Yoga als Therapie: Kann Yoga traumatisierten Menschen helfen?

Mit einem ungelösten Trauma glücklich zu leben, ist unmöglich. Der Yoga- und Meditationslehrer Joachim Pfahl hat die Erfahrung gemacht, dass über Yoga und den Kontakt zum eigenen Körper Heilung möglich ist.

Der Rückenwind der 68er-Bewegung führte Joachim Pfahl nach Indien, wo er früh seinem Lehrer Maharishi Mahesh begegnete. Er hat einen interdisziplinären Studiengang mit dem „Bachelor of Vedic Psychology“ absolviert und sich zum Yoga- und Meditationslehrer ausbilden lassen. Sein therapeutisches Wirken schließt jahrelange Erfahrung mit Körperarbeit zur Erlernung von Stressmanagement und Entspannungstechnik sowie die Arbeit mit Gefangenen in Asien und mit Soldaten der britischen Armee ein.

Joachim, wie definierst du Trauma?
Ein Erlebnis oder eine Erfahrung führt zur Abspaltung von Gefühlen und Empfindungen. Es drückt sich dadurch aus, dass Traumatisierte sich nicht spüren. Dies zeigt bereits den Lösungsweg auf: Wird der Kontakt zum Körper wieder hergestellt, schafft dies eine Integrität, die das „Herunterdimmen“ der Empfindungen durchbricht. Wenn eine Situation ein Trauma triggert – zum Beispiel durch ein Wort, einen Blick oder Geruch –, wird der Betreffende möglicherweise von seiner Erinnerung überwältigt. Über den Kontakt mit dem Körper kann er lernen, sich in der Gegenwart zu zentrieren und die Emotionen zuzulassen. Die vergangene Erfahrung besitzt keine Macht über den Moment. Indem die traumatisierte Person sich, beispielsweise über den Atem, ganz bewusst zentriert, findet sie einen Anker. Sie verliert sich nicht mehr orientierungslos im Meer der Emotionen, die hochgradig bedrohlich sind und in Panikattacken und Angstzuständen zum Ausdruck kommen. Wo ein Anker gründet, ist sicherer Boden: in einer geschützten Atmosphäre und durch bewusste Körperarbeit kann die Identifikation mit den Gedanken aufgegeben werden. Die Gedankenströme kommen zur Ruhe und die Stille öffnet den inneren Raum. Wenn verstanden wird, dass die Gefühle, die durch Erinnerungen angeschaltet werden, nichts mit der momentanen Situation zu tun haben, besteht die Möglichkeit der Wahl. Das Drama traumatisierter Menschen liegt genau darin, dass sie glauben, keine Wahl zu haben.

Was hältst du für die wichtigste Eigenschaft eines Yogalehrers bei der Zusammenarbeit mit traumatisierten Menschen?
Ich denke, dass es die Fähigkeit ist, den Zugang zum eigenen Anker zu verstehen: den Mechanismus zu durchschauen, den Gedankenstrom zur Ruhe bringen zu können – und um die Wahl zu wissen, dass man aus dem emotionalen Karussell heraustreten kann. Man benötigt die Fähigkeit, zur inneren Stille zu finden. Der Therapeut bzw. Yogalehrer muss diesen Prozess selbst durchlaufen, um ihn nachvollziehen zu können und für sich selbst und andere empathisch zu sein. Sich die eigenen Verletzungen anzusehen, ist die Voraussetzung für eine solche Arbeit. Man kann andere nur führen, wenn man den Weg selbst gegangen ist.

Sind psychische Erkrankungen mittels einer Yogatherapie behandelbar?
Trauma und Burnout, aber auch psychische Störungen wie Depressionen, Zwangsneurosen oder Schizophrenie lassen sich meines Erachtens auf diese Weise gut behandeln. Dazu bedarf es weder Medikamente noch des Wissens um die eigentlich traumatisierende Begebenheit. Es ist möglich, mit sich selbst in Kontakt zu kommen, indem die innere Stille entdeckt wird. Hier liegt die Möglichkeit zur Auflösung des Konflikts. Wenn keine andere Identifizierung möglich ist als diejenige, auf die man festgelegt ist, endet das Leid nicht. Man könnte die Yogatherapie mit der Defragmentierung eines Computers vergleichen: Dabei werden die Dateien auf der Festplatte neu angeordnet, so dass die Programme wieder störungsfrei ablaufen können. Stress ist die Unfähigkeit, auf eine bestimmte Situation adäquat zu reagieren. Genauso verhält es sich beim Trauma auch. Viele fundierte Studien und die moderne Gehirnforschung belegen, dass dies möglich ist. Die Opferrolle ist also kein Schicksal.

Kriegsereignisse können Menschen zerbrechen oder verrohen lassen.
Manche Menschen gehen psychisch schwer verletzt aus einer Kriegssituation heraus, in anderen erwacht die Lust am Sadismus. Die Reaktionen sind ganz unterschiedlich. Die Soldaten wissen trotz Vorbereitung nicht, was in einer Extremsituation wie Krieg auf sie zukommt – und wie sie sich verhalten werden. Jeder geht mit unterschiedlichen Voraussetzungen in die Situation: Vorhandene Traumatisierungen können aufbrechen, neue hinzukommen. Jeder
reagiert aufgrund seines individuellen Hintergrundes anders. Die ständige
Angst vor Anschlägen und Bedrohung durch den Feind bildet eine enorm
hohe, chronische Stressbelastung, der die Soldaten ausgesetzt sind und die den idealen Nährboden für Trauma bilden. Und das über Jahre hinweg. Es gibt keine Normalität, nur Schwarz oder Weiß. Es ist möglich, dass
sich unter solchen Bedingungen ein Soldat nur spürt, wenn er den Stress wahrnimmt: der Krieg wird zum Lebensgefühl. Die Begleitsymptome können Schlaflosigkeit und Panikattacken sein. Dieser Extremzustand mentaler Überforderung ist an sich kein Trauma. Aber die Voraussetzungen dafür sind quasi ideal. Genau wie in Gefängnissen sind in der Armee die Mauern der Abgrenzung zudem sehr hoch und stabil: das Selbstbild des Mannes ist dort nach wie vor der harte und unverwüstliche Kerl, Alphatiere kennen keinen Schmerz, Schwäche befördert ans untere Ende der Hierarchie. Letztlich darf man aber das Klischee nie über das jeweilige Individuum stellen. Es finden sich hier Menschen mit wunderbaren Eigenschaften und großen Qualitäten. Und nicht jeder muss zwingend körperliche oder seelische Verletzungen, bedingt durch Krieg oder Gefangenschaft, davontragen. Aber man kann durchaus sagen, dass viele bereits im Vorfeld traumatisierte (Männer) sich von Krieg, Gewalt und Drogen angezogen fühlen.

Also ganz ähnlich wie in Gefängnissen?
Im Gefängnis und in Gefangenschaft sind die Bedingungen für Traumatisierung klar erhöht – die gesamte Situation ist lebensfeindlich. Unter Therapeuten gilt stark verkürzt und überspitzt: Frauen gehen zum Psychologen, Männer ins Gefängnis. Frauen fällt es oft leichter, sich auszudrücken und Hilfe anzunehmen. Männer leben ihr Trauma eher aus, indem sie gewalttätig werden. Verletzte verletzen. Gewalt kann ein Hilfeschrei der Seele sein. Viele Gewalttäter sind froh, wenn sie endlich gefangen genommen werden und die fatale Entwicklung ein Ende nimmt. Diese verläuft bei Traumatisierten oftmals progressiv: Drogensüchtige erhöhen die Dosis, Kriminelle werden gewalttätiger. Es ist nicht möglich, mit einem ungelösten schweren inneren Konflikt glücklich zu werden. Unglück ist der Status Quo traumatisierter Menschen. Viele funktionieren einfach im stark beschränkten Umfang ihrer Möglichkeiten.

Schützt eine intakte Kindheit vor Traumatisierung?
Eine intakte Kindheit ist ein starker Schild fürs Leben, verkommt jedoch allmählich zum Mythos. Kinder lernen den stabilen Rahmen einer Großfamilie mit unterschiedlichen und kontinuierlichen sozialen Beziehungen von Anfang an heute kaum mehr kennen. Die meisten verbringen die ersten Lebensjahre nahezu ausschließlich mit ihren Eltern, von denen viele permanent unter Zeitdruck und Stress stehen. Natürlich darf man das Modell der Großfamilie nicht überidealisieren – hier herrschte früher oft unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit häusliche Gewalt. Jede Zeit hat ihre Schatten. In unserer Gesellschaft erleiden viele aufgrund mangelnder Integrität früher oder später einen Burnout: die Schutzmechanismen und Abwehrkräfte sind durchlässig. Dieses phänomen ist ein Ausdruck unserer Zeit. Bis vor etwa einem halben Jahrhundert lebten die Menschen in Großfamilien. Der Trend zum versingelten Individualismus ist vergleichsweise jung und die Statistiken über „Zivilisationskrankheiten“ wie Depression oder den global ansteigenden Medikamentenkonsum zeigen: Menschen brauchen Gemeinschaft, um gesund und glücklich zu sein.

Wirkt Yoga generell therapeutisch?
Natürlich dient nicht jede Yogatechnik der tiefen Entspannung und Regeneration. Manche Yogarichtungen sind sehr stark auf Leistung ausgerichtet. Viele Menschen sind derart leistungskonditioniert, dass sie auch im Yoga den permanenten Druck brauchen und nur ausgepowert zur Ruhe kommen. Diese Mentalität wurde aus dem Fitnessbereich für Yoga übernommen. Möglicherweise fühlt sich eine Person mit dieser Form von „Yoga-Workout“ zwar ausgesprochen wohl, aber sie lernt nicht, sich in der Tiefe zu entspannen. Darin besteht ein gewaltiger Unterschied und auch die Gefahr, den Burnout erst recht (mit) zu bewirken. Auch hier erfährt der Praktizierende im Wesentlichen, dass er nur gut ist, wenn er Leistung bringt.

Sie raten also ab von zu anstrengendem und forderndem Yoga?
Der „sportliche“ Effekt ist natürlich, unter dem rein physiologischen Aspekt betrachtet, nützlich, aber das mächtigste Werkzeug des Yoga – die Selbstwahrnehmung – greift nicht. Für die Behandlung von Trauma durch Yoga ist der wahrnehmungsorientierte Ansatz essenziell, der die eigenen Grenzen zeigt und keine fremden aufzwingt. Es geht darum, zur eigenen Haltung zu kommen und sich aus dem Korsett einer leistungsorientierten Konditionierung zu lösen. Kein Zwang, kein Wettkampf, kein Vergleich. (Extrem-)Sportler beispielsweise sind oft überhaupt nicht in Kontakt mit ihrem Körper. Nur der Leistungsgedanke zählt und knüppelt alle Empfindungen wie Schmerz oder Müdigkeit nieder. Dagegen soll der Übende in der jeweiligen Asana die eigene Grenze erspüren und seinen inneren und äußeren Zustand wahrnehmen. Wenn ihn nun ein Lehrer dazu auffordert, weiterzugehen, ihn antreibt, das Maximum herauszuholen, ist dies in höchstem Maße kontraproduktiv. Es findet eine Abspaltung vom eigenen Empfinden statt, indem der Wahrnehmung des Lehrers gefolgt wird statt der eigenen. Das eigene Körpergefühl ist maßgeblich und der Kontakt dazu kann mithilfe eines einfühlsamen Lehrers hergestellt werden, wenn er ein kontinuierliches Feedback einholt, ob der Übende in Kontakt mit sich ist und sich spürt.

Wer nie gelernt hat, sich zu spüren, wird demnach bei schnell getaktetem Yoga – einmal mehr – funktionieren …
… und dabei kaum den Kontakt zu sich selbst herstellen können. Bei traumasensiblem Yoga spielen Zeit und Ruhe eine wichtige Rolle. Dem Übenden ist erlaubt, dass er empfinden darf. Es muss genügend Zeit gegeben werden, dass er zum eigenen „Nein“ findet und dieses formuliert, wo er an seine Grenze stößt. Dies ist der Weg, zur eigenen Haltung zu finden. Die eigenen Rollen und Muster müssen erkannt werden, damit die Masken fallen können. In diesem heilenden Prozess kommt der Übende tief mit sich in Verbindung. Und aus dieser Erfahrung heraus auch mit anderen: Empathie kann erlernt werden. In der Tiefe des Prozesses lösen sich Strukturen und Muster, Konventionen und Konzepte auf. Das Nervensystem beginnt sich zu „erinnern“, dass dies der natürliche Grundzustand ist. Die Heilung beginnt. Das Problem beginnt immer damit, dass wir dem Verstand die Führung des Lebens überlassen. Ein zweckdienlicher Verstand führt zu Präsenz im Augenblick, zu Ausrichtung und Klarheit, er kann die Dinge situativ in Beziehung setzen. Ein überaktiver Verstand entfernt sich hingegen weit darüber hinaus und lässt die Stimme der Intuition verstummen.


joachim_pfahl_yoga_therapieJoachim Pfahl ist Yoga-, Meditationslehrer, Coach und Traumaexperte mit 40-jähriger Yogapraxis und Lehrerfahrung in Organisationen in Indien, Thailand und Europa. Heute leitet er vier Yogaschulen in Nordrhein Westfalen und unterrichtet Ausbildungsmodule mit dem Fokus „Traumasensibles Yoga“.

Barbara Decker
Barbara Decker
Barbara Decker lebt und arbeitet als freie Journalistin und Yogalehrerin in München.

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