Bleibt alles anders: Interview über Ashtanga Yoga

Ashtanga Yoga gilt als ausserst herausfordernd und strukturiert. trotzdem lässt es Raum für Entwicklungen. ein Gespräch über Tradition und Innovation, über Missverständnisse und typisch westliches Denken mit den beiden Ashtanga-Yogalehrern Ronald Steiner und Janosch Steinhauer.

Meine erste Begegnung mit Yoga war Ashtanga Yoga. Ich hatte mir vorher keine Gedanken darüber gemacht, welchen Stil ich für mich wählen wollte – Yoga war für mich einfach nur Yoga. Zu Beginn war es eine Black Box, so ein Hörensagen von Entspannung und Körpergefühl. Ashtanga Yoga sei die älteste, die wahre und traditionelle Yogaform, erklärte mir meine erste Lehrerin. Alles andere sei danach erfunden worden und würde nicht mehr dem entsprechen, was die jahrtausendealte Yogatradition eigentlich vermitteln wollte. Acht Jahre Yogapraxis und zahlreiche Gespräche später, erscheint mir diese Aussage fragwürdiger denn je. Liegt es nicht in der Natur der Sache, dass sich die Dinge verändern? Ist Entwicklung nicht der Motor unseres Daseins? Oder würden wir gut daran tun, „back to the roots” zu gehen, statt einen neuen Yogastil nach dem anderen zu entwickeln?

Im Gespräch mit Ronald Steiner, Sportmediziner und einem der wenigen ganz traditionell von Sri. K. Pattabhi Jois authorisierten Ashtanga-Lehrer, und mit Janosch Steinhauer, einem AsthangaYogaInnovation-Lehrer und ehemaligen Kampfsportler, suchte ich nach Antworten.

YJ: Wenn ich erzähle, dass ich nach Ausflügen ins Anusara und Jivamukti wieder Ashtanga Yoga praktiziere, höre ich Dinge wie: immer dasselbe, zu anstrengend, zu wenig Alignment, viel zu streng. Ist das die Essenz der Ashtanga Yogatradition oder sind das überholte Vorurteile?

Janosch: Ashtanga Yoga basiert tatsächlich auf der immer gleichen Übungsfolge und kann extrem herausfordernd sein. Es stimmt auch, dass Ashtanga sehr viel mit Disziplin zu tun hat. Und nicht alle Ashtanga-Lehrer sind Adjustment-Profis und nicht alle Schüler haben das perfekte Alignment, aber das gilt aus meiner Sicht wohl für jeden Yogastil. Man kann Ashtanga Yoga aber auch viel spielerischer betrachten, als das gemeinhin getan wird: Ashtanga lebt von der Magie der Wiederholung und der Selbstbeobachtung. Wenn man sich täglich mit oberflächlich gleich scheinenden Dingen auseinandersetzt, dann wird man tiefer darin eintauchen und lernen, seine eigenen Grenzen wahrzunehmen und sie vielleicht auch nach außen verschieben. Ein Boxer übt ja auch täglich die Gerade, den Haken und den Uppercut.

Du vergleichst Yoga mit Boxen?

Janosch: Ich beschäftige mich mit vielen Arten der Körperarbeit, mache aktuell wieder brasilianisches Jiu Jitsu und experimentiere mit Myofascial-Release-Techniken, wie zum Beispiel mit der Blackroll oder Lacrosse-Bällen. Wichtiger, als was man macht, ist, wie man es macht. Ashtanga Yoga schult den Umgang mit sich selbst, mit seinem Körper, mit dem Atem. Die traditionelle Abfolge ist dabei ein großes Geschenk, denn man ist in der Lage, selbstständig zu üben und hat jeden Tag eine Referenz zu seiner persönlichen Entwicklung.

Ronald, Janosch hat seine Ausbildung bei dir gemacht. Wenn er von der traditionellen Abfolge spricht, geht es dann um das, was von Sri Tirumalai Krishnamacharya bereits vor fast 100 Jahren gelehrt wurde?

Ronald: Manche Traditionalisten mögen das ihren Schülern erzählen, doch die Wahrheit ist, dass Yoga eine lebendige Tradition ist und alles, was lebt, verändert sich. Um das Jahr 1916 beschloss Sri Krishnamacharya, den sagenumwobenen Yogi Yogeshwara Rama Mohan Brahmachari zu suchen. Man sagt, nach zweieinhalb Monaten Fußmarsch durch den Himalaja habe er ihn endlich in einer Höhle am Fuße des Berges Kailash gefunden. Dort soll er siebeneinhalb Jahre lernend verbracht haben und von seinem Lehrer in die Tiefen des Yoga eingeführt worden sein. Sein Studium umfasste die praktischen Aspekte, bestehend aus Asana, Pranayama und Vinyasa genauso wie Philosophie. All das soll auf einem uralten Buch, der Yoga Korunta von Vamana Rishi, basiert haben. Als Krishnamacharya dann 1924 begann, in Mysore zu unterrichten, berief er sich auf diese Traditionslinie. Man könnte also meinen, wir praktizieren heute ein Übungssystem, welches vor Tausenden von Jahren so festgehalten und nie verändert wurde. Fakt ist allerdings, dass die Yoga Korunta bis heute nie gefunden wurde und vielleicht so nie existiert hat. Fakt ist auch, dass Krishnamacharya den Einflüssen des Westens gegenüber sehr aufgeschlossen war. Anfang des 20. Jahrhunderts florierten in Europa Gymnastik und Körperertüchtigungssysteme. Sie wurden von der englischen Kolonialmacht auch nach Indien gebracht. An jeder Schule wurde damals Gymnastik unterrichtet. Ganz offensichtlich ist: Ausgehend vom mittelalterlichen Hatha Yoga können wir im Unterricht Krishnamacharyas viele Parallelen zu diesen europäischen Körperertüchtigungssystemen feststellen. Und auch im weiteren Verlauf hat sich das Ashtanga-Yogasystem von Krishnamacharya weiter verändert und entwickelt.

Allerdings sagte Pattabhi Jois: „Never changed anything“. Wie ist das zu verstehen?

Ronald: Diese Aussage muss man im Zusammenhang mit der typisch indischen Weltsicht sehen. Im Gegensatz zur westlichen Evolutionstheorie, nach der sich alles zum Besseren weiterentwickelt, liegt in Indien das Gute im Ursprung. Je älter die Quelle, desto wichtiger und richtiger ist sie. So berufen sich Iyengar und Jois auf Krishnamacharya, er wiederum auf Ramamohan Brahmachari und dieser wird sich sicher auch auf seinen Lehrer bezogen haben. „Ich habe nichts verändert“ heißt also vor allem: Ich berufe mich voller Respekt auf eine alte Tradition. Es heißt aber nicht, dass in der Praxis tatsächlich keine Veränderungen möglich oder erwünscht sind. Es lassen sich zahlreiche Dinge aufzählen, die sich im Laufe von Pattabhi Jois‘ Lehrzeit verändert haben: von der Anzahl an Atemzügen, über Einstieg in und Ausgang aus Asanas, neu eingeführte oder entfernte Positionen in der Übungsfolge, bis hin zur Aufteilung der Übungsserien. Und natürlich verändert sich ein und dasselbe Yoga mit jeder einzelnen Schüler-Persönlichkeit. In der Essenz ist Yoga immer gleich, es geht um die Erkenntnis unseres wahren Selbst oder des Göttlichen. Die Techniken und Methoden jedoch veränderten sich im Lauf der Zeit: Sie entwickelten sich durch die Weitergabe in neue Kontexte und fächerten sich in den verschiedenen Traditionslinien weiter auf.

Du hast einen Weg gefunden, die Ashtanga-Tradition zu bewahren und gleichzeitig weiterzuentwickeln?

Ronald: Ja. In der von mir entwickelten AYInnovation-Methode verbinde ich die klassischen Übungsfolgen des Ashtanga Yoga mit modernen Erkenntnissen aus Wissenschaft, Medizin und Bewegungslehre. Ziel ist eine für den Schüler sehr persönliche Yogapraxis – von therapeutisch-präventiv bis hin zu sportlich-akrobatisch. Um jedem gerecht zu werden, liegt der Fokus je nach Alter und Konstitution woanders. Einer mag sehr athletisch üben, während für den anderen der Schwerpunkt eher auf Therapie oder Prävention liegt. All das ist innerhalb der traditionellen Übungsfolge möglich – mit Varianten und Anpassungen. Ich glaube nicht, dass ich mich dadurch zu weit von der Ashtanga-Tradition entferne. Im Gegenteil: Ich glaube, dass Tradition lebendig sein muss.

Janosch, es scheint, als würde Ronald seinen Schülern viel Freiraum für eine individuelle Entwicklung geben.

Janosch: Das empfinde ich tatsächlich so. Er legt großen Wert auf das Fundament, die Tradition, die Basis. Aber was man daraus entwickelt, bleibt jedem selbst überlassen. Ob Kampfsport, Meditation oder ein langer Spaziergang. Yoga ist die Freiheit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Und dafür kann es keine Regeln geben, außer man gibt sie sich selbst.

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