Überall auf der Welt, in allen Nationen, Religionen und seit Menschengedenken werden Opfer- und Erntefeste gefeiert. Es sind Rituale, in denen wir uns in Dankbarkeit mit der Schöpfung verbinden. Wir danken für alles, was das Leben uns schenkt. Dieser Dank verbindet uns – als Menschengemeinschaft und mit dem Göttlichen.
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Text: Andrea Goffart / Titelbild: Magmos/Getty Images via Canva
Im Dank entsteht Verbundenheit – wir nehmen wahr, dass wir etwas nicht aus eigener Kraft geschafft haben. Wir beziehen uns dankend auf eine Verbindung, erkennen an, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind und dass für uns gesorgt ist. Vielleicht danken wir unseren Eltern für unsere Existenz oder der Nachbarin, weil sie unsere Blumen gegossen hat, als wir in Urlaub waren. Vielleicht bringen wir ihr eine Flasche Wein mit und trinken diesen besonderen Tropfen dann sogar zusammen, feiern unsere Verbindung – in der Fähigkeit zu helfen und der Möglichkeit, für diese Hilfe “Danke” zu sagen.
Jetzt, wo es in großen Schritten Richtung Herbst geht, bedanken wir uns für die Fülle der Nahrung, die uns sicher über den kommenden Winter bringen wird. Sicher – heute kaufen wir unsere Äpfel im Supermarkt und haben den Bezug zu den Zyklen der Erde verloren. Wir kennen die Zeitpunkte für Aussaat, Reife und Ernte nicht mehr und essen Erdbeeren auch gerne im Winter. Trotzdem verbinden viele von uns mit Erntedank ein vielleicht sogar unbewusstes Wissen um diese Fülle. Allein über das Wort entstehen sofort Bilder bunter Herbstblätter und froher Farbigkeit von Obst und Gemüse – leuchtend rote Äpfel und pralle Birnen. Getreideähren, vielleicht geflochten zu einer Krone.
Dankbarkeit als Ritual
Jedes Jahr zum Oktober laden uns die Kirchen ein, die Altäre zu schmücken und unserem – ihrem? – Gott Dank zu sagen: Dank für den Reichtum, den wir geschenkt bekommen. Danke für die Fülle, in der wir leben. Danke, dass wir so reich mit Früchten beschenkt werden. In der Dankbarkeit liegt gleichzeitig immer ein Stück Demut verborgen – ich habe das nicht alleine geschafft. Das mag im aktuellen Ich-Zentrismus ungewöhnlich sein und bei manchen sogar Ablehnung hervorrufen – zu gerne möchten wir uns selbst verantwortlich fühlen für die Früchte unserer Arbeit. Oder?
Öffnen wir uns dem Ritual, dann setzen wir uns zugleich in Bezug zu jemandem oder etwas. Deswegen sind Rituale auch immer ein Zeichen für das, was eine Kultur ausmacht und wenn wir sie ausführen, dann stabilisieren und entwickeln wir sie weiter. Rituale synchronisieren Gemeinschaften, weil sie uns eine Ebene von Verbundenheit erleben lassen, die über rationales Denken hinausgeht. Dankbarkeitsrituale ordnen die Früchte des individuellen Handelns in den größeren Kontext ein – setzen sie in Bezug zu einer übergeordneten Instanz.
Im Erntedank ist etwas lebendig, was uns in unserer rationalen Lebensweise merkwürdig und fremd erscheint – das Ritual als Verbindung zu Gott, zu den Göttern, zu einer spirituellen Welt. Vielleicht kann ich sogar weitergehen und behaupten, dass zu jeder Spiritualität die Kunst der Dankbarkeit gehört, weil sich (nur) durch sie eine Wertschätzung für das Leben entwickelt? Aus der Anerkennung dieses existentiellen Werts erwächst – vielleicht – Verantwortung für die Schöpfung. Ist das der Grund aus dem überall auf der Welt, in allen Religionen und zu allen Zeiten Dankbarkeitsrituale gefeiert werden?
Dankesfeste in verschiedenen Kulturen
Bei den Hindus gibt es ein Dankesfest zur Wintersonnenwende, das Makar Sankrani und Mitte Januar wird Pongal gefeiert – das Fest des Überflusses. Was hier rituell überfließt, ist ein Topf mit einer Süßspeise aus Reis und Zuckerrohr – ein Überfluss auch an Lebensfreude. Muslime danken Gott im Ramadan für alle Gaben und im jüdischen Glauben gibt es mehrere Wallfahrtsfeste, die auch Dankfeste sind – bekannt ist besonders das Laubhüttenfest am Ende der Erntezeit.
Die Lakota (Sioux) kennen ein wichtiges Ritual: “Wopila” ist zugleich Ausdruck und Zeremonie. Als Wort drückt es Dankbarkeit aus – für alles, was das Leben zu bieten hat, für die gesamte Existenz und den Segen, der in jedem Augenblick liegt. Wopila als Zeremonie, als Ritual, benötigt viel Vorbereitung und die Führung durch eine menschliche Instanz, die mit dem Göttlichen in Verbindung treten kann, einen Medizinmann oder eine weise Frau.
Der Altar wird geschmückt und Opfergaben werden angerichtet, Räucherwerk, Trommel und die Pfeife spielen eine Rolle – wie in vielen indigenen Ritualen. Mir hat besonders gefallen, dass in diesem Dankbarkeitsritual die gesamte Runde der Anwesenden ihren Dank persönlich aussprechen kann – alle werden ausgiebig gehört. Dieses Vorgehen würde ich gerne in unsere (kirchlichen) Rituale aufnehmen – jede und jeder wird gehört und die einzelnen Intentionen verbinden sich zu einem riesengroßen Dankeschön.
Verbindende Kraft von Ritualen
Übrigens hat das klassische amerikanische Thanksgiving – ihr wisst schon, Truthahn, Süßkartoffeln und Gedöns – seinen Ursprung auch in den indigenen Kulturen. Zwar haben der Überlieferung nach die “Pilgerväter” (wo waren eigentlich die Mütter?) ihre Erntedankkultur aus der Alten Welt mitgebracht, doch es waren die Ureinwohner, die den ersten Siedlern zeigten, welche Pflanzen essbar sind und sie mit Saatgut versorgten.
Nur mit dieser Unterstützung haben die Ur-Siedler der Mayflower den ersten harten Winter in Massachusetts überlebt und die Legende erzählt uns, dass zum Dank für dieses Überleben und für die Unterstützung der Ureinwohner im nächsten Jahr ein gemeinsames Erntefest gefeiert wurde. Das erste Thanksgiving könnte das gewesen sein. Ein schöner Gedanke, dass Dankbarkeit uns über Kulturen und auch Konflikte hinweg verbinden kann – auch das möchte ich gerne aufnehmen in mein persönliches Dankbarkeitsritual.
In Zusammenhang mit der Geschichte Amerikas steht auch das Kwanzaa-Fest, ein afrikanisches Erntedank-Ritual. Kwanzaa ist Swahili und heißt “erste Frucht”. Kwanzaa zeigt auf besondere Art die identitätsstiftende und verbindende Kraft von Ritualen, denn es wurde geschaffen aus der Not der Afro-Amerikaner, die ihre eigene kulturelle Identität in der Sklaverei aufgeben mussten. Bewusst zur Zeit der christlichen Weihnacht gefeiert, steht es dafür, alle schwarzen Menschen zu vereinen. Es gibt viele weitere afrikanische Danktraditionen, sie alle aufzuzählen, würde den Platz sprengen. Besonders gefallen hat mir das Fest N’cwala, denn es beginnt mit einem Wasserfest, bei dem die Schaumkronen des indischen Ozeans abgeschöpft werden. Wie schön: Man schöpft die Naturgewalt – möge sie das Ritual und das Leben unterstützen.
Geben und Nehmen
Dankbarkeitsrituale feiern das, was wir bekommen haben. Und sie geben fast immer etwas zurück, führen den Kreislauf weiter, betonen den zyklischen Aspekt der Natur. So kennen südamerikanische Bauern zahlreiche Opfer- und Dankbarkeitsrituale entlang der kompletten Anbauphase. Wenn der Boden für die Aussaat “verletzt” wird, danken die Menschen der Erde mit Alkohol oder dem Blut von Opfertieren. Und mit dem Erntedank werden immer auch die besten Samenkörner der Erde zurückgegeben.
Diese Mutter Erde – Pachamama – ist in Südamerika die Schöpferin des Lebens, ist Natur, Boden und Wertschätzung der Gaben der Erde zugleich. In Ecuador und Bolivien wurde Pachamama vor einigen Jahren sogar in die Verfassung aufgenommen und die Natur bekam einen Anspruch darauf, von den Menschen achtsam behandelt zu werden. Zu geben – und zu bekommen.
Es ist diese Anerkennung und Dankbarkeit, die unsere Herzen berührt. All die seit Urzeiten durchgeführten Rituale, die Sitten, Brauchtümer und Traditionen der Welt – ist nicht im Grunde Dankbarkeit ihr eigentlicher Kern? Wie es oft mit Traditionen passiert, tritt mit der Zeit der religiöse oder spirituelle Charakter in den Hintergrund. Wir kennen es von Weihnachten oder Ostern – auch im Thanksgiving und in unserem Erntedank steht der weltliche Gedanke im Vordergrund und vielleicht sagt das ja einiges aus über unsere Kultur?
Es scheint kein weit hergeholter Gedanke zu sein, dass wir unseren Planeten nur ausbeuten können, wenn wir nicht um die Ausgewogenheit von Nehmen und Geben wissen. Wenn wir die Kraft des Rituals als Seelennahrung leugnen, die Kraft der Dankbarkeit aus den Augen verlieren. Daher meine ich: Wir brauchen dringend wieder Rituale! Und sie dürfen ganz modern sein – hier und jetzt und in dieser Welt. Rituale, die all das Bunte der Welt-Kulturen aufnehmen und das globale Dorf widerspiegeln, in dem wir leben.
Ihr mögt es spirituelle Selbstbedienung nennen oder sogar kulturelle Aneignung schimpfen, ich finde den Gedanken wunderbar, mir aus den verschiedenen Traditionen mein persönliches Dankbarkeitsritual zusammenzustellen. Ein bisschen Buddhismus und ein Rest Christentum, etwas Wissen der Inuit und noch eine Prise Aberglaube der Urgroßmutter – fertig ist der persönliche Raum, in dem ich meine Kerze anzünde und mich mit dem großen Ganzen verbinden kann – und mit euch. In tiefem Dank.
Andrea Goffart ist Biografin, Ghostwriterin und Schreibcoach. Durch ihre Neugier war sie lange Zeit privat und beruflich viel in Europa unterwegs. Wodurch sie sich ein großes Spektrum an Themen und Wissen angeeignet hat. Mehr über die Autorin findest du auf ihrer Website.
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