Weltoffen & menschlich

Heute will Michi Kern seine Kolumne „Lernen von den Menschen“ auf wenige Sätze zuspitzen: Yoga ist weltoffen und welthaltig. Yoga ist von Menschen erfunden und überliefert, es ist keine Erlösungslehre und zielt nicht auf höhere Einsichten, sondern auf die Menschlichkeit jedes Einzelnen.

Der Yogaweg, wie ich ihn verstehe, ist seinem Wesen nach plural, empirisch, kommunikativ, dynamisch, veränderlich und konsequent auf das Diesseits ausgerichtet – alles geht mit rechten Dingen zu, wir suchen keine Wunder. So etwas wie eine „Hinterwelt“, eine „wirkliche Welt“ hinter einem Schleier, also die Verdoppelung der Wirklichkeit, gibt es nach meinem Verständnis im Yoga nicht. Yoga ist kein Glaube und keine Religion. Fluchten aller Art (esoterisch, religiös oder metaphysisch) werden zwar toleriert, sind aber nicht nötig. Yoga, wie ich es auffasse, ist auf den handelnden Menschen ausgerichtet, weil Menschen immer handeln und handeln müssen, solange sie leben. Und somit ist es das Ziel der Praxis, den Handlungen „technische“ yogische Qualitäten wie Achtsamkeit, Behutsamkeit, Präsenz, Fokussierung und Reflektion zu verleihen, aber vor allem auch inhaltliche yogische Qualitäten wie Gewaltlosigkeit, Mitgefühl, Rücksichtnahme und Toleranz. Denn als Handelnder ist der Mensch immer mit anderen Menschen, Tieren und Pflanzen verbunden und vernetzt. Sich die Konsequenzen des eigenen Handelns immer wieder und wieder bewusst zu machen – das ist die Idee des Yogasutra: Klärung, Selbstreflexion, Erkennen der eigenen Grenzen.

Sensibilisierung, Mobilisierung, Harmonisierung

Insofern gibt es drei große Projekte für den Yogaübenden: Sensibilisierung, Mobilisierung und Harmonisierung. Als groß angelegte Gegenbewegung zu Gedankenlosigkeiten und Gleichgültigkeiten aller Art üben wir im Yoga eine durchgreifende und auch moralische Sensibilisierung, die Ausweitung der Wahrnehmung für andere, das Entwickeln von Mitgefühl. Der intensiven Innenschau stellt der Yogi sich selbst aber immer auch als ein soziales Wesen gegenüber, das von sich selbst absehen kann. Die nachhaltige Mobilisierung, die Yoga will, zielt im umfassendsten Sinn auf Körper, Atem und Geist. Der achtgliedrige Yogapfad aus dem Sutra will uns vor allem handlungsfähig machen und erhalten. Es ist das erklärte Ziel, Tatenlosigkeit, Trägheit, Bequemlichkeit, aber auch Krankheiten zu überwinden, um zu handeln. Die vielbeschworene Harmonie im Yoga ist meiner Meinung nach kein Endpunkt, sondern kann als ständiger, unabschließbarer Prozess der unterschiedlichsten Harmonisierungen gedacht werden – Körper, Geist, Atem, Innenwelt, Außenwelt, Denken, Tun, Rede. Diese Harmonisierung umfasst vor allem auch das Bemühen um ein gesundes Verhältnis zu anderen, faire und nachhaltige Beziehungen, keine Gewalt gegen oder Ausbeutung von anderen. Dieses harmonische Wechselspiel ist vielstimmig gedacht und will keine homogene, spannungslose Einheit erzeugen, sondern ein dynamisches und lebendiges Beziehungsgeflecht.

Alle drei Aspekte spiegeln sich sowohl in der körperlichen Praxis der Asanas als auch in der Atempraxis des Pranayama und natürlich in der Meditation. Das alles – der sensibilisierte, mobilisierte und harmonisierte Yogi – wird uns aber wenig nützen, wenn es keinen Platz mehr für Irrtum, Zweifel, das Spielerische und vor allem Humor gibt. Das ganze Programm muss sich selbst irgendwie noch in Frage stellen können und wir selbst sollten schon über die Vergeblichkeit der Mühen lachen dürfen. Dann wird’s nicht zu heilig, zu ernst, erst dann gibt es keine erstarrten Dogmen – und es wird auch viel leichter, die Verbindung zwischen Selbstbild, Rede und dem wirklich gelebten Leben aufrecht zu halten, ohne sich zu belügen.

Der jüdische Literaturprofessor George Steiner ist gefragt worden, was es für ihn bedeutet, Jude zu sein, wo er doch gar nicht an Gott glaubt. Er antworte: „Es bedeutet, mit Ihnen hier in diesem Zimmer zu sitzen, inmitten all dieser Bücher, dieser CDs, jeden Tag in meiner Lektüre mehrere Sprachen zu handhaben, jeden Morgen etwas zu lernen. Für mich bedeutet jüdisch zu sein, Schüler zu bleiben, zu lernen, mich dem Aberglauben, dem Irrationalen zu verweigern; bedeutet mich zu weigern, die Astrologen aufzusuchen, um etwas über mein Schicksal zu erfahren. Es ist eine intellektuelle, moralische, geistige Vision; es bedeutet vor allem, sich zu weigern, den anderen zu demütigen oder zu foltern, ihm durch meine Existenz Leiden aufzuerlegen.“

100. Ausgabe YogaWorld Journal

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