Nervenmobilisation mit Gül Ruijter – Teil 3: Nerven-Flossing für den Nacken

“Flossing” kennen die meisten vermutlich nur von der Zahnpflege. Mit diesen Übungen “putzt” du stattdessen deine Nervenbahnen, du bringst sie zum Gleiten und sorgst dabei nicht nur für mehr Entspannung und Beweglichkeit im gesamten Körper, sondern kannst auch gezielt Nackenschmerzen entgegenwirken.

Text & Sequenz: Gül Ruijter, Fotos: Hanna Witte, Outfit: Kismet Yogastyle

Nerven-Flossing wird auch “Nerven-Gleiten” oder “neuronales Gleiten” genannt. Für mich ist es so etwas wie das nächste Level des Dehnens, denn diese kleinen Bewegungen können unglaublich viele positive Effekte mit sich bringen. Das Ziel ist es, die Nerven von Kopf bis Fuß durchzubewegen. Neben der Beweglichkeit verbessert das Flossing auch die Kraft, denn Muskeln können nur gut arbeiten, wenn die Nerven ihnen den richtigen Impuls dazu geben. Außerdem sorgen die mobilisierenden Bewegungen dafür, dass die Nerven besser durch das umgebende Gewebe gleiten können. Das mindert Verspannungen und Schmerzen im umliegenden Bereich.

Im letzten Teil der Reihe zum Thema Nerven lernst du dazu zwei Übungen kennen, die dir vor allem mehr Freiheit im Bereich von Hals und Nacken schenken. An der Halswirbelsäule treten viele Nervenbahnen aus, die vom Kopf aus durch das sogenannte Halsdreieck in die Peripherie des Körpers führen. Hier kommt es häufig zu einem tückischen Teufelskreis: Die Muskulatur im Halsdreieck ist durch langes Sitzen und das statische Halten von Kopf und Armen in einer Position verspannt. Das führt dazu, dass die Nerven gestresst werden und sich das umliegende Gewebe noch mehr verspannt.

gül ruijter nerven mobilisation nacken

Neben den klassischen Asanas kann die regelmäßige Mobilisation der Nerven diesen Kreislauf durchbrechen und zu einem nachhaltig entspannten Nacken führen. Die einfachen Übungen auf den kommenden Seiten kannst du auch zwischendurch im Büro ausführen. Dabei bewegst du nacheinander im Sitzen die Beine nach vorn und zurück und arbeitest zugleich mit den Füßen.

Was das mit dem Halsdreieck zu tun hat? Ganz einfach: Der Nerv, der bis zum Fuß zieht, beginnt seine Reise im Gehirn. Stell dir vor, du ziehst ein Handtuch durch ein Rohr. Auf der einen Seite schaut ein Stück des Handtuchs heraus und auf der anderen Seite nur ein Faden. Irgendwo in der Mitte des Rohres hängt das Handtuch fest. Was tust du, um das Handtuch wieder frei beweglich zu machen? Du hältst an beiden Seiten fest und ziehst im Wechsel daran. Ungefähr so funktioniert auch das Nerven-Flossing. Wir ziehen quasi an beiden Enden des Nervensystems – am Kopf und am Fuß – um eine allgemeine gute Gleitfähigkeit und somit auch eine Entspannung und gute Beweglichkeit im Hals-Bereich zu schaffen.

HINWEIS: Allgemein gilt für Nervenmobilisationen, dass du sehr achtsam üben solltest. Wenn wir Nerven gezielt bewegen, kann es durchaus leicht kribbeln oder ziepen. In einem schmerzfreien Ausmaß ist das unproblematisch. Wenn du jedoch merkst, dass die Übung sehr unangenehm wird oder ein Taubheitsgefühl auftritt, dann gehst du besser wieder raus aus der Bewegung. Die Übungen dienen zur Vorbeugung, können aber auch therapeutisch eingesetzt werden. Frage bei einer bestehenden Problematik aber besser deinen Arzt, deine Ärztin oder Physiotherapeut*in. Sie können einschätzen, ob die Übungen für dich hilfreich sind oder du den Nerv im Moment besser in Ruhe lassen solltest.

Los geht’s mit einem Test:

Setze dich auf den Boden, stelle die Füße auf und umfasse deine Knie. Mache deinen Rücken lang und dann bewege den Kopf vor und zurück: Kinn Richtung Brust und dann Richtung Decke. Beobachte genau, wie sich diese Bewegung anfühlt.

gül ruijter nerven mobilisation nacken
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Nerven-Flossing – Variante 1

Setze dich ans Ende deiner Matte und stelle die Füße so auf, dass sie nicht auf der Matte stehen. (Du kannst natürlich auch direkt auf dem Fußboden üben, wichtig ist nur, dass die Fersen leicht über die Unterlage gleiten können, was bei grippigen Yogamatten oft schwierig ist.) Setze die Hände hinter dir auf und lehne dich leicht zurück. Schiebe den einen Fuß nach vorn, bis das Bein gestreckt ist. Strecke die Zehen lang nach vorne und “greife” dann, als würdest du einen Stift mit ihnen halten wollen.

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Anschließend löst du den “Griff”, beugst das Knie und ziehst deine Zehen nach oben, während du die Ferse wieder Richtung Sitzfläche gleiten lässt.

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Wiederhole diese Bewegungen achtsam und langsam 10 Mal. Es kann gut sein, dass du ein paar Runden brauchst, um das Ganze gut koordinieren zu können. Anschließend wiederholst du die Übung mit dem anderen Bein.

Nerven-Flossing – Variante 2

Die Beinbewegung ist hier genau dieselbe wie in der ersten Variante, nur führst du zugleich den Kopf nach vorn und zurück: Während du den Fuß nach vorne schiebst, senkst du den Kopf und bewegst das Kinn Richtung Brust.

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Dann ziehst du den Fuß wieder wie beschrieben heran und führst den Kopf dabei sanft nach hinten: Das Kinn hebt sich, der Hinterkopf sinkt Richtung Nacken.

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Wiederhole auch diese Bewegungen 10 Mal, bevor du zur anderen Seite wechselst. Diese Variante mobilisiert noch deutlicher das gesamte Nervensystem, da du, wie in der Einleitung beschrieben, an beiden Enden des Nervensystems gleichzeitig “ziehst” und nicht nur am unteren Ende.

Abschluss

Wiederhole den Test: Setze dich auf den Boden, stelle die Füße auf und umfasse deine Knie. Mache deinen Rücken lang und dann bewege den Kopf vor und zurück. Spüre genau hin: Wie fühlt sich diese Bewegung jetzt an? Kannst du einen Unterschied wahrnehmen?

Doppelter Effekt

Du hast mittlerweile gelernt, dass die Nervenmobilisation sich positiv auf Verspannungen, Beweglichkeit und Schmerzen auswirken kann. Doch da ist noch mehr! Unser Nervensystem spiegelt sich in unserer Haltung wieder: Stell dir einen ängstlichen Menschen vor – gebeugte Haltung, angespannte Schultern und Kiefer und so weiter. Man sieht Menschen den Status des Nervensystems oftmals eindeutig an. Andersherum wirkt es ähnlich: Wenn deine Körperhaltung aufgrund nicht mobiler Nerven angespannt ist und du dich eher klein machst, kann das auf Dauer auch zu einer Anpassung deiner Emotionen führen. Denn das Nervensystem funktioniert immer in beide Richtungen. Es ist also sowohl für deinen Körper als auch für deinen Geist eine Wohltat, die Nerven regelmäßig gezielt zu mobilisieren.


Hast du die ersten beiden Teile dieser Reihe schon gelesen?

Hier geht’s zu Teil 1:

Und hier geht’s zu Teil 2:


Gül Ruijter kennt sich aus mit Verspannungen und Schmerzen: Als Physiotherapeutin weiß sie genau, wie hier was zusammenhängt. Als Yogalehrerin kann sie dem klassischen Repertoire der “Krankengymnastik” allerdings noch viele ganzheitliche Bewegungen hinzuzufügen. Erfahre mehr über Gül und ihre Arbeit unter vondermatteinsleben.de, auf Insta @vondermatteinsleben oder in ihrem Podcast “Von der Matte ins Leben”.

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