Auszeit in Haridwar
Im Nachhinein fällt es mir schwer, den Zeitpunkt festzulegen, an dem sich mein Leben veränderte: War es in diesem Sushi-Restaurant in Toulouse, in dem ich mit einer Freundin darüber sprach, dass ich reif sei für etwas Neues? Oder mein Urlaub in Israel? In den letzten Jahren war eine treibende Kraft der Veränderung meine Yogapraxis. Sie führte schließlich zu dem Entschluss, eine längere berufliche Pause einzulegen, um Yoga in seinem Heimatland zu erleben.
Indien, der SubkontInent der Extreme – so viele Gerüche, Farben, Menschen. Beeindruckende Natur und Umweltverschmutzung, Armut und Reichtum. Das Land meines Vaters und seiner Familie. Und die Geburtsstätte des Yoga, der Veden und der zwei großen Weltreligionen Hinduismus und Buddhismus. Bewaffnet mit einem „Lonely Planet India“-Reiseführer – der größten und schwersten Ausgabe der „Lonely Planet“- Serie, die sich auf Reisen auch bestens als Yogablock bewährt hat – und einem Kopf voller Warnungen meiner deutschen Yogalehrer und Freunde, dass mich Yoga in Indien nur enttäuschen würde, machte ich mich auf den Weg nach Rishikesh. Diese kleine Stadt im Norden des Landes dürfte wohl jedem westlichen Yoga-Übenden ein Begriff sein: Dort haben schon die Beatles mit Erleuchtungsmethoden experimentiert und viele westliche Yogaschulen bieten Reisen dorthin an, um im Schatten des Himalaya am Ufer des mächtigen Ganges yogische Ursprünglichkeit zu erleben. Meine indische Cousine wollte mir vor Ort bei der Suche nach einer passenden Yogaschule helfen – obwohl sie offensichtlich sehr skeptisch war. Nirgends würden sich mehr kiffende Möchtegern-Gurus rumtreiben als hier, so ihre besorgte Warnung.
Ich hatte mir jedoch in den Kopf gesetzt, es in Rishikesh zu versuchen. Und tatsächlich verbrachten wir zwei Tage an diesem kuriosen Ort und klapperten die Ashrams und Yogaschulen auf meiner Liste ab, die ich schon Monate zuvor mittels stundenlanger Internet-Recherche erstellt hatte. Rishikesh ist überlaufen von westlichen Yogis, Backpackern, Aussteigern und jungen Israelis, die nach Ableistung ihres Militärdienstes herkommen. Ich hatte vor, mindestens drei Monate intensiv Yoga zu studieren und zu üben, und dabei war es mir sehr wichtig, nicht in eine mit Ritualen überladene, sektenähnliche Gemeinschaft hineinzugeraten, in die ich als christlich erzogene und selbständige Frau ohnehin nicht passen würde. Aber nichts konnte meine Sehnsucht nach einem Ort, an dem Yoga in seiner Ursprünglichkeit und Einfachheit gelebt wird, wirklich befriedigen. Nachdem wir die letzte Adresse auf meiner Liste abgehakt hatten, sank meine Hoffnung, doch noch etwas Außergewöhnliches zu finden, beinahe auf den Nullpunkt.
Ein bewusstes und achtsames Leben lehrt uns allerdings, dass es keine Zufälle gibt. Und so war es schließlich unser geduldiger Fahrer, der uns am Ende unserer zweitägigen Tour durch Rishikesh fragte, warum wir eigentlich noch nicht in Shantikunj gewesen wären – wo wir doch einen Ort suchten, an dem Yoga und Spiritualität gelebt und gelehrt werden. Auf seinen Rat hin verließen wir Rishikesh in Richtung Haridwar, irgendwo auf der einzigen Verbindungsstraße zwischen den zwei Städten bog unser Fahrer ab und brachte uns nach Shantikunj. Da standen wir nun – und waren sprachlos. In dem riesigen Ashram mit dem schönen Namen (Shantikunj heißt frei übersetzt „Garten des Friedens“) waren junge Frauen gerade damit beschäftigt, zur Vorbereitung auf ein großes Fest Rangoli aus buntem Sand auf den Boden des Hauptweges zu streuen. Nach einem ersten Rundgang wurden wir zum Campus der DSVV University geschickt, die nur ein paar Kilometer entfernt liegt und wie der Ashram zur Organisation All World Gayatri Parivar gehört.
Die Abkürzung DSVV steht für „Dev Sanskriti Vishwavidyalaya“ und heißt wörtlich übersetzt „heilige Kultur-Universität“. Sie wurde 2002 als Privatuniversität nach den Grundsätzen des traditionellen Gurukul-Systems, in dem Lehrer und Schüler zusammen leben und lernen, und der vedischen Lehren, wie sie vom Universitätsstifter Pt. Shriram Sharma Acharya gelehrt wurden, gegründet. Ohne langes Warten oder bürokratische Hürden wurden wir umgehend vom Direktor der School of Yoga and Health empfangen. Dr. Chinmay Pandya, Enkel von Gurudev und ausgebildeter Mediziner, hatte neun Jahre in einer leitenden Position in einem Londoner Krankenhaus gearbeitet, bevor er nach Indien zurückkehrte, um die Leitung der School of Yoga and Health und damit das administrative und spirituelle Erbe der Organisation zu übernehmen. Dr. Pandya nahm sich nicht nur Zeit für uns, sondern ermutigte mich in einem sehr persönlichen Gespräch, an die DSVV zu kommen – und gab mir schließlich das lang ersehnte Gefühl, den richtigen Ort für mein Vorhaben gefunden zu haben. Die DSVV liegt auf einem riesigen und wunderschön angelegten Campus von über 33 Hektar, unweit des Ganges und etwas außerhalb von Haridwar, eine der heiligsten Städte der Hindus. Haridwar ist eine der vier Städte, über die geschrieben steht, dass dort die Götter versehentlich einen Tropfen Amrit – das Elixier der Unsterblichkeit – verschüttet hätten. In der hinduistischen Vorstellung sorgt ein Bad im Ganges an dieser Stelle für die Erlösung vom ewigen Rad der Wiedergeburt. Im Winter kann es aufgrund der Nähe zum Himalaya durchaus sehr kalt werden, im Sommer sind Temperaturen von bis zu 40 Grad keine Seltenheit. Nur der Monsunregen erlöst zwischendurch von der lähmenden Hitze. Ich denke, dass es gut war, dass ich während des Monsuns auf dem Campus war: Trekkingtouren in die Berge sind während der sintflutartigen Regengüsse sehr gefährlich, häufig werden Straßen gesperrt und der öffentliche Verkehr bricht regelmäßig zusammen. Auf dem Campus empfand ich den warmen Regen als Segen und war froh, nicht auf den schlammigen Straßen oder in schimmeligen Hostels festzustecken. Stattdessen genoss ich die Mango-Saison – meine liebste Zeit in Indien – an der Uni und widmete mich ausschließlich meiner Yogapraxis und meinen Vorlesungen. Der weitläufige Campus bietet genügend Platz für die Unterkünfte der Studenten und etwa 320 Professoren und Mitarbeiter. Auf dem Campus befinden sich außer der Bibliothek und den Vorlesungsgebäuden die Holistic Health Clinic, eine Mango-Plantage, Kuhställe für die eigene Milch- und Butterherstellung, eine Garnspinnerei mit einer angrenzenden Stoff- und Teppichweberei, ein liebevoll gepflegter ayurvedischer Heilkräutergarten, eine Apotheke, ein Herstellungszentrum für ayurvedische Medizin, eine Grundschule und ein paar kleine Läden.
Der täglich unveränderte Tagesablauf ist derselbe wie in Shantikunj. Bereits um 4.30 Uhr erwacht der Campus zum Leben: Bevor um 6 Uhr der Unterricht beginnt, finden auf dem Gelände Yagya(Feuer)-Zeremonien, Mantra-Singen oder andere vedische Zeremonien statt. Tagsüber herrscht reges Treiben, bis zur 15-minütigen Nada-Yoga-Meditation um 18 Uhr am Shiva-Tempel, der sich im Zentrum des kreisförmig angelegten Campus befindet. Eine meiner schönsten Erinnerungen ist dieses einfache, tägliche Ritual und die wunderschöne Bambusflötenmusik, die per Lautsprecher über den gesamten Campus ertönt. Über alles und jeden legt sich eine unglaubliche Ruhe, wenn sich der Tag dem Ende zuneigt. Mein Studium dort war von Anfang an etwas wirklich Besonderes. Da ich mir drei Monate für dieses Projekt gegeben hatte, der kürzeste „Degree Course“ aber sechs Monate dauert, gab man mir die Freiheit, die Vorlesungen und Kurse aus allen Studiengängen herauszusuchen, in denen ich meine größten Wissenslücken sah. Auf diese Weise konnte ich mir meinen eigenen Studienplan zusammenstellen und die Schwerpunkte dort setzen, wo es für mich sinnvoll war.
Jeden Morgen um 6 Uhr hatte ich eine Asana-Klasse mit etwa 30 jungen indischen Studentinnen. Asanas werden in Indien üblicherweise getrennt nach Geschlechtern geübt und in meinen Stunden sollten wir so viel aneinander herumziehen, -zerren und -drücken, dass ich bald verstand, warum man in gleichgeschlechtlichen Gruppen unterrichtet wurde. Nach den ersten Minuten war klar, dass ich trotz jahrelanger Praxis verglichen mit diesen Gummi-Damen bestenfalls ein steifer Holzklotz war. Die Hoffnung, meine Asana-Technik zu vertiefen, die ich in diversen Workshops und Privatstunden in Deutschland erworben hatte, zerronn wie der Schweiß auf meiner Stirn. Bezeichnungen wie „Schlangenmenschen“ oder „Zirkusartisten“, aber auch die Warnungen meiner deutschen Lehrer kamen mir wieder in den Sinn. Zugegeben: Die Asana-Klassen waren in Bezug auf Flexibilität viel zu anspruchsvoll für mich. Aber was Technik, Atmung und Körperbewusstsein anging, fühlte ich mich unterfordert. Im Endeffekt holte ich mir das von den Stunden, was ich am meisten brauchte und das waren das schweißtreibende Dehnen meiner verkürzten Muskeln und das Eingeständnis an mein Ego, dass Yoga mindestens so viele gleichberechtigte Gesichter hat, wie Indien Menschen.
Als einzig anerkannte Universität in Indien hat sich die DSVV dazu verpflichtet, moralische Werte aus den Veden zu vermitteln. Dabei ließ sie sich von den Lehren und dem Leben Gurudevs inspirieren. Für mich bedeutete das eine komplett neue Welt und Herangehensweise an das Thema Yoga. In weiten Teilen Indiens sind die acht Stufen nach Patanjali jedem Kind bekannt und die zwei Grundpfeiler, die wir als Yama und Niyama kennen, gehören zum Leben und Alltag der Menschen. Ich fühle mich noch immer tief berührt davon, dass ich drei Monate lang dieser herausragenden Gruppe von Menschen angehören durfte, die so voller Leidenschaft für höhere Werte und Ziele und dem Drang nach Wissen und Bildung sind, und dennoch ein Leben in Einfachheit, Demut und Großzügigkeit führen. Von insgesamt etwa tausend Studenten, die dort verschiedene Studiengänge wie englische Literatur, Sanskrit, Informatik, Kommunikationswissenschaften und eben auch Yoga studieren, waren im Sommer 2011 lediglich acht ausländische Studenten eingeschrieben.
Die Universität hat sich in den letzten zehn Jahren im ganzen Land einen guten Ruf erarbeitet und namhafte Preise gewonnen. Entgegen der weitläufigen Meinung, dass in Bezug auf Bildung nur das überdurchschnittlich gut ist, was auch teuer ist, war es für mich anfangs schwer zu begreifen, dass die DSVV keine Studiengebühren verlangt. Indische Studenten erhalten die Ausbildung praktisch kostenfrei und ausländische Studenten müssen lediglich für Kost und Logis aufkommen, was in Indien außerhalb der internationalen Großstädte kaum mehr als ein Taschengeld für deutsche Verhältnisse bedeutet.
Diverse internationale Kooperationen mit ausländischen Universitäten, internationale Festivals und der langsam wachsende Bekanntheitsgrad der DSVV und AWGP im In- und Ausland wird mit den Jahren diesem Geheimtipp das Geheime nehmen.
Alles in allem war meine Zeit in Haridwar ein bereicherndes Erlebnis und eine Reise zu mir selbst, die ich nicht missen möchte. In drei Monaten konnte ich lediglich an der Oberfläche meiner Yoga-Studien kratzen, die mich mit Sicherheit mein Leben lang begleiten werden. Was ich jedoch in der Ruhe jener friedvollen Tage erkennen durfte, ist, dass die Schönheit und das Göttliche in unserem Leben nicht in den großen Entscheidungen zu finden sind, sondern in den kleinen und oft so unscheinbaren Handlungen des Alltags verborgen liegen.
Tara lebt in München und unterrichtet seit 4 Jahren traditionelles Hatha Yoga; aktuell im Yoga Atelier in Schwabing. Sie reist regelmäßig nach Indien, in das Heimatland ihres Vaters, um an der DSVV Universität in Haridwar Yoga und Vedanta zu studieren und dort angewandte vedische Kultur zu erleben.
Email: tara.yoga@gmx.net