Ist Yoga nur im Rückzug von der Welt möglich? Aber wozu dient dann das ganze wundervolle Universum um uns herum?
Was ist wichtig im Leben?
Manchmal scheint es, als ob sich in der Yogaszene zwei Lager gegenüberstünden: Auf der einen Seite findet man die Traditionalisten. Sie studieren eingehend die alten Schriften und lesen aus ihnen heraus, dass der Weg des Yoga aus Askese und Rückzug von der materiellen Welt besteht. Postmoderne Yogalehrer andererseits gehen so weit zu sagen: Anything goes – alles ist Yoga. Dabei sieht ihr Lebensstil manchmal schon sehr hedonistisch aus. Wie viel Genuss ist erlaubt auf der Suche nach Freiheit?
In Indien wurde in alten Zeiten mehr mit Bildern als mit exakter Wissenschaft gelehrt. Die Geschichten von den Göttern helfen uns auch heute noch, entspannt darüber nachzudenken, was in unserem Leben von Bedeutung ist. Dabei gibt es so viele unterschiedliche Versionen des Schöpfungsmythos, wie es Yogaschulen gibt. Doch in allen Variationen wird über eines der vier grundlegenden Lebensziele berichtet: Kama. Der schöpferische Impuls, der unser Leben durchzieht – und uns alle immer wieder in seiner Macht hat.
Wie die Gefühle in die Welt kamen
In den meisten Geschichten gilt Brahma als der Erschaffer des Universums. Zu Beginn der Welt geht er in tiefe meditative Versenkung in sich selbst. Dann tritt seine Schöpfung hervor – und das hat auch für ihn sehr überraschende Konsequenzen. Nachdem er zunächst die zehn Urväter geschaffen hat, entsteht aus seiner Meditation heraus plötzlich die „Morgendämmerung“. Sie wird als die pure, verkörperte Weiblichkeit beschrieben. Und es geschieht etwas, das den Schöpfer und seine geistigen Söhne sehr verwundert. Sie beginnen zu fühlen. In ihnen entsteht Verlangen nach der Schönheit. Gleich darauf entspringt das nächste Wesen aus Brahma: Die Kalika Purana beschreibt es als einen Mann „glänzend wie Goldstaub“, der Blütenduft verströmt und das Gemüt dadurch noch mehr in Wallung bringt.
Brahma gibt diesem Gott nun seine Aufgabe: „Du wirst mit Pfeil und Bogen Männer und Frauen betören und so die dauernde Schöpfung dieser Welt in Gang halten.“ Und er unterwirft sich sogar selbst der von ihm geschaffenen Kraft: „Nicht einmal wir Götter werden deinen Frühlingsgefühlen standhalten. Wie alle atmenden Wesen wirst du selbst Vishnu, Shiva und mich verzaubern“, weist er ihn an. Und er gibt ihm den Namen Kama: Lebenslust.
Liebesverlangen ist also nicht nur Teil unserer menschlichen Natur. Selbst Brahma, der als Schöpfer ursprünglich das Prinzip der Weisheit und Reinheit verkörpert, unterwirft sich diesem Prinzip. Er gibt dem Gott der Liebe sogar selbst den Auftrag, ihn zu verzaubern. Das berauschende Prinzip der Lebenslust ist in gewisser Weise also nichts anderes als die Verkörperung der Schöpferkraft. Die Energie des Verlangens ist – von dieser Perspektive aus – eine weltliche Ausdrucksform der Weisheit der Schöpfung.
Der Schatten in der Geschichte
Wenn das schon alles wäre, könnten wir jetzt einfach jeden Tag feiern bis zum Morgengrauen. Doch leider erzählt die Geschichte auch, dass diese Schöpfung ihre Schattenseite mit sich brachte. Was passiert, wenn unsere Gefühle – aus welchen Gründen auch immer – für uns leidvoll werden? Durch das Wirken des Liebesgottes war Brahma plötzlich so sehr in seine eigene Schöpfung verstrickt, dass er seine göttliche Natur vergaß und vor Liebesverlangen blind wurde. Da erschien Shiva, der Asket, und verspottete ihn. „Du hast dich selbst vergessen“, rief er ihm zu. „Wo ist deine Weisheit jetzt?“
Brahma und die Urväter versuchten ihre Sinne zu bezwingen. Doch indem sie mit Gewalt die Leidenschaft aus ihren Poren herauspressten, gebaren sie die Gefühle der Scham. Durch das Abspalten dieser Anteile ihrer Persönlichkeit entstanden die Ahnengeister und die Dämonen des Todes. Shiva wandte sich von der Schöpfung ab, um nichts mit dem leidvollen Spiel der Gefühle zu tun zu haben. Er wollte lieber ausschließlich in der Stille meditieren, um nichts als den Frieden des höchsten Selbst in seinem Inneren zu erfahren.
Shiva und Shakti – die beiden Pole
Das passte den von ihm bloßgestellten anderen Göttern natürlich nicht. Also wurde ein Plan geschmiedet, wie auch der meditierende Einsiedler unter die Haube zu bekommen wäre. Dem Liebesgott wurde noch eine Gespielin zur Seite gestellt: Rati – die Göttin der Liebe und der Lust. Mit ihrer Hilfe sollte der Frühling auch den Asketen verzaubern können. Als passende Partnerin für Shiva wurde die Shakti selbst auserkoren – die ewige Kraft des Werdens. Sie kam mit dem Namen Sati als Tochter eines der Urväter auf die Welt, und widmete ihre ganze Jugend der Verehrung Shivas als höchstes Wesen. Irgendwann war ihr Wunsch nach dem Gatten schließlich so stark, dass auch Shiva voll Verlangen nach ihr seine Meditation verließ und nach ihrer Vermählung lange, heißblütige Liebesnächte am Berg Kailash mit ihr feierte.
Die beiden Liebenden sind ein Bild für die Kräfte, die uns in unserem Wesen bewegen: Shakti symbolisiert die Materie, unsere Körperlichkeit am unteren Ende der Wirbelsäule. Shiva repräsentiert das reine Bewusstsein, lokalisiert am tausendblättrigen Lotus-Chakra an unserer Schädeldecke. Zwischen diesen beiden Polen – der Anziehungskraft der Materie und der Hingabe zu Gott – spielt sich unser Leben ab. Mal ist für uns die Befriedigung der Sinne das Wichtigste, dann sind wir im Reich von Shakti. Einmal steht die finanzielle und materielle Absicherung im Vordergrund, ein andermal der selbstlose Dienst an unseren Mitmenschen. Den Sitz von Shiva berühren wir auch immer wieder mit dem Üben von Yoga – der Verbindung unserer individuellen Seele mit dem kosmischen Selbst.
„Damit will ich nichts mehr zu tun haben!“
Die Ehe von Shiva und Shakti fand leider schon recht bald ein dramatisches Ende. Die als Sati geborene Shakti wählte aufgrund eines Streits mit ihrem Vater den Freitod. Leidvoller kann Verstrickung in die Welt der Gefühle nicht sein. Von Trauer und Verzweiflung überwältigt zog sich Shiva erneut in die Meditation zurück. Er wollte nicht noch einmal von der Welt enttäuscht werden. (Ein Weg, für den sich übrigens auch im 21. Jahrhundert noch manchmal Menschen entscheiden, wenn sie mit der vollkommenen Hingabe zur Einfachheit im Namen von Yoga vor einer Beziehung oder anderen weltlichen Herausforderungen flüchten.) Shiva wurde es aber nicht so einfach gemacht. Als seine Gefährtin in neuer Gestalt als Parvati inkarnierte, lauerte der Liebesgott ihm wieder im Wald auf. Sein Pfeil traf Shivas Herz erneut und tatsächlich wurde der kürzlich noch so besonnene Gott wieder von der Liebe überwältigt. Statt sich zu freuen, wurde er allerdings rasend vor Wut. Denn die ihn befallende Unruhe wollte er sich selber nicht mehr eingestehen und projizierte seinen ganzen Ärger auf den „Störenfried“.
Kennen Sie das, wenn Sie jemand in der Meditation unterbricht? Sind sie dann auch sauer? Eigentlich schade, denn wir haben uns ja aufs Kissen gesetzt, um Frieden zu finden. Wenn wir dann erkennen, dass plötzlich Unruhe in uns aufsteigt, herrscht innerer Krieg, da wir uns nun auch noch über den Verlust des Gleichmuts ärgern.
Shiva schaute den Liebesgott nicht nur böse an. Er sandte aus seinem dritten Auge einen Feuerstrahl, der Kama zu einem kleinen Haufen Asche verbrannte. „Du bist schuld, dass ich mich aufgeregt habe“, schien er damit zu sagen. Unser drittes Auge ist manchmal übrigens ähnlich gefährlich wie das von Shiva. Wenn wir – mit der Kraft von Yoga und Meditation aufgeladen – jemanden so richtig böse anschauen, dann merken wir auf einmal, dass wir auch ganz schön zerstörerisch wirken können.
Frieden mit dem Frühling
Natürlich war Shiva dadurch kein besonders attraktiver Partner für die Frau, für die sein Herz gerade wieder entflammt war. Parvati hatte Mitgefühl mit Kamas Gattin Rati, deren Gemahl er gerade zu Asche versengt hatte. Das brachte Shiva zur Besinnung und der Geschichte doch noch eine gute Wende. Im Götterhimmel finden – wie bei uns Menschen auch – ständig Katastrophen statt. Aber am Ende haben auch diese ihren Teil am großen Plan der Schöpfung. Es war zu spät, seinen Wutausbruch rückgängig zu machen. Aber Shiva fand eine Lösung, die dem Liebesgott erlaubte, weiter zu wirken. „Ich kann ihn nicht wieder in seine körperliche Gestalt setzen“, sagte er. „Es gibt aber einen Ort, wo er auf ewig weiterleben wird: In den Herzen aller Menschen.“ Und dadurch können wir den Frühling auch heute in unserer Seele erleben.
Dem Schöpfungsmythos nach hat also beides einen Platz in unserem Leben: Wir erfreuen uns, so lange wir möchten, an der Lust der Sinne. Und wenn der damit unweigerlich verbundene Schmerz irgendwann zu groß wird, widmen wir uns der Meditation und suchen damit den Frieden der Erkenntnis. Sehr geschickt ist es natürlich, bis dahin eine regelmäßige Yogapraxis etabliert zu haben – damit unsere Reaktionen nicht immer so überschwänglich sind wie die der Götter. Das höchste Ziel ist das Bewusstsein darüber, dass zwischen dem Erleben unseres göttlichen Kerns und dem Spiel in der Welt – ob es gerade Spaß macht oder nicht – gar kein Unterschied besteht.
Ralf Sturm ist Yoga- und Meditationslehrer sowie Systemischer Berater. Neue Meditationen regelmäßig unter: www.gefühlssturm.de