Pianistin, Organistin, Harfenistin, Bandleaderin, Komponistin, Inspiration eines Jazzgiganten, spirituell Suchende und Ashram-Gründerin: 2017 wäre Alice Coltrane 80 Jahre alt geworden.
Gospel, Jazz und Mantra
Frei übersetzt bedeutet „Turiyasangitananda“ „Gottes höchstes Lied der Seligkeit“. Unter diesem Namen widmete die 2007 verstorbene Alice Coltrane die letzten Jahrzehnte ihres Lebens der Spiritualität – ein Prozess, der nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Entwicklung als Künstlerin beeinflusste. Die aktuell erschienene CD „The Ecstatic Music of Alice Coltrane Turiyasangitananda“ mit bislang unveröffentlichten Aufnahmen aus dem Ashram, den Coltrane 1975 gründete, spiegelt ein weitgehend unbekanntes Kapitel ihrer Biografie.
Vom Kirchenchor in den Ashram
Alice Coltranes Laufbahn als Wegbereiterin des modernen Jazz begann klassisch. 1937 als fünftes von sechs Kindern in eine musikalische Familie geboren, spielte sie bereits als Neunjährige im Gottesdienst der baptistischen Gemeindekirche Orgel. In den frühen 1960er-Jahren wurde sie Mitglied eines professio-nellen Jazz-Trios, das unter anderem mit Carlos Santana auftrat. Auf einer dessen Konzertreisen lernte sie 1962 in einem New Yorker Club ihren späteren Ehemann John Coltrane kennen. Mit dem introvertierten Ausnahme-Musiker verband sie nicht nur die Leidenschaft für den von Charlie Parker und Dizzy Gillespie begründeten Bebop, das in der Szene ungewöhnliche Abstinenzlertum und unbändige musikalische Experimentierfreude, sondern auch der kirchliche Back-ground und das Interesse an transzendentalen Themen. Coltrane studierte zu diesem Zeitpunkt unter anderem die Baghavad Gita und machte Alice mit östlicher Religion, Philosophie und Meditation vertraut. Die dabei gemachten Erfahrungen flossen in ihre Musik ein, zu hören etwa im Meisterwerk „A Love Supreme“, das Alice 1971 als Friedensgebet mit Streichorchester und einem Mantra ihres Gurus Swami Satchidananda neu interpretierte.
Die Sterne, das All und der Äther
Nach John Coltranes plötzlichem Tod durch Leberkrebs sah sich die erst 30-jährige Alice mit vier kleinen Kinder allein gelassen – was sie nicht hinderte, zur prägenden Figur des „Free Jazz“ zu werden und den Stil nach und nach ins explizit Spirituelle zu übersetzen.
1969 hatte sie der Bassist Vishnu Wood Swami Satchidananda vorgestellt, neben Sathya Sai Baba ihr wichtigster Lehrer. 1970 begleitete sie Satchidananda auf eine fünfwöchige Pilgerreise nach Indien, wo sie in die Tradition der Mantras eintauchte. Eine völlig neue innere und äußere Welt erschloss sich ihr, gefolgt von einer neuen Bestimmung: 1972 wandte sich Alice dem Hinduismus zu, zog mit ihrer Familie nach Kalifor-nien und gründete 1975 nördlich von Los Angeles ein Vedanta-Zentrum. 1983 ging aus ihm der „Sai Anantam Ashram“ hervor, eine moderne Community, deren Mitglieder Auto fuhren, Jobs nachgingen und auch außerhalb des Geländes wohnen konnten. Afroamerikaner dominierten die Gemeinschaft, aber auch Weiße, Südamerikaner und Inder trugen zu der spirituell undogmatischen Mischung bei. Alice selbst zog sich immer mehr aus dem Scheinwerferlicht zurück, um ihrem spirituellen Weg zu folgen.
Im Ashram gehörten Bhajans und Kirtans zur festen Tagesordnung. Alice nahm die Chants auf privaten Kassetten auf und stellte sie zunächst nur der Gemeinschaft zur Verfügung. Jahrzehnte später gewährten ihre Kinder dem amerikanischen Label Luaka Bop Zugriff auf das archivierte Material, das nun auf CD zur Verfügung steht.
In einer bedeutungsvollen Epoche und einem hingebungsvollen Umfeld entstanden, zeigt sich in den Chants sowohl die freigeistige Jazzmusikerin als auch ein hoch engagierter Mensch. Den Verlust des Ehemannes und eines jung verunglückten Sohnes übersetzte Alice Coltrane in eine tief empfundene Sprache weit über die Musik hinaus. Oder mit den Worten eines Jazzkritikers der „Berliner Zeitung“: „So klingen die Sterne, das All, der alles umschließende, unsichtbare Äther.”
„Musik erzählt von den verschiedenen Wegen und Kanälen, durch die die Seele hindurchgehen muss, bevor sie den Zustand absoluten Bewusstseins erreicht“ (Alice Coltrane)