Ständig erreichbar, online, vernetzt und in Verbindung zu sein, ist das genaue Gegenteil von der Verbundenheit, die wir uns eigentlich wünschen. Rina Deshpande erklärt, warum wir uns dem so schwer entziehen können – und wie es vielleicht dennoch gelingt.
Text: Rina Deshpande / Titelbild: Boris Jovanovic von Getty Images via Canva
Vielleicht kennst du diese Illustration zur Bhagavad Gita: Sie zeigt fünf feurige Pferde, die einen Wagen in verschiedene Richtungen zerren. Dieser Wagen steht für den menschlichen Geist, der gewaltsam von den fünf Sinnen mitgezogen wird: Sehen, Riechen, Schmecken, Hören und Fühlen. Genau wie starke Pferde können die Sinne nämlich mit uns davongaloppieren und Gelüste nach allem wecken, was ihnen angenehm ist: die visuelle Schönheit eines attraktiven Menschen, der angenehm süße Geschmack von Schokolade, schmeichelnde Worte, betörende Düfte und so weiter.
In so einer Verbindung der Sinne mit bestimmten Objekten, die sie begehren, kann eine zeitweilige Befriedigung liegen, aber sobald sie ein wenig davon gekostet haben, zerren sie uns erfahrungsgemäß auch schon wieder weiter, weg vom gegenwärtigen Augenblick, hin zu neuen Gedanken und neuen Begehrlichkeiten.
Kabelsalat im Kopf
Mich erinnert das an den Kabelsalat hinter unserem Fernseher: Ursprünglich war da mal ein Antennenkabel, mit dem ein paar wenige Programme übertragen werden konnten, und eine zweite Strippe, die zur Steckdose führte. Mit der Zeit kamen dann immer neue Kabel und immer neue Geräte dazu: Lautsprecher für besseren Klang, eine Streaming-Box für noch mehr Sendungen und Programme, ein Gerät für Touch-free-Technologie und was nicht alles mehr.
“Der Kabelsalat hinter meinem Fernseher war ein Sinnbild für die wachsende Reizüberflutung, der wir ausgesetzt sind.”
Irgendwann entstand ein kaum noch zu bändigendes Gewirr, das doch eigentlich nur einen ganz simplen Zweck erfüllen sollte: ab und zu mal eine Fernsehsendung anzuschauen. Doch vor lauter Wahlmöglichkeiten, Fernbedienungen und Einstellungen geriet diese ursprüngliche Funktion geradezu in Vergessenheit. Es war vor allem Stress – und ein Sinnbild für die wachsende Reizüberflutung, der wir ausgesetzt sind.
Das Gehirn als Gatekeeper
Dabei sind unsere Körper und Gehirne von der Evolution eigentlich schon gut darauf ausgelegt, uns vor solch kognitiver Überlastung zu schützen. Etwa 100 Milliarden Neuronen feuern bis zu 50 Signale pro Sekunde ab, damit wir unsere Sinneserfahrungen verarbeiten und angemessen auf sie reagieren können. (Falls dich das interessiert, kannst du es zum Beispiel auf der Website der Khan Academy nachlesen) Stell dir vor, wir würden all diese Prozesse bewusst wahrnehmen – allein die Idee ist schwindelerregend!
Stattdessen unterscheidet unser Gehirn automatisch und blitzschnell zwischen dringend und unwichtig, und sorgt so dafür, dass nur das an die Oberfläche des Bewussten kommt, was in diesem Moment relevant ist. So nimmst du zum Beispiel, während du diesen Artikel liest, die Temperatur auf deiner Haut nicht in allen Bereichen deines Körpers wahr. Du siehst die Formen und Farben an der Peripherie deines Blickfeldes nicht, du bemerkst nicht, welchen Geschmack du gerade im Mund hast – oder wenn doch, dann gerade erst jetzt, wo ich es erwähne. Weil dein vorrangiges Interesse im Moment darin besteht, diesen Artikel zu lesen, werden andere Sinneseindrücke beiseite geschoben.
Doch früher oder später sorgen sie vermutlich auch wieder ordentlich für Ablenkung. Die Pferde unserer Sinne scharren quasi ständig mit den Hufen und möchten lospreschen – jedes in seine Richtung: Pling, da ist eine Textnachricht angekommen. Hhhmm, es riecht nach frisch gebackenem Kuchen. Oh, die Sonne scheint durchs Fenster …
Die Macht der Sinne
So weit, so alltäglich. Diese mitreißende, turbulente Kraft der Sinne wird schließlich schon vor über 2000 Jahren in der Bhagavad Gita beschrieben. Wenn aber auch du das Gefühl hast, dass es in den vergangenen Jahren noch schwieriger geworden ist, deine Aufmerksamkeit zu bündeln und eine Zeitlang bei einer Sache zu halten, dann liegt das ziemlich sicher an der immer stärkeren Verfügbarkeit digitaler Verbindungen. Smartphones, Apps, Social Media und die diversen Messenger-Anwendungen tragen noch zusätzlich zum sowieso schon stetig anwachsenden kognitiven “Overload” bei und reißen uns immer wieder aus einer friedlichen Präsenz in unseren modernen Leben.
Natürlich sind sie wertvolle Helfer im Alltag, aber sie werden bei aller Virtualität ihrer Inhalte eben auch gezielt so entwickelt, dass sie möglichst viel unserer sinnlichen Aufmerksamkeit an sich binden: Unsere Hände wollen sie berühren, wir streichen über die Bildschirme auf der Suche nach schönen Bildern und lauschen vergnügt den Plings und Plopps, die uns das Eintreffen neuer Nachrichten ankündigen. Vielleicht warnt uns ja sogar eine Stimme im Hintergrund: “Hey, deine Augen sind müde. Bitte hör auf, auf den hellen Bildschirm zu starren.” Aber die Stimulation unserer Sinne ist stärker, so stark, dass sie “sogar den Geist von einer Person gewaltsam mitreißen können, die mit Unterscheidungsvermögen ausgestattet ist und Selbstkontrolle praktiziert“, wie uns die Gita so weise lehrt.
“Wir müssen bewusst äußere Verbindungen kappen, damit
wir in die Verbundenheit mit unserem wahren, weglosen Selbst kommen.”
Deshalb ist es so wichtig, sich darin zu üben, die Sinne zu regulieren – in aller Bescheidenheit, aber auch mit steter Regelmäßigkeit. Im Yoga kennen wir das unter dem Begriff Pratyahara. Indem wir zu gewissen Zeiten bewusst sensorische Verbindungen kappen, wollen wir erreichen, dass der Geist die symbolischen Zügel in der Hand behält und die Pferde unser Sinne davon abhält, unkontrolliert loszupreschen. Nur so können wir in die Verbundenheit mit unserem reinen, weglosen Selbst kommen.
Den Geist aufräumen
Dabei kann es ganz schön beängstigend sein, sich der chaotischen Wendungen, Wirrungen und Ablenkungen der eigenen Sinne überhaupt bewusst zu werden. Sie erscheinen auf den ersten Blick noch undurchdringlicher als der Kabelsalat hinterm Fernseher. Wo beginnen? Am besten setzt du bei ganz einfachen Reduktionen an. Hier habe ich dir dazu ein paar konkrete Ideen zusammengestellt. Vielleicht genügt es, wenn du dir zunächst nur eine einzelne Übung herauspickst, die sich gerade richtig anfühlt.
Den eigenen Geist in regelmäßigen Abständen dazu anzuhalten, sich vom Ansturm der Sinne auszuruhen, ist ein Prozess: zunächst sicher anspruchsvoll, aber mit kontinuierlicher Praxis wird es einfacher. Und irgendwann wirst du feststellen, dass ein klarer, aufgeräumter Geist noch viel angenehmer ist als jede flüchtige sinnliche Freude.
Rina Deshpande lehrt, erforscht und schreibt seit über 15 Jahren über Yoga und Achtsamkeit. Ihre Artikel erschienen bei uns, Huffington Post, Self Magazine und vielen anderen. Außerdem hat sie 2022 ein Kinderbuch verfasst und selbst illustriert: “Yoga Nidra Lullabay“. Erfahre mehr über Rina und besuche sie auf ihrer Website oder ihrem Instagram-Account.