Liebe wachsen lassen – eine Meditation und ein Übungsweg

Wenn es ein Gefühl gibt, nach dem wir uns alle sehnen, dann ist das die Liebe. Aber was meinen wir überhaupt mit dem, was wir da mitunter verzweifelt suchen oder um jeden Preis festhalten wollen? Unser Meditationsexperte ist überzeugt: Liebe kann vieles sein – vor allem aber ist sie ein Übungsweg.

Text: Ulrich Hoffmann

Unsere Freundin Franzi erzählt bei jedem Treffen ausführlich von ihren aktuellen Eroberungen: Der junge Mann auf der Hochzeit einer Freundin. Eine Urlaubsbekanntschaft. Ein Date von Tinder. Viele wollen mit ihr ins Bett, sie mit manchen auch. Mit anderen flirtet sie nur, geht tanzen und genießt es, umworben zu werden. Das ist total okay. Würde sie nicht nach einer längeren Pause hinzufügen: “Ich verstehe nicht, warum ich niemanden finde, in den ich mich so richtig verlieben kann.” Was sie sucht, ist die Liebe unserer Elterngeneration – stabil über Jahrzehnte – ohne deren Nachteile wie Langeweile, Desinteresse oder Streit. Stattdessen bitte: lodernde Leidenschaft, spritzige Sexualität, zärtliche Zweisamkeit.

Bei meinem Kollegen Dirk stellt sich die Situation genau andersherum dar. Seit über zehn Jahren berichtet er bei jedem Telefonat davon, wie schrecklich das Zusammenleben mit seiner Freundin sei. Aber, na ja, sie haben das Haus gemeinsam gemietet, den nächsten Urlaub bereits gebucht: “Besser als Alleinsein ist es schon.”

Und dann ist da noch eine ältere Bekannte, Sylvia, die nach dem Auszug der Kinder und der Trennung von ihrem Mann allein mit ihren Katzen lebt. Sie unternimmt lange Spaziergänge, belegt kreative Handwerkskurse und ist “so glücklich und frei wie noch nie”. Sie sei “verliebt in das Leben und das Universum”, sagt sie. Sind Sylvias Liebe und die Liebe von Dirk und Franzi überhaupt dasselbe? Oder beschreiben die drei ganz unterschiedliche Dinge, für die wir nur keine ausreichend präzisen Bezeichnungen haben?

Die Liebe soll das Ego retten

Umfassende Liebe soll allen Schmerz auslöschen, alle Sorgen dahinschmelzen lassen. Unsere Vorstellung von “Liebe” entsteht durch Filme, Bücher, Eltern, Erfahrungen. Viele hadern mit der Liebe, fühlen sich nicht ausreichend geliebt oder ganz und gar ungeliebt und das hat seine Wurzeln meist schon in der frühen Kindheit. Oft beginnt das Interesse an sogenannten “spirituellen” Themen dann als Suche nach einer Liebe, auf die Verlass ist, die einem niemand mehr nehmen kann. Gerade in spirituellen Kreisen halten es da viele mit den Beatles: “All You Need Is Love”, denn die Liebe durchdringe und durchströme dich und mich und uns alle, sodass wir letztlich ohnehin eins seien. Für andere spirituelle Lehrer ist die Liebe dagegen eine verhängnisvolle Leidenschaft, die zu Verlangen und Abhängigkeit führt – weswegen man sie am besten vermeidet oder transzendiert. Und dann ist da noch die Liebe zu einem Gott, die Liebe zur Umwelt, die Liebe zu meiner Schwester und die “Liebe” mit dem One-Night-Stand.
Kann das alles wirklich dieselbe Liebe sein? Und wie kann ich mehr Liebe aller Art in mein Leben lassen? Mehr Sex, mehr Freundlichkeit, mehr positives Denken?

Drei Arten von Liebe

Wir alle wünschen uns mehr Liebe. Gerade deshalb lohnt es sich, mal etwas genauer hinzuschauen: Welche Arten der Liebe gibt es, wie lassen sie sich kultivieren, und woher weiß ich, wann es Zeit für welche ist? Das Wort „Liebe“ bezeichnet in meinen Augen mindestens drei sehr unterschiedliche Dinge:

  1. Eine absolute Liebe, die allgegenwärtig und allumfassend ist. Sie stellt sozusagen das Fundament der Welt dar. Im Angesicht des Elends und der Not manchmal ein bisschen schwer vorstellbar. Ähnlich wie man sich fragt, warum ein “gütiger Gott” eigentlich Kriege zulässt. In spirituellen Kreisen ist es erklärtes Ziel, diese Liebe wahrzunehmen, die uns alle verbindet.
  2. Unsere eigenen Wahrnehmungen der Liebe, vom Verschmelzen im Orgasmus bis zur vielleicht eher widerstrebenden Liebe für die Eltern. Diese intensive Zuneigung ist meist an Personen, Wesen, Orte oder Handlungen gebunden. Wir “lieben” nicht nur einen Menschen, sondern auch ein Restaurant, eine neue Serie, den Spaziergang durch den Park, das gute Wetter im Urlaub. Diese Liebe ist Schwankungen unterworfen und zum Teil abhängig von den Umständen oder dem Verhalten anderer.
  3. Liebe als Sadhana (zielgerichtete spirituelle Disziplin). Diese Ebene ist die unbekannteste – und meiner Ansicht nach der vielversprechendste Weg zu mehr Liebe im Leben!
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Liebe einüben

Egal ob wir Gott, unsere Freundin, die Katze oder Lasagne lieben – solange wir unser Gefühl mit Erwartungen aufladen, kann auch die Erwiderung nicht bedingungslos sein. Die Lasagne kann misslingen, die Katze weglaufen, die Partnerin verliebt sich anderweitig. Dann scheint es so, als halte Gott seine schützende Hand über jeden außer mich und ich erkenne: Auf diese Art der Liebe ist kein Verlass. Darum empfiehlt es sich, zumindest ergänzend eine andere Art von Liebe zu üben. Und zwar genau so wie Vokabeln, Tanzschritte oder Zaubertricks. Damit meine ich die Liebe, die wir in jede Handlung und jeden Blick auf die Welt legen können. Sie steht uns jederzeit zur Verfügung. Und es liegt allein bei uns, sie zum Leben zu erwecken.

Ob es auch wirklich Liebe ist, wenn wir “nur” liebevoll handeln, weil wir es uns vorgenommen haben? Das ist eine schwierige philosophische Diskussion. Für mich reicht da die Erkenntnis aus, dass das, was wir immer wieder tun, unseren Charakter und unser Leben am meisten prägt. Und so haben wir auch die Möglichkeit, liebevolles Handeln zu üben und immer mehr zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen.

“Wie würde ich handeln, wenn ich jemand wäre, den ich sympathisch finde?” Diese auf den ersten Blick etwas theoretische Frage erweist sich dafür im Alltag als gute Richtschnur. Sie führt zu wenig spektakulären Entscheidungen: Menschen, die wir mögen, leben selten an den Extremen, sind keine brutalen Alphatiere oder weinerlichen Egozentriker. Sie sind genau wie wir, wenn wir so sein dürfen, wie wir sein möchten. Dann mögen wir uns. Dann lieben wir uns und die Welt, die wir erschaffen.

Führt das zu mehr Romantik oder Sex? Es führt jedenfalls zu mehr Offenheit, Durchhaltevermögen, Interesse an der Welt. Und damit indirekt, davon bin ich überzeugt, zu genau den Qualitäten, die stabile, tiefe Beziehungen ermöglichen. Die Liebe in jeder Handlung auf diese Weise zu üben und zu kultivieren, öffnet das Herz für jene Eindrücke, die nicht unseren Erwartungen entsprechen und “trotzdem” schön sind.

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Übung: Liebe wachsen lassen

Liebe ist kein Zufallsprodukt. Man kann sie auch wachsen lassen – zu einem allumfassenden Gefühl, wie wir es zum Beispiel beim Anblick eines kleinen Kindes empfinden oder auch in einem wundervollen Moment in der Natur. Es geht um jenen Augenblick, in dem man stöhnen möchte: “Ach ist das schön, alles ist gut!”

  1. Nimm eine entspannte Haltung ein – im Sitzen oder Liegen –, hole tief Luft und lass den Atem dann wieder ausströmen. Bemühe dich, möglichst genau wahrzunehmen, wie sich das Atmen anfühlt. Diese ersten bewussten Atemzüge öffnen dir sozusagen das Tor in deine “Gefühlaufmerksamkeit” hinein.
  2. Löse deine Aufmerksamkeit nun von der Atmung und wende dich dem Gefühl der Liebe zu. Nicht zu jemandem oder zu etwas, sondern nur dem Gefühl an sich. Gib diesem Gefühl eine Form und eine Farbe. Es kann beispielsweise ein rotes Herz sein. Oder eine leuchtend grüne Rasenfläche. Ein Regenbogen. Was immer sich gerade heute gut und passend für dich anfühlt.
  3. Hege und pflege das Gefühl, lass es wachsen: Je nach deinem gewählten Bild wässere den Rasen, lasse die Sonne darauf scheinen. Halte dein Herz in deinen Armen und lächle es liebevoll an. Lasse am Kreuzungspunkt von Sonne und leichtem Niesel einen immer intensiveren Regenbogen erstrahlen. Was immer du in in deiner Vorstellungswelt tun kannst, um dein Bild der Liebe stärker, intensiver und größer werden zu lassen: Tue es, gerne, mühelos, mit Leichtigkeit.
  4. Versuche nun, nicht nur das Bild zu sehen, sondern das Gefühl zu spüren: Diese Liebe fühlt sich an, als würde die Zeit anhalten. Sie fühlt sich an wie eine warme Decke und zwei weiche Kissen. Sie bringt ein zartes Kribbeln und Flirren mit sich, keine Nervosität, sondern eine Wachheit und Aufmerksamkeit für den Augenblick. Lass zu, dass dich dieses Gefühl mit der Wucht des genau richtigen Songs im genau richtigen Moment erfasst, die Autofenster heruntergekurbelt und die Haare im Wind. Sie passt zu dir wie ein Lieblingskleid oder die weich getragene Jeans. Sie gibt dir Kraft und Stärke und die Wildheit, zu leben. Sie wird größer und größer, stärker und leuchtender: Das Gras strahlt grün, das Herz leuchtet rot, sie erfüllt dich von innen und umgibt dich von außen, sie erstreckt sich bis zum Horizont.
  5. Spüre und genieße das Lächeln auf deinem Gesicht und beende die Meditation, indem du noch einmal tief Luft einatmest. Tiefer. Noch tiefer. Halte den Atem einen Moment lang an, dann lasse ihn ausströmen. Achte dabei auf die Klarheit und Ruhe in deinem Innersten.

URLICH HOFFMANN ist Yoga- und Meditationslehrer und Autor mehrerer Meditationsbücher, darunter Erfolgstitel wie “Was Meditation wirklich kann”, “Übungsbuch: Meditation” und “Mini-Meditationen”. Sehr interessant ist auch sein Online-Meditationskurs “Einfach meditieren”. Mehr Infos unter ulrichhoffmann.de


Titelbild: Kristina Litvjak via Unsplash

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