Mudras, die kraftvollen Handgesten aus dem alten Indien, stehen als Symbol für bestimmte Eigenschaften oder Gottheiten und können auch in der heutigen Zeit ein bedeutender Aspekt unserer Yogapraxis sein. Anjali Sriram beherrscht die Kunst der Fingerhaltungen bis ins kleinste Detail – als Tänzerin lernte sie über Jahre hinweg, sich anmutig mit Händen und Körper auszudrücken. Anjali trat auf den Bühnen Indiens, Europas und den USA auf. Seit über 30 Jahren praktiziert sie Yoga und kennt die Zusammenhänge zwischen der indischen Philosophie, Yoga, indischem Tanz und Mudras wie kaum eine andere hierzulande.
YOGA JOURNAL: Anjali, weshalb verwendet man im indischen Tanz Mudras?
Anjali Sriram: Mudras sind Fingerhaltungen, die vor 2000 Jahren in der Natyasastra festgehalten wurden. Das ist eine Art Tanzlehrschrift, die etwa zur gleichen Zeit wie Patanjalis Yoga-Sutren entstand. Dort wird genau beschrieben, wie Mudras ausgeführt werden und wofür man sie benutzt: Es ist wie Vini Yoga für die Hände, eine Art Gebrauchsanweisung. Das Interessante ist, zu wissen, wie ich ein Mudra gebrauche, so dass daraus ein bestimmtes Symbol wird. Ich kann zum Beispiel mit dem Hand-Mudra „Alapadma“ den Mond darstellen. Oder ich kann das „Lotus“-Mudra verwenden, um „Liebe“ auszudrücken. Dabei handelt es sich um eine Symbolik, die für etwas ganz Bestimmtes steht – eine verschlüsselte Aussage. Mudras stehen immer als Symbol für bestimmte Werte. In Indien waren Mudras schon immer deshalb so wichtig, weil man durch die verschiedenen Mudras Götter erkennt. Wir wissen beispielsweise, wer Shiva, Brahma, Vishnu oder Durga ist, indem wir uns die Hände ansehen. Genauer gesagt, drücken die Mudras das aus, was die Götter darstellen: bestimmte Energien und Kräfte. Durga zum Beispiel steht für Stärke, Feuer, Zerstörung und Reinigung. Und diese einzelnen Eigenschaften werden in Mudras ausgedrückt.
Kann man, wenn man in der Meditation ein Mudra über einen längeren Zeitraum hält, bestimmte Eigenschaften kultivieren?
Genau. Wenn man das Mudra der Kreation hält, möchte man in den Zustand der Kreativität gelangen. Wenn man das Mudra des Empfangens hält, möchte man etwas empfangen, eine geistige Kraft. Beim „Anjali“-Mudra [Die Handflächen werden vor dem Herzen aneinander gelegt, Anm. d. Red.] möchte man beide Körperhälften zusammenbringen, konzentriert sein und sich darbringen. Führt man die Hände weiter nach oben vor die Stirn, symbolisiert man damit, dass man an den Guru denkt, und wenn man sie ganz weit nach oben bringt, an die Ewigkeit. Werden diese Mudras in der Meditation gehalten, möchte man sich mit den Kräften der Mudras verbinden.
In deinem Workshop hast du von der Verbindung der körperlichen mit der mentalen Ebene gesprochen. Wie kommt man über die physische auf die geistige Ebene?
Unser Körper besteht aus verschiedenen Elementen, die besonders stark in unterschiedlichen Bereichen vertreten sind. Unser Kopf mit dem Denken ist unser geistiges Zentrum – das verbinde ich meistens mit dem Element der Luft. Die Brust verbinde ich mit dem Herzen, mit der Energie und mit dem Feuer. Meinen Bauch verbinde ich mit Wasser, sowie mit dem Ausscheiden, Erhalten, Festhalten und der Beweglichkeit. Wenn ich Erdung besitze, bin ich gleichzeitig sehr flexibel – meine Füße verbinde ich mit der Erde, dem Wachstum und dem Aufsteigen. Die Hände bedeuten für mich Kommunikation. Sie sind die Intelligenz meines Wesens. Ich kann mich mit ihnen ausdrücken, greife mit ihnen nach dem Glück, berühre, nehme Kontakt auf und kommuniziere. In Anbetracht dieser Vielfalt können wir die Mudras nicht einfach nur mit den Händen üben, sondern mit Füßen, Bauch, Kopf und Herz unterstützen. Wir müssen alle Elemente und den Leib vereinen – also auch Körper und Geist – um ganzheitlich zu verstehen. Es gibt dazu einen sehr klugen Spruch: „Wohin meine Hand geht, dahin gehen meine Augen. Wohin meine Augen gehen, dahin gehen meine Gedanken. Wohin meine Gedanken gehen, da entsteht Ausdruck. Wo Ausdruck ist, entsteht Rasa.“ [In der indischen Philosophie geht es um Rasa, die Essenz. Gott schöpft, um zu kreieren, aus Rasa; Anm. d. Verf.]
Worauf muss ich achten, wenn ich Mudras ausführe?
Das Mudra ist ganzheitlich, wird also von unserem ganzen Körper getragen. Es ist wichtig, wie die Füße stehen oder wie die Sitzhaltung ist. Die Schultern sollten entspannt sein, wenn wir die Arme weit machen und den Brustkorb öffnen. Ein Mudra, das mit verkrampften Schultern gehalten wird, hat keine Wirkung. (Anjali Sriram arbeitet während des Interviews besonders viel mit Gestik. Jede Handbewegung scheint perfekt auf die jeweilige Aussage abgestimmt.) Jeder Mensch kommuniziert irgendwie mit Gestik, allerdings ist uns oft gar nicht bewusst, was wir eigentlich mit unseren Händen aussagen. Das ist das Interessante, wenn wir mit Mudras arbeiten: dass uns bewusst ist, was wir eigentlich ausdrücken wollen.
Du hast gesagt, dass man beim Ausführen der Mudras zuerst alle Gedanken sammelt und dann leer wird. Wie funktioniert das?
Wichtig ist „Saman“: von sich selbst abzusehen. Nehmen wir ein Beispiel: Ich sehe geradeaus. Ich sehe geradeaus und sehe dich – nicht mich. Ich bin fasziniert von dir, konzentriere mich voll auf dich. Aber viele Leute konzentrieren sich nur darauf, wie sie in diesem Moment auf andere wirken. Ich tue das nicht: In dem Moment, in dem ich dich sehe, interessierst nur du mich. Dies gilt es zu kultivieren: dass wir von uns selbst absehen können und das, was gegenüber ist, aufnehmen. Durch dieses Aufnehmen des anderen bekommen wir Ausdruck. Ich kann beispielsweise zu einem Schmetterling werden, indem ich ihn vor mir sehe. Dabei denke ich nicht: „Ich bin jetzt diese Frau, die Schnupfen hat.“ Ich sehe den Schmetterling und vergesse mich. Durch dieses „Von-sich-Absehen“ kommt man in den Zustand des Bhava [künstlerischer Ausdruck für einen inneren Zustand; Anm. d. Red.]. Parallelen findet man im Yoga beispielsweise in den Zuständen Maitri und Karuna. [Maitri oder Metta (Liebe, Freundlichkeit, Güte) und karuna (Mitgefühl) sind zwei der vier Brahmaviharas, Geisteshaltungen, aus der buddhistischen Ethik; Anm. d. Red.]. Ein Tänzer braucht ein Grund-Bhava. Das heißt: Ich bin immer freundlich. In den Shastras steht geschrieben: „Eine Tänzerin hat ein immer freundlich lächelndes Gesicht.“ Und sie sieht von sich selbst ab.
Wie lenke ich meine Gedanken, damit ein Mudra entsteht?
Zuerst möchte ich die Technik erklären: Wenn ich eine Blüte halte, aber woanders hinsehe, entsteht da bestimmt keine Blüte in meinen Händen. Auge und Hand müssen miteinander in Verbindung stehen. Ich sehe genau hin. Nun kommt die Kontrolle der Gedanken hinzu: Ich möchte das, was ich wirklich denke, ausdrücken. Ich muss fast schon die Blüte riechen und mir ihre Farbe vorstellen können. Und dann kommt der Ausdruck. Ich kann eine Göttin darstellen und mich in sie hineinversetzen, wie fein, edel und mitfühlend sie ist – dann kommt dieser Zustand über mich. Wie ich in dem Moment aussehe, ob ich vielleicht geschminkt bin, ist völlig uninteressant. Das Gefühl der Göttin senkt sich über mich. Das ist Bhava. Tatsache ist, dass ich die technische Voraussetzung benötige, um die Gedanken in etwas hineinzuversenken. Das fehlt beim Üben von Asanas manchmal: Man praktiziert eine Asana und weiß nicht, was man denken soll. Da fehlt eine gewisse Kommunikation. Ich muss konstant an „ausatmen“, „loslassen“, „Leere“ oder „von mir absehen“ denken. Manchmal fehlt die Anleitung, was der Übende jetzt genau denken soll. Denn wenn ich, während ich im Baum stehe und gut balanciere, denke: „Wow, ich kann ja gut stehen“, ist das Ego schon wieder da. Dann ist Yoga vorbei. Erst, wenn ich mit der Asana verschmelze und die Übung fließen lasse, kommt Bhava über mich. Ich muss mein Bein nicht bis zum Himmel strecken können. Ich gehe mit meinem Bein nur so weit in die Höhe, bis ich ein Ende fühle. Von dort aus schicke ich meine Gedanken zum Himmel.
„Mudras sind der Schlüssel zur indischen Philosophie“, heißt es in deiner Kursbeschreibung. Am Ende des Workshops hast du uns gezeigt, dass man tatsächlich ganze Mantras über Mudras ausdrücken kann. Ist das damit gemeint?
Wenn ich vom Schlüssel zur indischen Philosophie spreche, meine ich, dass die Mudras die Kräfte der Götter ausdrücken. Jeder Gott hat eine Philosophie, eine Bedeutung, einen Grund, weshalb er existiert. Saraswati steht zum Beispiel für Lernen, Weisheit, Reinheit und Frieden. Mit Mudras kann ich Saraswati formen und über die Mudras die hinduistische Lehre verstehen. Als die Shastras im Jahr null entstanden sind, waren die Mudras schon eine hochentwickelte Kunst, die man dann in ihnen niedergeschrieben hat. Wir blicken also in ganz alte, archaische, rituelle Zeiten zurück, in denen man mit Mudras gebetet hat. Die Mudras sind ein Symbol für einen Geisteszustand und für das Opfern. Die Priester in Indien opfern den Göttern mit Hilfe von Mudras und kennen die Mudras ebenso wie die Tänzer. Die Mudras sind auch deshalb ein Schlüssel zur indischen Philosophie, weil sie ein Kommunikationsweg zu geistigen Kräften sind.
Heute wird in einigen Büchern beschrieben, dass es bestimmte Mudras gibt, mit denen man zum Beispiel Kopfschmerzen lindern kann.
Es liegt mir fern, Menschen zu kritisieren, die ich gar nicht kenne, oder Schriften, die ich nicht gelesen habe. Aber man muss immer davon ausgehen, dass vieles, was da draußen existiert, stark vereinfacht wurde. Es wurde vereinfacht, um es populär zu machen. Viele lesen das Geschriebene einfach mechanisch und glauben, dass es wirkt. Klar, wenn ich glaube, dass es wirkt, und mich das glücklich macht, hat der Glaube seinen Zweck erfüllt. Der Glaube ist ja unglaublich. Ich glaube nicht, dass es unheilbringend ist, wenn man daran glaubt. Dennoch: Die Dinge werden vereinfacht und damit verlieren sie viel von ihrem Inhalt.
Von Verena Hertlein und Laura Hirch