54 Prozent aller Erwachsenen kennen das Problem der Schlaflosigkeit. Um die ersehnte Ruhe zu finden, greifen viele zu Schlaftabletten. Doch Medikamente sind nicht gerade die beste Lösung, meint Sat Bir Khalsa, Neurowissenschaftler in der Abteilung Schlafmedizin des Brigham and Women’s Hospital in Boston.
Einfluss des Nervensystems
„Schlaftabletten behandeln die Symptome, aber nicht die Ursache des Problems“, erklärt der Arzt Sat Bir Khalsa. Dahinter können sich Ängste, Erschöpfung und Stress verbergen – verursacht durch unseren immer hektischer werdenden Lebensstil. Wer hat noch nie Überstunden gemacht, zu viel Kaffee getrunken oder das Handy rund um die Uhr angelassen? Vielleicht glaubst du, dass du dich dem schnellen Rhythmus, den unsere moderne Lebensweise vorgibt, angepasst hast; wenn du aber unter Schlaflosigkeit leidest, kann das ein Zeichen dafür sein, dass dein Nervensystem dagegen rebelliert. Es kann in einem Zustand gefangen sein, der sich „Arousal“ (Erregung) nennt und in dem das sympathische Nervensystem gereizt ist. Vielleicht rasen deine Gedanken oder deine Handflächen schwitzen. Dein Körper schüttet vermehrt Stresshormone aus, Körpertemperatur und Herzfrequenz sind erhöht und der Stoffwechsel ist beschleunigt. „Es gibt viele Hinweise darauf, dass Menschen, die unter chronischer Schlaflosigkeit leiden, generell eine höhere Erregungsschwelle haben“, erklärt Khalsa. „Wenn man diese nervöse Erregung behandelt, verschwindet meist auch die Schlaflosigkeit.“ Du kannst dein Nervensystem durch beruhigende Rituale wieder ins Gleichgewicht bringen und deine Schlafgewohnheiten dauerhaft ändern.
Schlaflosigkeit aus ayurvedischer Sicht
Um herauszufinden, welche Rituale am besten zu dir passen, hilft eine Analyse der Schlaflosigkeit aus ayurvedischer Perspektive. Ayurveda ist eng mit der Lehre des Yoga verwandt und die älteste bekannte Heilmethode. Ayurveda geht davon aus, dass sich die Lebenskraft in drei verschiedenen Energien, auch Doshas genannt, in uns allen manifestiert: Vata, Pitta und Kapha. In diesem Test kannst du dein Dosha selbst bestimmen.
Vata steht für Luft und Äther, es reguliert die Bewegung im Körper. Pitta steht für Feuer, es beeinflusst die Verdauung und den Stoffwechsel. Und Kapha, das für Erde und Wasser steht, steuert den Körperbau und den Flüssigkeitshaushalt des Körpers. Da Vata das Nervensystem reguliert, zielen die meisten beruhigenden Rituale im Yoga und Ayurveda darauf ab, dieses Dosha zu besänftigen. Der erste Schritt, um Vata auszugleichen, sind regelmäßige Schlafenszeiten. Diese Beständigkeit unterstützt einen gleichmäßigen Biorhythmus (biologische Schwankungen innerhalb eines 24-Stunden-Zyklus). Wie findet man diese ideale Schlafenszeit? Ayurveda bietet hilfreiche Richtlinien. John Douillard, Leiter der LifeSpa School of Ayurveda in Boulder, Colorado, ordnet jedem Dosha eine Tageszeit zu: Vata die Zeit zwischen 2 und 6 Uhr, sowohl in den frühen Morgenstunden als auch am Nachmittag; Pitta die Zeit zwischen 10 und 2 Uhr, sowohl mittags als auch nachts; und Kapha hat seine Zeit von 6 bis 10 Uhr morgens und abends. Idealerweise solltest du in den langsamen Kapha-Stunden, also zwischen 18 und 22 Uhr, mit deinen Zubettgeh-Ritualen beginnen und vor 22 Uhr zu Bett gehen, denn dann beginnt die feurige Pitta-Phase.
1. Früh ins Bett, früh aufstehen
Douillards Ansicht nach ist die Uhrzeit, zu der du ins Bett gehst, wichtiger als die Anzahl der Stunden, die du schläfst. Unser Körper will von Natur aus etwa um fünf Uhr morgens aufstehen, erklärt er, denn vor der Industrialisierung wachten die Menschen stets bei Tagesanbruch auf. Wenn du also um Mitternacht ins Bett gehst und um acht Uhr aufstehst (während der trägen Kapha-Stunden), wirst du wahrscheinlich müde sein, obwohl du die empfohlenen acht Stunden Schlaf bekommen hast. Wenn du aber vor 22 Uhr zu Bett gehst und vor 6 Uhr aufstehst (während der energetischen Vata-Stunden), wirst du dich voraussichtlich wach und fit fühlen.
2. Nimm dir Zeit zum Entspannen
Der nächste Schritt ist eine Auszeit zwischen deinem hektischen Tag und der Schlafenszeit. „Du kannst nicht einfach bis 21 Uhr arbeiten und dann den Kopf aufs Kissen legen und einschlafen“, erklärt Khalsa. Schalte also Fernseher, Computer und Radio aus. Vermeide Abendkurse und Sport, wenn du danach aufgedreht bist. Wenn du nach Hause kommst, genieße diesen Übergang bewusst, indem du beruhigende Musik und Kerzen anmachst oder in deinen Lieblingspyjama schlüpfst. Denke an das yogische Prinzip des Pratyahara: Richte deine Sinne nach innen. Wenn du die Yogapraxis nur abends in deinen Tagesablauf unterbringen kannst und dich gern dabei verausgabst, achte darauf, deine Yogastunde mit langsamen, passiven Haltungen zu beenden.
3. Kleine Häppchen knabbern
Das Ernährungs-Mantra „Vor dem Zubettgehen nicht essen“ ist nicht immer der beste Rat. Einigen Menschen tut es gut, abends noch eine Kleinigkeit zu essen. „Während Sie schlafen, regeneriert sich Ihr Gewebe“, erklärt Aadil Palkhivala, zertifizierter Ayurveda-Therapeut und Leiter mehrer Yogazentren in Bellevue in Washington. „Der Körper braucht Nährstoffe, wenn er in eine Phase der Heilung eintritt.“ Ein guter Snack vor dem Zubettgehen könnte zum Beispiel ein Dinkeltoast mit Butter, ein Glas Biomilch oder ein Linsen-Dal sein. Tagsüber ist es wichtig, frisches Bio-Obst und Gemüse, unbehandelte Nüsse, Samen und Getreide zu essen, denn stark verarbeitete Nahrungsmittel und Chemikalien bringen das Vata-Dosha aus dem Gleichgewicht, sagt Palkhivala. John Douillard empfiehlt generell eine Vata-ausgleichende Ernährung, egal, welches Dosha bei dir überwiegt. Dazu gehören Nahrungsmittel wie gekochte Äpfel, Rosenkohl, Tofu, Hirse, Hafer, Walnüsse und Kürbis. Überdies weiß unser gesunder Menschenverstand: Wer gut schlafen will, sollte nach 17 Uhr keine koffeinhaltigen Getränke mehr trinken und Alkohol meiden.
4. Auf die Haltung kommt es an
Bevor du mit deiner abendlichen Yogapraxis beginnst, nimm erst einmal wahr, wie du dich fühlst. Bist du aufgedreht oder eher müde? „Verschiedenen Bedürfnissen muss man unterschiedlich begegnen“, sagt Palkhivala. Wenn du unruhig bist, empfiehlt er eine zehnminütige Sequenz mit Twists, stehenden Haltungen und aktiven Vorbeugen, um überschüssige Energie zu verbrennen. Wenn du müde bist, helfen regenerierende Positionen oder Atemübungen, die du solange übst, bis du dich erfrischt und gelöst fühlst – dann gehst du ins Bett. Auch wenn das widersprüchlich scheint: Es kommt oft vor, dass man zu müde zum Schlafen ist. „Die meisten Menschen glauben, dass Schlaflosigkeit durch zu viel Energie verursacht wird. Aber die meisten haben zu wenig Energie: Sie sind zu müde zum Schlafen“, erklärt John Douillard. Regenerierende Haltungen können hier helfen.
5. Warm halten
Der Raum, in dem du schläfst, sollte kalt sein, dein Körper hingegen warm. „Wenn du ins Bett gehst, sollte sich die Haut warm anfühlen“, sagt Roger Cole, Iyengar-Yogalehrer und Wissenschaftler, der sich mit Schlafphysiologie beschäftigt. Du kannst beispielsweise ein Aromabad nehmen, das zu deinem Typ passt. Achte darauf, dass du warm bleibst, wenn du passive Yogaübungen machst: Halte stets eine Decke, Socken und einen Pullover griffbereit.
6. Tagebuch führen
Gehen dir die Ereignisse der vergangenen Stunden durch den Kopf, sobald du schlafen gehst, oder planst du schon den nächsten Tag? Ein sehr wirksames Abendritual ist das schriftliche Festhalten deiner Gedanken: Schreibe auf, was dir durch den Kopf geht, damit du alle Sorgen loswirst, bevor du dich gemütlich ins Bett legst.
7. Spannungen wegmassieren
Eine beruhigende Massage löst muskuläre Spannungen. Probiere, Kopf, Nacken, Gesicht und Arme mit warmem, ungefiltertem Sesamöl einzureiben. „Das umschließt den Körper wie eine Schutzschicht und gibt dir ein Gefühl der Geborgenheit“, sagt Aadil Palkhivala. Du kannst auch eine andere Person in das Ritual einbinden: Lasse sie deine Wirbelsäule vom Nacken abwärts 5 Minuten lang sanft ausstreichen – danach wirst du ein Gähnen nicht mehr unterdrücken können.
8. Entspannt atmen
Atemübungen sind eine sehr gute Ergänzung zu den Einschlafritualen. „Jedes Mal, wenn du ausatmest, verlangsamt sich dein Herzschlag, und das beruhigt den Geist“, sagt Roger Cole. Versuche es mit einem Rhythmus, bei dem die Ausatmung doppelt so lang ist wie die Einatmung. Atme beispielsweise durch die Nase aus und zähle dabei bis sechs, dann atme ein und zähle bis drei. Wiederhole das 5 bis 30 Minuten lang vor dem Schlafengehen.
9. Geführte Entspannung
Lege dich im Bett entspannt in die Rückenlage, genau wie in Shavasana (Totenhaltung), und probiere einmal einen Bodyscan aus: Spanne nach und nach jeden Teil deines Körpers an und entspanne ihn bewusst wieder. Wenn dir das alleine schwerfällt, kannst du auch eine geführte Entspannungsmeditation oder eine Phantasiereise auf CD verwenden. Oder du versuchst es mit Yoga Nidra (yogischer Schlaf), einer Methode der Tiefenentspannung aus der tantrischen Tradition. „Yoga Nidra ist vor allem gut für Menschen, deren Geist immerzu aktiv ist“, sagt Roger Cole. „Es lenkt den Geist in eine andere Richtung.“
10. Ohne Zwang einschlafen
Wenn du dich für dein persönliches Einschlafritual entschieden hast, wiederhole es jeden Abend zur selben Zeit, so stellt sich dein Körper optimal auf den Schlaf ein. Sat Bir Khalsa sagt, dass der Schlaf sich nach wenigen Wochen verbessert: „Diese Dinge funktionieren nicht sofort, sondern mit der Zeit – wenn sich der Erregungszustand legt, wird auch der Schlaf besser.“ Und anstatt unter den üblichen Nebenwirkungen von Schlafmitteln zu leiden, die von Kopfschmerzen, Schwindel und Tagesmüdigkeit bis zu einer Medikamentenabhängigkeit reichen können, wirst du dich durch deine neuen Schlafgewohnheiten insgesamt wohler fühlen. „Das Gesamtbefinden verbessert sich, und oft verschwinden dadurch auch andere Probleme“, meint Khalsa. Das hört sich nach einer Nebenwirkung an, mit der wir alle gut leben können.