Für die meisten Menschen klingt das Wort auch heute noch geheimnisvoll: “Tantra”. Ist es tatsächlich ein Weg zu mystischer Ekstase – oder doch bloß esoterische Spielerei? Wie nähern wir uns diesem Geheimnis am besten? Ralf Sturm, Sexualtherapeut und systemischer Berater, hat für uns eine Einleitung und thematische Einweisung erstellt.
Falls du an dieser Stelle eine präzise Angabe erwartest, wo und wann der Begriff “Tantra” entstanden ist und was er genau bedeutet, solltest du bereits an dieser Stelle umdenken, denn endgültige Antworten darauf gibt es nicht. Tantra ist und bleibt ein Mysterium. Wenn du dich darauf einlässt, kann Tantra jedoch zu einer faszinierenden Entdeckungsreise für dich werden, auf der es nicht um das schnelle Erreichen eines Ziels, sondern um die Entwicklung an sich geht.
Der Urspung des Tantra
Indologen wie der große Heinrich Zimmer sahen Tantra früher als Synthese der alten urindischen Mutterreligionen und der vedischen Philosophie, die arische Einwanderer mit nach Indien gebracht haben sollen. Heute ist diese Sichtweise mehr als umstritten. Man kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es diese Einwanderung überhaupt gegeben hat. Und doch bleibt die Idee interessant, wenn wir das Geheimnis von Tantra erfahren wollen. Sie zeigt eine Verbindung vom dualistischen Denken der Urkulturen mit der “Alles-ist-Eins”-Philosophie der Brahmanen. Am Anfang der Entwicklung unseres Bewusstseins sahen die Menschen sich von einer nährenden göttlichen Kraft getrennt, die deshalb im Außen anzubeten war. Vedanta hingegen lehrt, dass alles, was wir wahrnehmen können, lediglich eine Illusion ist, und die materielle Welt nicht zur Erfahrung des reinen Bewusstseins führen kann. Tantra bringt beide Aspekte dadurch zusammen, dass wir uns über geistige Vorstellungen und körperliche Empfindungen selbst als “göttlich” entdecken.
Shiva und Shakti: Reines Bewusstsein und universelle Kraft
Es mag verwirrend sein, aber die Philosophie hinter Tantra ist sowohl dualistisch als auch nicht-dualistisch. Im Tantra geht es allerdings auch gar nicht darum, etwas zu verstehen oder zu glauben: Es geht einzig und allein um die Erfahrung. Tantra – in welcher Form auch immer – ist stets ein praktischer Weg. Und ebenso einfach wie genial: Wenn das Absolute vom Relativen untrennbar ist, dann muss man das Göttliche im Weltlichen erfahren können. Im Tantra werden diese beiden Pole meist als Shiva und Shakti bezeichnet. Shiva repräsentiert das reine Bewusstsein, die einpünktige Konzentration. Shakti ist die universelle Kraft, die alle Namen und Formen annehmen kann, sich auf natürliche Weise überall verströmt, und ungebändigt ist. Sie sehnt sich nach der Sammlung durch den kraftvollen Fokus Shivas. Auf die gleiche Weise ist es sein Wunsch, sich in Shakti aufzulösen. Tantrische Praxis beginnt mit dem Erleben dieser Beziehung zwischen dem reinen Sein und der Ekstase der Lebendigkeit. Sie endet in ihrem Höhepunkt mit der Verschmelzung dieser beiden Pole – dort, wo die Erfahrung eins wird mit dem Erfahrenden.
Streng geheim: Über die Praxis schweigen
Das ist wahrhaftig kein bescheidenes Ziel. Schließlich sind sich die meisten spirituellen Schulen darin einig, dass es viele Leben lang dauert, bis man Erleuchtung erlangt. Die Praxis von Tantra gilt hingegen als “Highway” zu diesem überbewussten Zustand. Gehören wir jedoch zu den Schülern, die körperlich, mental und emotional in der Lage sind, die geballte Kraft der oben beschriebenen Erfahrung auszuhalten? Vielleicht sollten wir diesbezüglich realistisch sein. Zudem scheint ein mitfühlender Lehrer, der nicht von eigenen Motivationen gelenkt wird, heute schwerer zu finden als je zuvor. Welche Chance haben wir dann, Tantra kennen zu lernen? In jedem guten tantrischen Text steht geschrieben, wie wichtig es ist, über die Praxis zu schweigen. Weshalb sind die Anleitungen über Jahrhunderte oft nur mündlich überliefert und Texte lange Zeit geheim gehalten worden?
Besserer Sex durch Tantra?
Es gibt viele Erklärungen. Die energetischen Praktiken, besonders die, welche den Bereich der Sexualität betreffen, sind umstritten und können – so wird oft gesagt – bei falscher Anwendung zu physischen und psychischen Schwierigkeiten führen. Das populärste Beispiel ist sicherlich das Zurückhalten der Ejakulation des Mannes bei der sexuellen Vereinigung von Mann und Frau. In der Hatha Yoga Pradipika wird diese Technik als Vajroli beschrieben. Um “gute Liebhaber” zu werden, haben sich seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Tausende von Männern im Westen an dieser Praxis geübt. Meist sind sie langfristig gescheitert, manchmal tatsächlich mit gesundheitlichen Folgeproblemen. Aber ging es überhaupt darum? Ist Tantra ein Weg zu mehr “Leistung” in der Sexualität? Was führt tatsächlich zu “höheren” Erfahrungen?
Zwei Pfade die sich unterscheiden: Rechts oder Links?
Die indischen Schriften unterscheiden zwischen dem links- und rechtshändigen Pfad. Beiden Pfaden ist gemein, dass sie Vorgänge im physischen Körper und im Energiekörper sowie geistige Vorstellungen für sich nutzen. Alle physischen und psychischen Prozesse, die innerhalb des Mikrokosmos unseres Wesens ablaufen, werden als Abbildungen der Vorgänge im Makrokosmos des Universums gesehen. Vama Marga, der rechtshändige Pfad des Tantra, ist die “jugendfreie” Version. Wir setzen beispielsweise die Schwingung von Mantras oder die Visualisierung von Mandalas und komplizierten dreidimensionalen Yantras ein, um unser Energiesystem für Erfahrungen jenseits des Alltagsbewusstseins vorzubereiten. Auch Asanas, Pranayama, Mudras und Bandhas dienen dazu, die Energien in unserem Körper zunächst bewusster wahrzunehmen und anschließend unseren Vorstellungen entsprechend zu lenken.
Grenzenlos sein: Fühle dich wie Gott
Die Praxis kann auch Rituale einschließen, in denen metaphysische Kräfte angerufen werden, um den Übenden zu unterstützen. Einer der Höhepunkte ist schließlich die Visualisierung der eigenen Person als Gottheit. Wolltest du dich schon immer einmal so fühlen, wie Shiva oder Shakti selbst? Tantra erlaubt dir wirklich, grenzenlos zu sein – und doch findet rechtshändiges Tantra immer in einem gewissen Rahmen statt: In der Visualisierung können wir zur Gottheit werden und deren Qualitäten erfahren, um uns – zurück im Alltag – an diese Eigenschaften zu erinnern, die wir als in uns innewohnend festgestellt haben. Das macht uns stärker für die Yogapraxis und für unsere täglichen Aufgaben. Wir können dabei auch so weit gehen, dass wir uns die Vereinigung mit der gegenpoligen Gottheit des anderen Geschlechts vorstellen. Das kann tatsächlich zu einer Erfahrung führen, die uns vollständiger macht. Im besten Fall werden wir durch solche Visualisierungen weniger abhängig von externen Beziehungen. Auf diesem Übungsweg werden keine sexuellen Praktiken benutzt.
Shiva und Shakti verschmelzen
Dies ist Dakshina Marga, dem linkshändigen Tantra vorbehalten. Hier sieht man maithuna, das Vereinigungsritual, als Weg, die Energien von Shiva und Shakti zu verschmelzen. Das, was als Ziel des Kundalini Yoga bekannt ist, kann den Schriften nach im Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau erreicht werden. Wenn wir zu dem Bild vom Makrokosmos des Universums im Mikrokosmos des Körpers zurückgehen, dann ist diese Idee nicht abwegig. Ebenso wie aus dem allumfassenden ruhenden Bewusstsein das ganze Universum entstand, ist auch der Liebesakt ein Ausdruck der höchsten schöpferischen Kraft – eine Handlung völliger Hingabe und vielleicht ein Moment reiner Liebe. Schon diese Erfahrung kann uns verändern. Tantra belässt es darüber hinaus nicht dabei, die gewaltige Energie, die in der sexuellen Vereinigung steckt, passiv zu erleben. Sie soll vielmehr aktiv in die höheren psychischen Energiezentren gelenkt werden. Entlang des Hauptenergiekanals, Sushumna, lassen wir die Energie in die höchsten Chakras fließen. Das kann tatsächlich durch die bereits beschriebene Praxis von Vajroli Mudra geschehen, was als “Hochziehen der Samenflüssigkeit” erklärt wird.
Der eigene Körper als Spielwiese
Tantrische Techniken sind auch deshalb “geheim” gehalten worden, weil sie nicht immer wörtlich gemeint waren. Wenn wir die Hatha Yoga Pradipika lesen, finden wir viele Bilder, die nicht unbedingt realistisch erscheinen. Als Anregung zu Assoziationen für die eigene Praxis sind sie jedoch ein reicher Schatz, den wir uns selbst durch achtsames Hinschauen erschließen können. Das ist möglich, wenn wir uns nicht auf der Suche nach Rekorden im Liebemachen durch die Tantras wühlen, sondern uns Zeit nehmen, kleine Versuche auf der Spielwiese unseres eigenen Körpers zu unternehmen. Oft werden wir dann überrascht, wie sich auf einmal der Horizont der möglichen Erfahrungen erweitert. Dazu muss nicht unbedingt immer gleich “die Erfahrung mit dem Erfahrenden verschmelzen”. Tantra kann auch ein Weg in kleinen Schritten sein. Ob mit oder ohne Partner: Wir können uns selbst besser kennen lernen, wenn wir uns bewusst den Energien zuwenden, deren Spielball wir sonst sind.
Atem und Achtsamkeit
Bleiben wir beim Bild der Energie des Mannes: Wird er wirklich dazu aufgefordert, das physische Wunder zu vollbringen, sich seinen Samen durch die Wirbelsäule ins Gehirn zu ziehen? Nein. Es geht um den Fluss der Achtsamkeit im eigenen Energiesystem. Und da kann ein Mann schnell eine überraschende Erfahrung machen, wenn er bewusst wird und lernt, seine Wahrnehmung mit Hilfe des Atems durch den ganzen Körper zu führen, anstatt sie nur an einer Stelle geballt zu lassen, bis er explodiert – in welcher Situation auch immer. Das gilt natürlich gleichermaßen für die Frau. Wenn wir die Energiezentren, die unsere innerpsychischen Vorgänge bestimmen, kennen und spüren lernen, haben wir einen viel größeren Raum, in dem wir uns selbst erleben können. Das erweitert auch unsere Möglichkeiten, auf das zu reagieren, was auf uns zukommt. Wir empfinden, wie oben erwähnt, den Makrokosmos des Universums im Mikrokosmos unseres Körpers. Bezogen auf die sexuelle Energie heißt das ganz praktisch: Wir können das, was uns antreibt, aus dem Schoß aufsteigen lassen, in unser Herz. Damit veredeln wir diese sehr ursprüngliche Empfindung zu etwas Hingebungsvollem. Und nach oben sind keine Grenzen gesetzt.
Mit der Erfahrung zurück in den Alltag
Tantra ist immer ein Weg der Achtsamkeit und egal, wie wir praktizieren, es darf sich gut anfühlen. Vielleicht erreichen wir nicht sofort die in den Schriften beschriebene vollständige Glückseligkeit, Ananda. Es spricht jedoch nichts dagegen, sich ihr in kleinen Schritten zu nähern. Dies kann geschehen, während wir mit einem Partner oder einer Partnerin zusammen sind, oder aber, wenn wir alleine auf dem Meditationskissen sitzen. Je mehr Bewusstheit wir in die Liebe und in unseren Alltag bringen, desto mehr sind wir alle Tantriker. Wer Tantra übt, wendet sich nicht vom Leben ab, sondern nutzt es.
Mit Tantra zu neuem Selbst-Bewusstsein
Das Schönste am Tantra ist: Es hört nicht damit auf, dass wir einmal diesen höchsten Zustand erreicht haben. Die Tantriker nennen das den “Abstieg der Kundalini”. Vielleicht wird es daran deutlich, wie wir die Welt sehen, nachdem wir uns selbst – wenn auch nur kurz – einmal als allumfassend wahrgenommen haben. Wie oft betrachten wir uns sonst schon mit gegensätzlichen Augen? Was ist an unserem Körper nicht alles zu dick, zu dünn, zu groß oder zu klein? In der Regel gehen wir nicht sehr freundlich mit uns selbst und anderen ins Gericht. Tantra erlaubt einen neuen Blick: Wir sehen uns als Verkörperung unseres wirklichen Selbst, mit großem “S”. Wie gut könnte es tun, wenn wir das den ganzen Tag praktizierten? Wenn wir mit diesem Bewusstsein in ein Bewerbungsgespräch gingen, mit unserem Partner sprächen oder mit unseren Kindern spielten. Wenn wir uns selbst als Shiva oder Shakti visualisieren und empfinden lernen, haben wir ausreichend Kraft, für uns und andere präsent zu sein. Das hat nichts mit Größenwahn zu tun. Denn als Gott und Göttin sind wir auch mitfühlend. Das ist im Paket mit drin. Viel Vergnügen beim täglichen Üben.
Der Autor Ralf Sturm ist staatlich geprüfter Heilpraktiker für Psychotherapie. Ausbildung Systemische Sexualtherapie bei Ulrich Clement (IGST Heidelberg), Systemische Paartherapie bei Dr. Arnold Retzer (SID Heidelberg). Als Autor zum Thema Partnerschaft ist er u.a. inspiriert von David Deida (Sexuelle Polarität) und Dr. David Schnarch (Crucible Neurobiological Therapy). Seit 1998 langjährige eigene Meditations- und Achtsamkeitspraxis in Europa & Asien (u.a. mit H.H. Dalai Lama, Thich Nhat Hanh) und Leitung von Ausbildungen zum Meditationslehrer. Seit 2011 Arbeit als Paar- und Sexualtherapeut, seit 2015 Dozent für Systemische Beratung und Therapie. Mehr über den Autor auf www.middendorf-sturm.de