Geben Ziele dem Leben einen Sinn? Ein kleiner Perspektivenwechsel …

Es ist jedes Jahr das gleiche Spiel: Ein neues Jahr beginnt und wir bemühen uns, unsere kleinen wie großen Lebensziele neu zu definieren. Doch geben Ziele dem Leben wirklich einen Sinn? So sehr, wie wir ihnen oft nachjagen, könnte man das annehmen: Karriere machen, die große Liebe finden, die Welt bereisen, Erfüllung erfahren – darum geht es doch, oder? Vielleicht ist es Zeit für einen kleinen Perspektivenwechsel …

Text: Carmen Schnitzer / Titelbild: Eberhard Grossgasteiger via Unsplash

“Die Erde könnte sich alleine gefühlt haben, und dann hat sie’s probiert und probiert, bis Leben auf die Erde kam.” Ein Zitat aus dem YouTube-Video “Kinder erklären den Sinn des Lebens”, hochgeladen von einem User namens Ron0964. Auffällig ist, wie oft in dem Achtminüter das Wort Liebe fällt, wie oft von der Verbindung mit anderen und der Umwelt die Rede ist – und selbst Achtsamkeit kommt vor, wenn man so will (“Barfuß laufen!” “Abenteuer!”). Wofür wir auf der Welt sind? “Um mit der Mama zu kuscheln.” “Um die Natur zu beschützen.” “Um gut zu leben.” “Um anderen Menschen Freude zu machen.” Oder so schlicht wie schön: “Ich glaube, wir sind auf der Erde, weil wir aus Liebe sind.”

Die Botschaften sind so herzerwärmend wie philosophisch, so schlicht wie wahr, dass einem glatt der Gedanke kommen kann: Was bitte passiert mit uns, dass wir uns von diesem kindlichen Urwissen mit der Zeit so stark entfernen? Irgendwie irgendwann sind die meisten von uns an einen Punkt gekommen, an dem “etwas erreichen” zu einer unserer wichtigsten Antriebsfedern wurde, aus der wir eine vermeintliche Sinnhaftigkeit ziehen, die letztlich keine ist.

Ziele und ihre Grenzen

Googelt man “So erreichst du deine Ziele”, erhält man über 900.000 Treffer, gibt man es auf Englisch ein, “How to achieve your goals”, dann kann man noch drei Nullen dranhängen. Und ja, Ziele zu haben ist wichtig, da ist man sich in der psychologischen Forschung weitgehend einig. Denn ohne sie gibt es keine Orientierung, keine Weiterentwicklung – und damit Stillstand. Als Kleinkinder lernen wir zum Beispiel laufen, sprechen, selbstständig essen, später dann absolvieren wir Schulabschlüsse, Aus- und Weiterbildungen, gründen Familien, gehen auf Reisen, übernehmen Ehrenämter und, und, und. Tun Dinge, die uns motivieren, jeden Tag aufzustehen und die wir für bedeutsam halten.

Tatsächlich findet man abseits der üblichen “So wirst du happy”-Coachingseiten aber immer wieder den Hinweis, man solle seine Ziele ruhig öfter mal aus den Augen verlieren, wolle man ein erfülltes, ein glückliches Leben führen. Auch der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther stellt in einem Podcast auf zukunftsinstitut.de fest: “Ziele haben immer diese unangenehme Eigenschaft, dass man sie erreichen kann.”

Foto: Yulia Gadalina via Unsplash

Was kommt nach dem Ziel?

Was er damit meint: Die Bedeutsamkeit – und damit der Sinn – eines Zieles nimmt ab, sobald wir am angestrebten Punkt angekommen sind. Mit der Zeit wird das Erlangte zur Selbstverständlichkeit, ein neuer Motivator muss her. In einer im Zusammenhang mit der Glücksforschung gern zitierten, 2010 veröffentlichten Studie hatten die Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman und Angus Deaton zum Beispiel herausgefunden, dass das subjektive Glücksempfinden bis zu einem Jahreseinkommen von 75.000 US-Dollar (damals ca. 60.000 Euro) steige, danach aber nicht mehr zunehme.

Mittlerweile gibt es Forschungen, die diese Grenze (die sich so natürlich nicht auf jedes Land der Erde übertragen lässt) deutlich weiter oben ansetzen, die Kernaussage aber bleibt: Irgendwann geht es nicht mehr weiter, irgendwann ist das Ziel erreicht, ein neues muss her. Man gucke sich dann um und finde schließlich “meistens etwas bedeutsam, was man bei der Verfolgung des ersten Zieles besonders stark vernachlässigt” habe, so Hüther im genannten Podcast.

Wenn das Ziel neue Fragen aufwirft

Wer sich jahrzehntelang für die Familie aufgeopfert hat, möchte vielleicht endlich beruflich durchstarten, während derjenige, der einen Großteil seiner Energie in seinen Job gesteckt hat, um einen gewissen Wohlstand zu erreichen, sich nun womöglich mehr auf Liebe und Freundschaften konzentriert … oder auf das, was ihm zwar weniger Geld, dafür wirkliche Erfüllung bringt. Nicht selten haben zum Beispiel die Frauen, die wir auf unserer “Women in Business”-Seite des Print-Magazins porträtieren, steile Karrieren gemacht, die sie irgendwann hinter sich ließen, um sich ganz der Weitergabe von yogischem Wissen zu widmen. Gut möglich, dass du auch so jemanden kennst – oder dich gerade selbst ertappt fühlst …?

Nun ist ein Jahreseinkommen, das einem ein komfortables Leben ermöglicht, natürlich nicht wirklich “unangenehm”, um kurz auf Hüthers Zitat zurückzukommen, genauso wenig wie der Erhalt eines Abitur-Zeugnisses oder das Erreichen des Wohlfühlgewichts – allein: Ein Garant für tiefe, langfristige Erfüllung sind sie nicht.

Lieber die Ziele aus den Augen verlieren?

Dennoch sei an dieser Stelle kurz eine interessante Studie der Universität Zürich von 2011 erwähnt, derzufolge es für Abnehmwillige sinnvoll ist, nicht auf eine konkrete Kilozahl als Ziel hinzuarbeiten, sondern sich stattdessen auf seine geänderten Lebens- und Essgewohnheiten zu fokussieren. Probandinnen, die Letzteres befolgten, ihr eigentliches Ziel also “aus den Augen verloren”, waren langfristig erfolgreicher, was ihre Gewichtsreduktion anging, und konnten mit zwischenzeitlichen Rückschlägen besser umgehen als die mit der fixen Kilozahl im Kopf, die schneller in alte Muster zurückfielen – und dann womöglich frustriert waren.

Denn, so eine These der Professoren Dilip Soman und Amar Cheema in einer 2004 im Journal of Consumer Research veröffentlichten Studie: Wer ein Ziel, das er sich gesetzt hat, nicht erreicht, leidet meist mehr als der, der erst gar keines hatte. Das Selbstbild bekomme zum Beispiel Risse, oder der*die Betreffende lasse sich hängen und entferne sich weiter vom Erstrebten als zuvor. Dass das Nicht-Erreichen eines “Zieles” aber auch positive Aspekte haben kann, dazu später mehr.

Kurz noch zum oben genannten Beispiel derjenigen Frauen aus der Zürich-Studie, die sich nicht auf ihr Traumgewicht konzentriert und es gerade deshalb erreicht haben – hier könnte man, frei nach dem chinesischen Philosophen Konfuzius (ca. 551–479 v. Chr.) sagen: Der Weg ist das Ziel und das Ziel ist der Weg – der mit dem Erreichen der gewünschten Kilozahl weitergegangen werden muss, möchte man diese halten. Ankommen, aber nicht anhalten sozusagen. Dennoch, machen wir uns nix vor: Dass das persönliche Traumgewicht zwar eine nette Sache ist, als tieferer Sinn des Lebens jedoch nicht taugt, darüber sind wir uns vermutlich einig. Da muss es doch mehr geben …

Bewahren statt Streben

Foto: Karen Cantu via Unsplash

Mit zunehmendem Alter, so das Ergebnis der Studie “Nie zu alt? Älterwerden zwischen Offenheit und Bewahrung” des Züricher Gottlieb Duttweiler Institutes (GDI) von 2020, verlieren materielle, status- und wachstumsgeprägte Ziele wie Familiengründung, Karriere oder Hausbau (oder Gewichtsreduktion aufgrund von Schönheitsidealen) an Bedeutung, stattdessen rücken die in den Fokus, die auf das Bewahren eines bereits gegebenen Zustandes setzen: Gesundheit etwa oder ein langes Leben. Altersunabhängige Ziele dagegen sind (Beziehungs-) Glück, Reisen und erstaunlicherweise Auswandern, für das sich auch die älteren Befragten offen zeigten.

Ein Forschungsteam um den US-Psychologieprofessor Ben Wilkowski machte indes auf der Suche nach Antworten auf die Frage “Was wollen Menschen?” vier Kernziele aus, die man unter den Schlagworten Prominence (Wichtig sein: sozialer Status, Respekt, Bewunderung), Inclusiveness (Verbundenheit: Freundschaft, Loyalität, soziales Engagement), Negativity Prevention (das Vermeiden von Unannehmlichkeiten wie Ärger, Stress oder Ablehnung) und Tradition (Kultur, Disziplin, Religion) zusammenfasste, wobei wir uns je nach Charakter und Lebenserfahrungen zu dem einen mehr, zu dem anderen weniger hingezogen fühlen dürften.

Was bewirken wir in der Welt?

Aus yogischer Perspektive sicher am interessantesten ist der Punkt Verbundenheit, wobei man ihn aus diesem Blickwinkel heraus noch weiter fassen darf – als Verbundenheit nämlich, die über bloße Freundschafts- und Liebesbeziehungen hinaus Bedeutung hat. Wenn wir uns als Teil eines großen Ganzen begreifen, als Teil der irdischen Welt und des Universums, dann versteht es sich von selbst, dass die Ziele in unserem Leben, der Sinn und Zweck unseres Daseins nicht allein – im Grunde eigentlich gar nicht – auf persönlichen Erfolgen und Errungenschaften fußen können. Dass wir dementsprechend unser Tun auch und insbesondere danach ausrichten sollten, was es in der Welt bewirkt.

Auch im Gerald-Hüther-Gespräch kommt schließlich das Thema Gemeinschaft zur Sprache. Er plädiert dafür, zusammen etwas zu “verfolgen, was man nicht erreichen kann – und was einem aber trotzdem sehr am Herzen liegt”, um aus der Spirale herauszukommen, die unsere Gesellschaft von Ziel zu Ziel hetzen lässt, wo sie sich nach dem Erreichen (etwa eines gewissen Wohlstandes) stets neuer Unsicherheit und Sinnsuche ausgesetzt sieht. Dabei spricht er von gemeinsamen “Anliegen”. Ein Wort, das auch Yoga-Vidya-Gründer Sukadev Bretz in einem auf wiki.yogavidya.de zu findenden Vortrag benutzt und dem Begriff “Lebensziel” vorzieht. Er richte sein Leben darauf aus, “anderen Menschen Gutes zu tun. […] Neues zu lernen, Fähigkeiten zu kultivieren, Erfahrungen zu machen. Neugierig zu sein.” Oder schlicht auf “Gottverwirklichung”.

Anliegen statt kurzfristige Ziele

Mit “Anliegen” habe man, so Gerald Hüther, hierzulande “nicht so sehr viel Erfahrung, weil wir natürlich immer sehr schnell in diese Zielorientierung gehen.” Die gelte es zu überwinden. Ein solches Anliegen könne zum Beispiel sein, niemals die eigene oder die Würde eines anderen Menschen zu verletzen. Oder aber, sich für den Erhalt der Artenvielfalt auf diesem Planeten einzusetzen. Das könne das ganze Leben bestimmen, auch wenn es im Zusammenleben unvermeidbar sei, dass es etwa zu Beschädigungen der Würde komme. Auch werden wir es wohl nicht erleben, dass der Mensch die Umwelt gar nicht mehr verschmutzt.

Nichtsdestotrotz bekäme auf diese Weise das Leben “eine Orientierung, die über das Erreichen kurzfristiger Ziele hinausreicht.” Aus neurobiologischer Sicht wirke ein solches “mit voller Kraft und vollem Herzen angestrebtes Anliegen kohärenzstiftend”. Sprich: Es bringt das Hirn, auf das tagtäglich jede Menge Chaos einprasselt, zur Ruhe, erleichtert ihm seine Arbeit und schafft eine gewisse Form von Ordnung, Halt und damit Zufriedenheit. Vielleicht sogar Glück. Vielleicht sogar Sinnhaftigkeit.

Wie Sinn uns Kraft gibt

Foto: Eberhard Grossgasteiger via Unsplash

Wenn wir uns den konfuzianischen Weg, der das Ziel ist, bildlich vorstellen, könnte man vielleicht sagen: immer der Sonne nach! Die strahlt mal hell, ist mal von Wolken verdeckt, je nach Tageszeit in unterschiedlichen Himmelsrichtungen zu sehen, aber sie ist immer da – um zu wärmen und Verbindung zu schaffen. Apropos, Stichwort Kohärenz, siehe oben: Wer sein Leben als kohärent empfindet, darin also Sinnzusammenhänge findet, auch solche, die über die eigene Existenz hinausgehen, dessen Resilienz, sprich seelische Widerstandsfähigkeit, ist in der Regel ausgeprägter als bei denjenigen, denen ein solches Kohärenzempfinden fehlt.

Dem israelisch-US-amerikanische Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) zufolge basiert dieses Gefühl auf drei Faktoren: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Soll heißen: Wenn ich Herausforderungen, mit denen ich konfrontiert werde, nachvollziehen und sie in mein Leben einordnen kann, wenn ich überzeugt davon bin, mein Dasein selbst (mit-)gestalten zu können und dafür die passenden Ressourcen zur Verfügung zu haben, wenn ich fest daran glaube, dass das, was ich tue, auch wenn es Mühe kostet, einen Sinn hat – und wenn ich mir darüber hinaus Einwirkungen von außen und innen erklären kann, dann fühle ich mich seelisch gesund und stabil genug, mein Leben zu meistern, auch wenn es Widerstände gibt.

Ziele? Jein, danke!

Fazit: Kurzfristige Ziele, sofern wir sie nicht verbissen und stur “geradeaus” verfolgen, sondern mit einer gewissen Offenheit nach “links und rechts”, können unser Leben zwar bis zu einem gewissen Grad strukturieren und eine grobe Form von Orientierung schaffen, für ein nachhaltiges Gefühl von Sinnhaftigkeit braucht es allerdings etwas, was über unser eigenes kleines Dasein hinausgeht. Ein Ideal, dem anzunähern wir uns stetig bemühen, in dem vollen Bewusstsein, dass wir es nie erreichen werden. Lassen wir das Schlusswort den kleinen Philosophinnen und Philosophen vom Beginn dieses Artikels: “Wir sind auf der Welt, weil wir ein Teil der Geschichte vom Leben sind.” Und: “Für mich ist der Sinn des Lebens die Liebe.”


Carmen_Schnitzer, Autorin Yoga Journal

Carmen Schnitzer arbeitet als Journalistin und schreibt seit Jahren für das YOGAWORLD JOURNAL. Eines ihrer langfristigen Ziele: Sie möchte dazu beitragen, dass Menschen “bunter” denken. Erfahre mehr über die Autorin und besuche ihre Facebook-Seite.


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