben, die sich im Ofen oder in der Pfanne in fleischige Gemüsesteaks verwandeln.
Übriggebliebene Kräuter im Mixer zu einer Würzsauce zu verarbeiten, ist die beste Art, etwas Tolles aus ihnen zu machen, bevor sie im Kühlschrank vor sich hin welken. Das Ergebnis ist eine aromatische Beigabe zu Hauptgerichten, Salaten und Suppen. Zerhacktes Koriandergrün zum Beispiel wird im Handumdrehen zu einer einfachen Salsa für Eier. Und mit Olivenöl und Zitronensaft fix püriertes Basilikum ist die simpelste Version von köstlichem Pesto.
Ganz, ganz langsam
Wenn man erst einmal damit begonnen hat, auf diese Art zu kochen, kann man kaum noch damit aufhören – obwohl es schon ein gewisses Maß an Planung erfordert. Wenn Sie zum Beispiel Lauch für ein Rezept kaufen, das nur die weißen Teile verwendet, dann sollten Sie auch gleich überlegen, wann und wie Sie den Rest verwerten. Wenn Sie einen Bund rote Bete mitsamt Blättern kaufen, dann können Sie sich den Mangold für das Mittagessen am nächsten Tag gleich sparen. Und wenn Sie ein Bund Möhren zum Knabbern in den Einkaufskorb legen, dann brauchen Sie für das Tabbouleh am Abend nicht mehr an Petersilie denken, weil sie stattdessen das Grün der Karotten verwenden.
Diese Art, Mahlzeiten zu planen, ist mir immer mehr zur Gewohnheit geworden. Wenn ich zum Beispiel Spargel koche, dann hebe ich die holzigen Enden in einem Beutel im Gefrierfach auf. Wenn sich genug angesammelt hat, koche ich daraus eine aromatische Brühe für Spargelsuppe, die ich mit frischem Spargel, Sellerieblättern und einem Klecks Sahne verfeinere. Grüne Lauchspitzen sautiere ich mit anderem Gemüse zu einer würzigen Pastasauce. Und wenn ich mal eine hektische Woche habe und keine Zeit finde, Mangoldstängel sinnvoll zu verwerten, dann wandern sie einfach in die Gefriertruhe und werden irgendwann zu Gemüsebrühe. Man könnte sagen: Das ist die wohl langsamste Slow-Food-Küche der Welt, aber das mehr an Zeit und Gedanken für diese bewusste Verwendung von Nahrungsmitteln zahlt sich aus in tollen Rezepten und einem besseren Gefühl. Egal ob ich in den Ferien auf Jens Bauernhof bin oder schnell nach der Arbeit ein Abendessen mache: Es fühlt sich einfach gut an, von der Wurzel bis zum Stängel zu kochen. Es hat meine Kreativität entfacht und mir die vielfältigen Aromen und Konsistenzen nähergebracht, die in jeder Pflanze verborgen sind. Jeder Teil eines Gemüses ist nützlich und kostbar – und das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Tipps:
Auf Bauernmärkten oder in Hofläden haben Sie die besten Chancen, „ganzes“ Gemüse zu finden. Bei der Großhandelsware in Supermärkten und sogar Bioläden werden Strunk und Blätter leider allzu häufig abgeschnitten – auch deshalb, weil man gerade an den Blättern gut erkennen kann, wie erntefrisch die Ware ist.
Koscher-Salz
Koscher-Salz oder koscheres Salz ist nach Fleur de Sel, Himalaja- und hawaiianischem Meersalz der neue Geheimtipp der feinen Küche. Dabei handelt es sich um ein grobkörniges Stein- oder Meersalz ohne jegliche Zusatzstoffe wie Jod oder Rieselhilfen. Salz ist nach der jüdischen Lebensmittellehre grundsätzlich koscher, der Name kommt nur daher, dass dieses Salz dazu verwendet wird, rohes Fleisch zu „koschern“, ihm also das Blut zu entziehen.
Die Autorin Tara Duggan hat unter dem Titel „Root-to-Stalk-Cooking“ ein Buch mit vielen weiteren Rezepten ihrer „Von-der-Wurzel-bis-zum-Stängel-Küche“ veröffentlicht.