Umgang mit Emotionen – Shivas Tanz

Der befreite Tanz des Großen Yogi Shiva hilft bei unserem geschickten Umgang mit Emotionen. Hier wendest du Yogaphilosophie auf deinen Alltag an.

Text: Amrit Stein, Titelbild: David Garrison via Pexels

Die Ikone des Nataraja zeigt Shiva als König des Tanzes. Sie ist in ihrer archetypischen Aussagekraft zu einem der bekanntesten Symbole des Hinduismus. Die aus Bronze gegossenen Nataraja-Statuen wurden vor allem im tamilischen Südindien während des Chola-Reichs (9. bis 13. Jahrhundert) verehrt. Der Legende nach führte Shiva seinen “Ananda Tandava”, seinen glückseligen Tanz, im Zentrum des Universums auf. Dieser mystische Ort in Tamil Tillai ist die südindische Tempelanlage Chidambaram. Es heißt, sogar Patanjali, der Urheber des Yoga, habe hier dem Tanz Shivas beigewohnt. Bis heute ist der Kult des Nataraja in Chidambaram lebendig. Dort huldigen Priester die Gottheit und Gläubige in tanzender Andacht.

Der Schöpfungstanz

Der kosmische Tanz des Nataraja ist ausdrucksstark, unbändig und wild. Dieser vollendete Yogi tanzt den Schöpfungstanz. Einen Reigen aus Entstehen, Bleiben, Vergehen, Illusion und Erlösung. Seine Schritte verkörpern die sich wandelnde Urbewegung des Universums. Von einer Aureole lodernder Flammen umgeben, formt sich die grobe Materie zum pulsierenden Rhythmus seiner Handtrommel, der Damaru. Die verfilzten Locken des Urasketen, Zeichen eines Yogin, wehen im Wirbel seines Tanzes. Seine Haarpracht zieren die Leben spendende Flussgöttin Ganga und die gefährliche Kobra, Symbol seiner Macht über die Kundalini-Energie.

Mit einem Repertoire schier endloser Schritte und Gesten schmückt der göttliche Tänzer die letztendliche Daseins-Sphäre. Sein ekstatischer Tanz ist Ausdruck spontanen Gewahrseins. Gleich flüchtigen Wolkenformationen am Himmel lösen sich die Gebärden des tanzenden Gottes in die unendliche Weite des Raumes auf. Dessen schöpferische Grundnatur bringt sogleich neue Formen hervor. Jede Pose seines energischen Tanzes ist ein kurzes Aufleuchten in ewigen Galaxien. Shiva tanzt mit vollendeter Grazie und alles durchdringender Kraft. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter seiner grenzenlosen Freiheit?

Shivas Geheimnis

Der Schlüssel liegt in der symbolischen Gestensprache des vierarmigen Nataraja. Seine obere rechte Hand hält Agni, das zerstörende und transformierende Feuer. Die obere linke Hand hält die sanduhrförmige Damaru-Trommel, zu deren Pulsieren die Welt immer neue Gestalt annimmt. Die Segens- und Schutzgeste des Urasketen bringt seine vom Handgelenk senkrecht nach oben angewinkelte rechte Hand zum Ausdruck. Währenddessen zeigt die linke, vom geraden Arm nach unten angewinkelte Hand zum Boden und verweist damit auf den Pfad der Befreiung.

Foto: Sabine van Erp via Pixabay

Dort hält Shiva mit seinem energisch aufstampfenden Fuß den Urdämonen Apasmara in Schach. Dieser ist die Verkörperung von Unwissenheit und solch negativen Eigenschaften wie Wut, Begehren, Gier, Eitelkeit und Eifersucht. Nur deshalb kann er sein linkes, leicht angewinkeltes Bein mit unvergleichlicher Grazie und Leichtigkeit zur rechten Seite hin anheben. Diese raumgreifende und perfekt ausbalancierte Geste ist das Hauptmerkmal der klassischen Nataraj-Pose. Sie umspannt der glückselige Tänzer und Yogin den gesamten Lebensraum der Menschheit und wird zum Sinnbild für vollendete Bewegungsfreiheit.

Umgang mit Emotionen – ein Tanz

Die Bedeutung Shivas als Weltentänzer auf der kosmischen Bühne ist nicht die einzige Bedeutung seines vieldimensionalen Tanzes. Shiva tanzt nicht nur in der Weite unendlich ferner Galaxien oder in der heiligen Tempelstätte Chidambaram. Shiva tanzt auch in unseren Herzen. Hier lenkt sein subtiler, innerer Tanz unsere psychophysischen Energien und bestimmt den Zustand unseres feinstofflichen Prana, des Atems und Bewusstseins.

Sind wir im Umgang mit Emotionen geschickt? So können wir unsere psychophysischen Energien lenken! Dann leben wir mitten in unserer Kraft. So fühlen wir uns lebendig und sind in Kontakt mit unserem Körper. Unser Geist ist wach und klar und wir erfreuen uns seelischer Gesundheit. Wir sind in der Lage, mit unseren Gefühlen umzugehen, auch wenn wir sie als einengend, schmerzlich oder sogar destruktiv wahrnehmen, denn wir haben den ständig lauernden Dämon der Unwissenheit unter Kontrolle gebracht. Neben allen Facetten des Lebens besitzen wir auch die Fähigkeit des Wandels. Wir bewegen uns und auch etwas in der Welt. Wir können alte Gewohnheitsmuster und vergangene Erlebnisse loslassen.

Tanzen wir unseren Lebenstanz aber auf einer illusionären Bühne aus Selbstbezogenheit, die Scheinwerfer unentwegt auf unser Ego gerichtet? Dann sind wir einem ausweglosen Kreislauf aus Hoffnung und Furcht unterworfen. Dann tanzt der dunkle Dämon der Unwissenheit mit uns. Wir gestalten unser Leben nicht wirklich selbst. Unausgeglichenheit, Steifheit, Verspannungen, Krankheit und Schwankungen in der Psyche sind nur einige der Folgen unseres unbewussten Verhaltens.

Der Weg des Yoga

Als Praktizierende des Hatha-Yoga sollten wir nicht nur nach mehr Beweglichkeit und Präzision in den Asanas streben. Sondern lernen, unseren Atem und unseren Geist zu meistern. Die präzise Beobachtungsgabe ist unerlässlich für die Analyse einer körperlichen Empfindung. Aber sie kann auch zu einem wichtigen Werkzeug für den bewussten Umgang mit unserer Psyche werden. Denn wenn wir aufmerksam betrachten und tief in uns hinein spüren, sind wir auf Tuchfühlung mit unseren Emotionen. Das ist der erste Schritt zu unserem befreiten Umgang mit Emotionen. Wenn unsere Emotionen zu schmerzhaft sind, wollen wir ihre Intensität nicht spüren. Wir kennen unendlich viele Tricks, um unseren störenden Emotionen nicht zu begegnen. Vielleicht unterdrücken wir unsere Wut oder Leidenschaft und leugnen, dass wir solche Gefühle haben.

Oder wir rechtfertigen unsere Gefühle. Dazu klammern wir uns an eine subjektive Wirklichkeit. “Ich habe das Recht, wütend zu sein”. “Es ist in dieser Situation vollkommen richtig, eifersüchtig zu reagieren”. Oder “Heute habe ich genügend Grund, schlecht gelaunt zu sein”. Aber ganz gleich welche Taktik wir anwenden, wir müssen der störenden Emotion zuerst begegnen, damit wir sie auflösen können. Damit wir aber tief in unsere Hoffnungen und Ängste blicken können, brauchen wir eine liebevolle Einstellung. Uns selbst anzunehmen, ermöglicht erst, den inneren Kampf zu beenden und Transformation zuzulassen. Ahimsa als oberstes Prinzip der Yogalehre, schließt dieses seelische Nicht-Verletzen mit ein.

Die Rolle des Atems

Um Körper und Geist in Einklang zu bringen, bedarf es einer Methode. Abgesehen von einer positiven Einstellung spielt das Atembewusstsein für unseren emotionalen und geistigen Zustand eine Schlüsselrolle. Es ist die Atemenergie, der Körper und Geist belebt und miteinander verbindet. Damit der Atem ungehindert fließt, ist eine harmonische Grundausrichtung des Körpers unerlässlich. Asanas sind hier von unschätzbarem Wert. Sie verhelfen zu einer ausgewogenen Koordination von Füßen, Beinen, Becken, Oberkörper, Schultergürtel und Kopf. Zudem erhöhen sie die Qualität des Atems.

Denn wenn der Atem tief und rhythmisch durch die Nadis fließt, erleben wir uns als harmonischer und befreiter. Das Stress-Level sinkt und gewohnheitsbedingte Verhaltensmuster lösen sich auf. Sind wir erst einmal mit unserer natürlichen Atembewegung vertraut, können wir dieses Bewusstsein auch im Umgang mit Emotionen der negativen Sorte nutzen. Das ist keineswegs einfach, wird aber mit fortwährender Übung möglich. Taucht eine starke Emotion auf, sollten wir unsere Aufmerksamkeit nicht im Affekt nach außen und auf das vermeintliche Objekt unserer Emotion richten. Stattdessen sollten wir tief nach innen schauen. Direkt in das Gefühl hinein. In das Feuer der Wut, in die Tränen der Enttäuschung oder in die Ruhe der Gleichgültigkeit.

Haben wir erst einmal diesen Zugang zum Gefühl geschaffen, können wir direkt in das Gefühl atmen. Dabei lassen wir unseren Atem anschließend lang ausfließen. Was vermag dieses Innehalten und die Rückbesinnung auf den Atem? Dann entsteht in einem Bruchteil von Sekunden die Freiheit, zu entscheiden, ob wir einem starken Gefühl Ausdruck verleihen. Das bewahrt uns davor, Gefühle blind auszuleben. Wir vermeiden törichtes Handeln, finden zu innerem Abstand und können unsere Situation gegebenenfalls in aller Ruhe und ohne Reue überdenken. Das verleiht unseren Entscheidungen Klarheit und Glaubwürdigkeit und erlaubt uns auch, ohne Furcht mit starken Emotionen umzugehen.

Hilfreiche Asanas

Im Hinblick auf eine Asanapraxis, deren Übungssequenz das bewusste Lösen von Emotionen thematisiert, können Drehhaltungen und Rückbeugen besonders effektiv sein. Erstere entspannen das Zwerchfell. Letztere bringen die Emotionen an die Oberfläche und haben dadurch eine befreiende Wirkung. Ganz allgemein ausgedrückt sind die “Ich-Kräfte” oder das Ego im Bereich des Zwerchfells und des Nabels angesiedelt. Wenn wir an einem allzu starren Selbstbild festhalten, kann dies zu starken Verspannungen im Zwerchfell führen. Das verhindert eine tiefe Atmung.

Lies mehr über das Solarplexus-Chakra.

Übe dafür Drehhaltungen wie Marichyasana III auf einer gut erhöhten Sitzunterlage oder Pasasana-Variationen. (Pasasana kann man auch modifizieren, z.B. auf einem Stuhl sitzend, oder in der Hocke mit Hilfe einer Wand). Diese haben eine besonders entkrampfende Wirkung auf das Zwerchfell. Vorausgesetzt die Drehbewegung geht von der unteren Bauchdecke aus und die Lendenwirbelsäule bleibt während der Drehung lang. Auch der in allen Yogarichtungen gängige Hund, Adho Mukha Shvanasana, lockert das Zwerchfell und bereitet die Drehübungen gut vor. Rückbeugen, in Verbindung mit einer die Rückbeugen ausgleichenden, abgerundeten Übungssequenz, wirken sich positiv auf das Loslassen von Emotionen aus. Durch die starke Öffnung des Brustkorbs geben wir unseren Gefühlen genügend Raum, sich auszudrücken. Indem Gefühle an die Oberfläche unserer Wahrnehmung gelangen, kommen wir mit deren Kraft in Berührung. Wir fühlen uns befreit, selbstbewusst und voller Tatendrang.


Portrait Amrit 01 klein

Die Autorin von “Umgang mit Emotionen”

Amrit Stein absolvierte eine klassische Tanzausbildung in Indien. Dort begegnete sie ihrem Yogameister B. K. S. Iyengar. Heute ist Amrit Co-Direktorin des Iyengar-Yoga-Instituts München. Ihre Mantra-CDs und das Hörbuch “Yoga & Gesang” sind bei Windpferd erschienen.

www.yoga-amritstein.de

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