Oft kreisen unsere Gedanken um längst Vergangenes. Oder sie schweifen in die Zukunft. Dabei übersehen wir, was für unser Leben grundlegend ist: den gegenwärtigen Moment. Die französische Zen-Nonne Kankyo Tannier will dem entgegenwirken und zeigt in ihrem neuen Buch, wie du ins Hier und Jetzt zurück findest. Zum Beispiel mit Kinhin, einer Gehmeditation im Atemrhythmus.
Sie bloggt und produziert Videos über Spiritualität, Meditation, Zen-Buddhismus und Stille: Die buddhistische Zen-Nonne Kankyo Tannier nennt sich scherzhaft “Nonne 2.0”. Sie unterrichtet Zen-Meditation (Zazen), gibt Seminare, leitet Retreats und tritt auf Konferenzen als Rednerin auf. Noch dazu arbeitet sie als Hypnose-Therapeutin und Autorin. Wir durften der unglaublich sympathischen und offenen Frau, die ziemlich gut deutsch spricht, ein paar Fragen stellen.
Mini-Interview mit Kankyo Tannier
YW: Kankyo, Sie leben im Kloster und wirken gleichzeitig total gelassen in der hektischen Welt “da draußen”. Wie schaffen Sie den Spagat zwischen Mediation, Ruhe, Abgeschiedenheit und der Hektik der Alltagswelt?
Kankyo: “Ich habe durch die Zen-Lehre gelernt, keine Trennung zwischen “hier” und “dort” vorzunehmen. Zwischen Kloster und Stadtleben. Im Herzen der Städte, mitten im Lärm, können wir in einem inneren Kloster sein, auch wenn es nicht einfach ist! Es geht darum, eine anderen Zugang zu den Gedanken zu finden, zu lernen, sich von ihnen zu befreien, sie frei zirkulieren zu lassen und dabei tiefe Freude zu erlangen. Und das ist überall möglich!”
“Digitale Welt trifft Zen” – wie passt das für Sie zusammen? Warum wollen Sie sich bewusst in beiden Welten bewegen?
Das digitale Leben ist uns zu einer “zweiten Natur” geworden. Ich bin gerade aus China zurückgekehrt, wo mein Buch im August veröffentlicht wurde. Dort konnte ich einen Einblick in unsere mögliche Zukunft gewinnen: Telefone, als ob sie mit den Händen verwachsen wären, die von morgens bis abends für Alles verwendet werden. Die Menschen dort lösen ein U-Bahn-Ticket, sie bezahlen die Einkäufe, sie planen den Tag, sie chatten mit dem Babysitter … Auch in Europa ist dieses Szenario bereits Realität – aber in geringerem Maße.
Es besteht keine Notwendigkeit, gegen die natürlichen Entwicklungen der Gesellschaft anzukämpfen. Aber es besteht eine große Gefahr: die, uns von der Realität abzuschotten! Außerhalb der realen Welt zu leben, den direkten Kontakt zwischen den Menschen zu reduzieren. Das birgt die Gefahr, den damit verbundenen Sinn des Lebens zu verlieren. Dabei ist es die Interaktion mit unserem Gegenüber, die uns Halt gibt. Nicht das Gegenüber auf Facebook, sondern die Mitmenschen, die ich auf meiner Straße sehe, wenn ich von meinem Handy aus aufblicke. Das sollen meine Bücher vermitteln, ohne die Moderne abzulehnen.
Oft heißt es: “Früher, ohne Internet, Handy und Co. war alles besser!” Wie sehen Sie das Problem der digitalen Überpräsenz?
Das Problem des Lebens “außerhalb der realen Welt” ist, dass man in die virtuelle Welt des Digitalen gesaugt wird. Das ist das Gegenteil der Gegenwart, die wir im Zen lehren. Und das digitale Leben ist sehr komfortabel, macht Spaß, wie eine wohltuende Zuflucht … Was das spirituelle Leben betrifft, so ist es wichtig, sich der Realität zu stellen: zu lernen, die Augen öffnen, Gerüche wahrzunehmen, Emotionen zu spüren und wieder ein vollständiger Mensch zu werden. Nicht nur ein Roboter, der über das Internet ferngesteuert wird.
“Unterwegs ins Hier & Jetzt”
Und Genau diesen Themen widmet sich Kankyo Tannier auch in ihrem neuen Buch “Unterwegs ins Hier & Jetzt”. Darin zeigt sie dem Leser in einem einfachen 30-Tage-Kurs wie Achtsamkeit und Spiritualität zu einem selbstverständlichen Teil unseres Alltags werden – der auf einmal so viel mehr an Lebensfreude, Gelassenheit und Glücksgefühlen für uns bereithält, als gedacht. In folgendem Auszug aus Kankyo Tanniers Buch beschreibt die Autorin die Magie des Atems in Kombination mit Kinhin, einer Meditation im Gehen.
Die Magie des Atems – eine Gehmeditation
Ritual: Kinhin, die Gehmeditation: (…) Kinhin ist ein Gang im Rhythmus der Atmung, der im Zen-Buddhismus sehr verbreitet ist. In den Stadt-Dôjôs laufen die Meditationssitzungen meistens folgendermaßen ab: dreißig Minuten Zazen (Sitzmeditation), zehn Minuten Kinhin (Gehmeditation), dreißig Minuten Zazen. Die aufrechte Meditation basiert ganz und gar auf der Atmung. Sie hat den Vorteil, unseren Geist wieder in den Körper zu holen, ins Innere; wir kommen dabei “nach Hause”, vom Keller bis zum Dachboden, von den Füßen bis zum Kopf.
Wie man übt
Beginnen Sie die Übung, indem Sie sich beckenbreit hinstellen und dann einen Fuß in Fußeslänge vor den anderen setzen. Verlagern Sie nun beim Ausatmen das ganze Gewicht Ihres Körpers auf das vordere Bein. Bis zum Ende des Ausatmens. Halten Sie einen kleinen Moment inne und lassen Sie den Einatem von selbst kommen. In genau diesem Augenblick – wenn der Atem durch die Nasenlöcher eintritt – machen Sie einen halben Schritt nach vorn. Und dann beginnen Sie von vorne. Beim Ausatmen stützen Sie sich auf das vordere gestreckte Bein. Beim Einatmen gehen Sie ganz leicht, einen ganz kleinen Schritt nach vorn. Was die Haltung von Händen und Armen angeht, so bildet die linke Hand eine Faust, wobei der Daumen sich im Innern befindet. Die Daumenwurzel liegt vor dem Solarplexus, unterhalb der Brust. Die rechte Hand umfasst die linke Faust. Die Ellenbogen werden waagerecht gehalten, um eine gewisse Energie im Körper aufrechtzuerhalten.
Die Wirbelsäule ist dank eines leichten Ziehens des Scheitels zum Himmel gestreckt. Die Füße sind im Boden verwurzelt. Die Augen – ein ganz wichtiger Punkt – sind schräg zum Boden hinab gerichtet, um den Blick und die geistigen Bilder zu beruhigen. Sie sind halb geschlossen und der Blick ist auf nichts fixiert. Völlig ruhig. Sie bleiben leicht geöffnet, damit an dieser Grenze zwischen innen und außen eine Form von zarter Präsenz beibehalten werden kann.
Aufgrund dieses Wechsels zwischen Spannung (Ausatmen, der Körper streckt sich) und Entspannung (Einatmen, der ganze Körper ist locker, bevor er vorangeht), stabilisiert sich die Atmung und kann zunehmend einen ruhigen Rhythmus annehmen. Auch wenn die ersten Schritte manchmal schnell sind, wird sich allmählich ein viel langsameres Tempo einstellen. Erzwingen Sie nichts. Lassen Sie Ihren Atem kommen, wie er will, ganz natürlich Indem Sie Ihren Körper und Ihre inneren Rhythmen respektieren, wird sich eine Ruhe ausbreiten wie ein Geschenk.
Wirkung (von Kinhin)
In den Siebzigerjahren ist der Choreograf Maurice Béjart dem charismatischen Zen-Meister Taisen Deshimaru begegnet. Daraus entstand ein lebhafter Austausch. Zwei Meister dieses Formats im selben Raum … Zu gern wäre ich Mäuschen bei diesem Schauspiel gewesen! Jedenfalls hat Béjart, zweifellos vom Einfluss und von der körperlichen Intensität Deshimarus fasziniert, an Zen-Retreats teilgenommen. Was das Kinhin angeht, so hat der große Choreograf erklärt: “Kinhin ist die Essenz des Tanzes.” Eine Weise, in seinem Körper zu sein, anstatt daneben. Vollkommen bewusst von Kopf bis Fuß.
Was Meister Deshimaru angeht, so lehrte er seine Schüler, das Kinhin mit “der Intensität eines Tigers, der einen Wald betritt” zu praktizieren. Nichts Geringeres! Mit Kinhin, dieser Meditation, die Körper und Atmung einschließt, werden Sie schnell eine zentrierende Wirkung spüren … und die Erleichterung, die daraus erwächst. Die Haltung beim Kinhin erfordert einiges an Aufmerksamkeit. Umso besser! Auf diese Weise ist unser Geist ganz und gar auf die zu vollführende Aufgabe gerichtet. Die Sorgen können den körperlichen Empfindungen weichen. Mit ein wenig Übung wird sich eine starke Konzentrationsfähigkeit einstellen. Nach einigen Tagen wird Ihnen ein sehr wirksames Ritual zur Klärung Ihres Geistes zur Verfügung stehen. Die erste Stufe eines jeden spirituellen Wegs.
Dosierung
Die Praxis des Kinhin erfordert keine besondere Ausrüstung. Ein Körper genügt, selbst wenn er etwas eingerostet oder mollig ist. Üben Sie Kinhin möglichst mit bloßen Füßen, um die Erde besser zu spüren. Und öffnen Sie Ihren Gürtel, damit Sie gut atmen können. Das ist alles.
Deshalb ist die Dosierung einfach. Die Praxis ist täglich für zehn Minuten zu üben. Zu Hause, auf der Arbeit während der Mittagspause, im Wald, in einem Park, an einem Gewässer, vor einem Fenster, beim Aufwachen … Alles ist möglich!
Allerdings empfehle ich Ihnen, Kinhin nicht auf der Straße zu üben, aus Rücksicht auf die wahrscheinlich fassungslosen Blicke der Passanten. Aber warum eigentlich nicht? Einer muss ja schließlich die Mode auslösen. Erinnern Sie sich: Als die Handys aufkamen, waren wir etwas überrascht oder gar beunruhigt, jemanden allein vor sich hin reden zu hören, während er mit großen Schritten die Straße entlangging. Seither ist so etwas eine Konstante in der Geräuschlandschaft der Städte geworden.
Also … I have a dream … (Achtung historische Erklärung!): “Ich habe einen Traum, dass in einigen Jahren die Städte von Menschen übersät sind, die die Gehmeditation praktizieren. An der Bushaltestelle, in den Warteschlangen, im Supermarkt, auf den U-Bahnsteigen, in den Foyers zu den Vorstellungen … Es ist mein Traum, dass in all diesen Bereichen, wo wir gewöhnlich ungeduldig sind, der Mann und die Frau der Zukunft mit Würde und Eleganz Kinhin praktizieren.”
Amen.
Kankyo Tannier, “Unterwegs ins Hier & Jetzt. Buddhistische Impulse, um aus
jedem Moment das Beste zu machen”
DEUTSCHE ERSTAUSGABE
224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-7787-8290-3
€ 18,00 [D] | € 18,50 [A] | CHF 25,90 (UVP)
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