Interview: Lalleshvari & Vilas Turske

In Unterschieden vereint

Das bekannte Lehrerpaar Lalleshvari und Vilas Turske unterrichtet mit Leidenschaft lebensbejahendes Anusara Yoga, welches tief in der tantrischen Philosophie verwurzelt ist. Diese geht davon aus, dass all es, was uns in der Welt begegnet, eine Verkörperung des höchsten Bewusstseins ist.

All es im Universum ist intrinsisch gut, sagt Anusara Yoga. Im Interview offenbaren Lalleshvari und Vilas einen positiven, wenngleich durchaus kritischen Blick auf Tantra im Westen. Sie bezeichnen den sogenannten „Neo-Tantrismus“ als neue Version tantrischer Philosophie – mit indischen Wurzeln, aber von einem westlichen Geist durchdacht.

YOGA JOURNAL: Im Anusara Yoga geht es spürbar um die tantrische Philosophie. Was am Yoga ist tantrisch?
L.T .: Zunächst geht man im Tantra davon aus, dass keinerlei Unterschiede existieren. Das ist gerade im indischen Kontext, wo das komplexe Kastensystem das soziale Gefüge bestimmt, sehr provokant. Außerdem existiert dort bis heute ein großer Unterschied zwischen Mann und Frau, wie man der Presse kürzlich wieder entnehmen konnte. Das kann man mit unserer Soziokultur absolut nicht vergleichen. Da ist der tantrische Ansatz in seiner Historie natürlich extrem: Alles hat seine Güte, alles ist ursprünglich gut – auch wir Menschen, so unterschiedlich wir durch unsere Herkunft oder Erziehung sein mögen. Im Yoga gibt es einfach keinen Unterschied. Und das war evolutionär; ich möchte es nicht „revolutionär“ nennen, weil die Tantriker nicht gekämpft haben. Sie waren vielmehr davon überzeugt, dass ihr Ansatz aus dem Vedanta kommt und sich ganz natürlich daraus entwickelt hat.

Ist der tantrische Ansatz auch für uns Westler eine natürliche Entwicklung?
L.T .: Für uns im Westen ist die gesamte indische Denkweise erst einmal nur schwer nachvollziehbar, weil wir einen großen Demokratieanspruch besitzen. Deshalb ist ein Guru für uns auch nicht mehr einfach ein Guru. Das ist allerdings kein Tantra, denn Tantra hat immer den Guru als denjenigen anerkannt, der Erleuchtung erfahren hat und in ihr verweilt, um anderen zu helfen. Die immer wiederkehrende Lebensaufgabe des Gurus ist es, zu helfen. Damit die Menschheit frei wird, braucht es einen Guru. Vilas und ich denken, dass die tantrische Philosophie hier vielleicht am besten vermittelt wird, wenn wir zunächst zeigen, dass wir in Unterschieden vereint sind. Vilas und ich sagen auch im Unterricht ab und an Dinge, die nicht unbedingt kongruent sind. Wir haben beide das Recht, uns zu exponieren. Wir zeigen auch im Unterricht: Ich habe deine Energie verstanden, aber ich habe meine Energie. Vilas schaut mich an, versteht meine Energie – und das ist dieses „ParApara“, das Vereint-Sein in Unterschieden. Das ist etwas ganz Tantrisches und so möchten wir das umsetzen.

Vilas, was ist für dich der bedeutendste Aspekt am Tantra?
V.T.: Was für mich so wichtig ist, ist die Vorstellung, dass das Universum erst einmal intrinsisch gut ist. Natürlich gibt es Saukerle und natürlich haben wir alle schlechte Erfahrungen gemacht; das ändert aber nichts an dem großen Bild des Guten. Selbst eine Zeitspanne von 20 Jahren und schlimmste Diktaturen sind historisch gesehen nicht mehr als ein Wimpernschlag. Seitdem ich das so sehen kann, habe ich nicht mehr die Idee von Unter- oder Überlegenheit. Ich muss den Schülern nichts beibringen, weil ich der Lehrer bin. Eigentlich brauche ich kein Lehrer zu sein. Ich möchte einfach Dinge mit den Schülern teilen, von denen ich glaube, dass sie für sie interessant sind. Aber ich muss mich nicht mehr abgrenzen. Das leben Lalla und ich. Das bestimmt unseren Alltag – mit seinen Krisen und allem, was zum Leben dazugehört. Ich habe stark den Eindruck, dass der Umgang mit der tantrischen Philosophie viel verändert – und das ist wirklich das Grundbewusstsein von einem durchtränkten Gutsein. Wenn ich erwache, lasse ich zunächst alles geschehen, indem ich mir sage: Ich bin eingebettet in ein System, das für mich sehr bedeutend ist, das will, dass ich lebe. Es beatmet mich, ich werde beatmet, ich bin da. Aber ich hab es nicht unter Kontrolle.

Ist es auf dem tantrischen Weg wichtig, diese Demut und Hingabe alltäglich zu erfahren und sich eben nicht aus dem Leben in die Einsamkeit der Höhle zurückzuziehen?
L.T.: Ja, unbedingt. Man spürt es an den ganz kleinen Beispielen, die einen viel lehren. Wenn ich etwa im Bus angerempelt oder beschimpft werde, was in einer harten Stadt wie Berlin oft passiert, ist bei mir heute der Impuls, irgendetwas zurückzuschnauzen, total weg. Ich erkenne eher, dass der andere gerade jetzt auch sein Bestes gibt. Er kann nicht anders. Das ist okay. Und das ist schon sehr tantrisch. Ich muss mich hierbei auch gar nicht zurücknehmen; versteht mich richtig, ich denke mir nicht, ich müsste hier die Gute sein. Gar nicht, ich schau’ einfach nur gut hin. Und das lehrt ganz viel.

Im Vorgespräch meintet ihr, dass es so viele Missverständnisse in Bezug auf Anusara Yoga und Tantrismus gäbe, über die ihr gerne aufklären würdet. Könnt ihr Beispiele nennen?
V. T.: Also erst einmal ist Tantra ja schon in der indischen Kultur höchst umstritten. Es hat sich nie als philosophische Richtung etabliert, von der die Menschen glauben, dass sie wirklich einen wesentlichen Beitrag zu ihrer heutigen asiatischen Lebensweise leisten würde. Ich glaube, das liegt zum großen Teil daran, dass die Vorstellung vom Gleichsein sehr missverständlich ist. Da kommt dann plötzlich einer, der diese scheinbare Gleichheit für sich ausnutzt und wieder ein Nicht-Gleichsein daraus macht – vielleicht sogar, ohne es zu merken. Gelangt nun eine solch komplexe Philosophie in den Westen, wo ein völlig anderes Philosophieverständnis als in Indien herrscht, können wir vielleicht erahnen, keinesfalls aber begreifen, was sie bedeutet. Wir laufen meiner Meinung nach Gefahr, dass Pseudo-Tantriker anfangen, die einzelnen Bereiche von scheinbarer Freiheit für sich herauszupicken und daraus eine Kultur zu machen – und das hat absolut gar nichts mehr mit Tantra zu tun. Ich glaube wirklich, der tantrische Weg ist ein Weg, den man gehen muss. Auf diesem Weg braucht man seinen Lehrer und man muss Schüler sein. Man muss demütig sein und sich ständig hinterfragen. Und diese ganzen sexuellen Referenzen, die ins Kamasutra zurück entwickelt werden und überhaupt nichts mit Tantra zu tun haben, sind schlicht und ergreifend eine westliche Fehlinterpretation. Die werden von Millionen von Menschen – und ich glaube, das kann man in dieser Größenordnung sagen – ausgenutzt, um ihre eigene Philosophie daraus zu machen. Aber Tantra ist ein viel ernsthafterer, ein viel tieferer Weg, der wirklich ganz große Leistungen gebracht hat, indem er in Indien ein limitierendes Gesellschaftssystem in der praktischen Durchführung aufgelöst hat. Tantra ist ein befreiender Weg, wahrscheinlich aber auch der anspruchsvollste und anstrengendste, den man überhaupt gehen kann.

Wie zeigt sich das mitten im Leben?
V.T.: Wir erleben das regelmäßig in unserer Ausbildung, wo wir ja nichts vorgeben. Wir sagen einfach nur: Mach’ das, wie und wann du willst. Das geht fast nicht. Man kann sich nicht vorstellen, wie schlecht die Leute mit dieser Freiheit umgehen können. Nur weil jemand alles Mögliche getan hat, ist er noch lange kein Lehrer. Man merkt, wenn man Lehrer ist. Aber die Leute wollen Regeln, Limitierungen und Festlegungen. Aber dann ist der Unterricht keinesfalls tantrisch, weil er in einem scheinbaren Gefüge von Freiheit stattfindet, die gar nicht existiert. Tantra umarmt das Leben und der Tantriker schöpft aus der Fülle. Er hat Freude am Leben, weil er genau weiß, dass er alles genießen kann, aber nicht muss. Und da sind wir schon wieder bei den Freiräumen: Im Sinne des Ursprungsgedankens werden Freiräume zum Beispiel im Bereich der Sexualität auch ausgenutzt. Letztlich wird nur auf Frustrationen eingegangen, die die Menschen anderweitig befriedigen wollen – durch einen scheinbar freien Raum. Das ist wirklich ein Missbrauch von einem Freiheitsgefühl.

Was versteht ihr unter Neo-Tantrismus?
V. T .: Indem Tantra mehr und mehr im Westen ankommt, entsteht etwas Neues – eine neue Version. Zwar hat sie ihre Wurzeln dort, wo Tantra ursprünglich herkommt, ist jedoch trotzdem eine völlig neue Version. Die „neue“ tantrische Philosophie fängt bei Ken Wilber und anderen wunderbaren Denkern an, die weit ins Vedanta, aber auch ins Tantra hineingehen. Und man spürt bei manchen Aspekten einfach, dass teilweise so gedacht wird, wie nur ein westlicher Geist denken kann. Dennoch glaube ich, dass auch sie alle Tantriker sind. Ich empfinde es als positiv, dass etwas Neues entsteht, denn so, wie wir hier im Westen leben und wie wir unseren Unterricht gestalten, wäre es in Asien gar nicht möglich. Das ist dort vielerorts unvorstellbar. Und trotzdem bin ich davon überzeugt, dass wir unsere Verwurzelung in der tantrischen Philosophie haben – es ist das, was wir tun. Alles basiert darauf. Es entwickelt sich weiter, ja – und das ist gut so.

Lalleshvari und Vilas Turske haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich Anusara Yoga in Deutschland etabliert hat. Informationen zu Ihrem Unterrichts-, Ausbildungs- und Retreatangebot unter: www.para-apara.de

Friedliche Haltung

Josh Summers ist Akupunkteur, Yin-Yoga- und Meditationslehrer in Boston. Im März unterrichtete er in dem Münchner Studio „Airyoga“ einen zweitägigen Workshop, der sich als inspirierende Mischung aus Yin-Yogahaltungen und praktischer Meditationsanleitung entpuppte. Sofern sie sich darauf einließen, konnten die Teilnehmer zahlreiche Anregungen für ein tiefes Eintauchen in ihr Innenleben mit nach Hause nehmen. Weshalb Yin Yoga und Meditation eine perfekte Einheit bilden, erzählt der sympathische Yogi im YOGA JOURNAL-Interview.

YOGA JOURNAL: Josh, wann und warum hast du mit Yin Yoga begonnen?
JOSH SUMMERS: Mit Yin Yoga begann ich etwa vor zwölf Jahren, nachdem ich bereits zehn Jahre lang Iyengar Yoga praktiziert hatte. Damals hatte ich begonnen, mich für Meditation zu interessieren, und nahm an einigen Retreats teil, bei denen ich viel saß. Dabei plagten mich Beschwerden, die typisch sind für jemanden, der meditiert: Schmerzen im Rücken, in den Hüften und Knien. Ich fühlte mich geradezu betrogen von meiner Iyengar-Praxis und suchte nach Möglichkeiten, bequemer in der Meditationshaltung sitzen zu können. Dabei stieß ich auf einen Artikel von Paul Grilley im amerikanischen YOGA JOURNAL und beschloss, meiner eigenen Praxis einige Yin-Elemente hinzuzufügen. Schon bald war ich begeistert, da nicht nur meine Schmerzen in der Meditation aufhörten, sondern sich zugleich mein Geist viel ausgeglichener und ruhiger anfühlte.

Auf welchen Prinzipien basiert Yin Yoga und wie wirkt es?
Erst einmal möchte ich betonen, dass Yin Yoga ein allgemeiner Ansatz ist, wie man Yoga praktizieren kann. Es handelt sich nicht um ein zusammenhängendes System oder eine geschützte Marke. An die Praxis trete ich auf die selbe Weise heran wie andere Lehrer auch – genau wie bei Paul Grilley oder Sarah Powers handelt es sich um lange und passiv gehaltene Asanas am Boden. In diesem Stil sind die Prinzipien relativ simpel: Der Yogi bringt seinen Körper in eine Haltung, die ihm ein sanftes und gut erträgliches Maß an körperlichen Empfindungen schenkt. An diesem Punkt entspannt er seine Muskeln und bleibt ohne Bewegung zwischen 3 und 10 Minuten oder sogar länger in der Position. Diese Art der Praxis wird allgemein den „Yin-Level“ im Leben heben. Beim Yang Yoga werden die Muskeln primär angeregt, gekräftigt und gedehnt. Beim Yin Yoga sind sie dagegen entspannt und der Körper ist ruhig, so dass die kompakteren Bindegewebsstrukturen um die Gelenke herum auf sichere Weise stimuliert werden können. Auch in unserem Geist lassen sich diese generellen Wirkungsweisen beobachten: Beim Yang Yoga zielt der Yogi darauf ab, Yang-Qualitäten wie Stärke, Selbstvertrauen oder Willenskraft zu kultivieren, während er beim Yin Yoga Yin-Qualitäten wie Stille, Empfänglichkeit und inneren Frieden erlangen möchte. Natürlich sind das jetzt Verallgemeinerungen … Yang wird immer auch Yin-Elemente enthalten und andersherum. Nichts kann ausschließlich Yin oder Yang sein.

Wie wird das Meridiansystem durch die Yin-Haltungen beeinflusst?
Die sogenannte moderne Meridiantheorie geht davon aus, dass die Meridiane im Bindegewebe des Körpers zu finden sind. Jedes Yoga, egal ob Yin oder Yang, stimuliert dieses Gewebe, doch Yin Yoga unterstützt nachhaltig die Gesunderhaltung des Bindegewebes an den Gelenken. Gerade dort sind energetische Blockaden oft am stärksten. Auf energetischer Ebene kann man also sagen, dass Yin Yoga hartnäckige Verstopfungen beseitigt und Yang Yoga frische Energie durch die Kanäle fließen lässt, sobald diese Blockaden verschwunden sind. Um besser verstehen zu können, wie diese Theorie funktioniert, ist es hilfreich, das Konzept der Piezoelektrizität näher zu betrachten. Einfach ausgedrückt, handelt es sich dabei um Elektrizität, die entsteht, wenn kristalline Strukturen zusammengedrückt werden. Im Körper kann das Netzwerk aus kollagenem Bindegewebe als „flüssiges Kristall“ verstanden werden, welches bei Kompression und Dehnung eine piezoelektrische Ladung erzeugt. Ein in Achtsamkeit geschulter Yogi wird diese elektrischen Ströme und Wellen von Energie spüren, ganz besonders nachdem er direkt aus einer Yin-Yogahaltung herauskommt. Genau das ist so interessant an Akupunktur und an Yoga: Man mag an einer Stelle mit einer Nadel oder einer bestimmten Yogahaltung ansetzen, aber die Wirkung ist im gesamten Körper spürbar – und zwar deshalb, weil das Bindegewebe den gesamten Organismus durchläuft.

Empfiehlst du Yin Yoga als komplementäre Übungspraxis?
Ja, definitiv. Für die meisten Yogapraktizierenden, die einen Yang-Yogastil üben, ergänzt Yin Yoga die Praxis perfekt. Zum Beispiel ist es nicht ungewöhnlich, dass mir ein Ashtanga-Yogi nach einigen Yin-Yogaeinheiten erzählt, dass sich seine Ashtanga-Praxis plötzlich leichter und flüssiger anfühlt. Yin und Yang unterstützen einander, gleichen sich aus und bestärken sich. Nur eines von beiden zu betonen, fördert Ungleichgewicht. Die Leute fragen mich immer, wie viel Yin Yoga sie praktizieren sollen. Aber es gibt keine Formel. Ich rate immer, erst mit ein bisschen Yin Yoga zu beginnen, um zu sehen, wie es sich anfühlt. Dann kann man tief in sich gehen und selbst beurteilen, ob man etwas mehr Yin oder Yang in seinem Leben braucht. Eigentlich geht es grundsätzlich darum, sich selbst zu reflektieren und sich dann in Richtung Balance zu bewegen.

Wie sieht eine Klasse von Josh Summers aus?
Im Rahmen von eineinhalb Stunden betonen meine Klassen ein spezielles Meridiansystem oder eine bestimmte Körperregion, wie Hüften oder Rücken. Manche meiner Schüler bleiben 4 bis 5 Minuten lang in den Haltungen, daher unterrichte ich nicht mehr als zehn oder zwölf Asanas. Zu Beginn der Stunde erläutere ich meist die fundamentalen Elemente des Yin-Yoga-Ansatzes, damit die Schüler wissen, wie sie auf sich selbst achten können. Zudem biete ich meditative Reflexionen für die Zeit in den Haltungen an. Ich versuche immer, mindestens eine halbe Stunde am Ende für Stille übrig zu haben, damit die Schüler in ihre eigene Erfahrung und Praxis eintauchen können.

Wie stehen dein tiefes Interesse an Yin Yoga und Meditation miteinander in Verbindung?
Wie ich bereits erwähnte, kam ich zum Yin Yoga, weil ich mir erhoffte, dadurch komfortabler beim Meditieren sitzen zu können. Je mehr ich es praktizierte, desto klarer wurde mir, dass es tatsächlich ein großartiger Rahmen ist, um Meditation zu üben. Viele Anhänger der Yang- Stile würden vermutlich anmerken, dass ihr Stil ebenfalls eine meditative Komponente besitzt. Ich verneine das nicht, doch in der Stille des Yin Yoga kann man sich wirklich entspannen, loslassen und in einen Zustand eintauchen, den man nur schwer erreichen kann, wenn im Außen viel Bewegung herrscht. Häufig kommt es vor, dass spirituell Suchende eine ziemlich Yang-orientierte, kontrollfreudige Geisteshaltung mitbringen, und solche Gedanken haben wie: „Ich muss entspannter, ruhiger, mitfühlender werden. Ich muss ein besserer Mensch werden, ein weniger wütender Mensch. Ich muss das jetzt umsetzen, um in der Zukunft etwas Bestimmtes zu werden oder zu bekommen.“ Das Problematische an dieser Denkweise ist, dass sie der Ansicht vieler spiritueller Traditionen widerspricht, Frieden, Glück und Freiheit seien bereits vorhanden – genau in diesem Augenblick. Wenn man praktiziert, um diese Zustände irgendwann einmal in der Zukunft zu erfahren, ist das die Garantie dafür, dass man sie nie erreichen wird! Das ist ungefähr so, als würde man seine Autoschlüssel in der Wohnung suchen und vergessen, dass man sie schon längst in die Jackentasche gesteckt hat. Yin Yoga und sein Fokus auf empfängliche, innere Stille richten den Übenden auf den Moment aus, so dass er Frieden und Glück direkt erfahren kann. Eine solche Qualität des Seins stellt sich dann ein, wenn der Yogi damit aufhört, sie in irgendeinem anderen Moment zu suchen. Je mehr ich meditierte, desto stärker wollte ich als Lehrer einen Weg finden, diese Erfahrung mit meinen Schülern zu teilen. In einer sehr aktiven Stunde, die sich auf akkurate Ausrichtung und fließende Bewegungen konzentriert, hat man einfach nicht genügend Zeit, wirklich tief in meditative Themen einzutauchen. Im Yin Yoga kann man dagegen mehrere Minuten lang in einer Haltung über ein bestimmtes Thema sprechen und ermöglicht den Schülern dadurch, in der Asana Meditation zu praktizieren. Du bist Gründer eines Instituts, das vor allem in Unternehmen Achtsamkeitsmeditation anbietet und propagiert.

Was für Programme sind das?
Mit dem metaMind-Institut möchte ich Individuen und Organisationen die zahlreichen Vorteile von Achtsamkeitsübungen in Berufsleben und Alltag nahe bringen. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen zunehmend und sehr viele Menschen empfinden es als große Herausforderung, mit der Komplexität und Unsicherheit unseres modernen Lebens zurechtzukommen. Achtsamkeit als Übung, in jedem Moment vollkommen präsent zu sein, kann als Gegengift bei diesen Problemen wirken. Indem man einfach nur die Aufmerksamkeit immer wieder in den gegenwärtigen Moment bringt, wird man ruhiger und bekommt einen objektiveren Blick auf das Leben. Aus dieser ruhigen Klarheit entspringen fähigere, innovativere und vorteilhaftere Reaktionen in den unterschiedlichen Arbeits- und Lebenssituationen. Mich persönlich interessiert vor allem der Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und Führungspositionen, da die Entscheidungen von Personen auf Führungsebene das Leben vieler direkt beeinflussen. Zum Einen wirkt sich das Maß an Bewusstheit einer Führungsperson auf die Wahrnehmung der Welt und die Handlungen ihrer Mitarbeiter aus. Zum Anderen erkennen mehr und mehr Führungskräfte selbst, dass sie durch das Achtsamkeitstraining genau die kognitiven Fähigkeiten erhalten, die sie benötigen, um den Herausforderungen unserer Zeit mit größerer Belastbarkeit, mehr Gleichmut und angepasster Flexibilität zu begegnen.

Geht eine regelmäßige Meditationspraxis automatisch in den Alltag über oder benötigt man bestimmte Strategien, um die oftmals wahrgenommene Trennung zwischen Meditation und
alltäglichem Leben zu überwinden?
Ich empfinde das Verhältnis zwischen Achtsamkeitspraxis und Achtsamkeit im täglichen Leben als ähnlich wie das zwischen einem Fitnesstraining und dem Kraft- und Energielevel, das einem jeden Tag zur Verfügung steht. Während der Dauer eines Fitnesstrainings stärkt und dehnt man Muskulatur und Gewebe, sodass die vielen kleinen Aufgaben im Alltag wie das Tragen von Einkaufstaschen, das Hochheben der Kinder oder das Überziehen der Betten leichter werden. Im Rahmen der Achtsamkeitspraxis betont man für eine gewisse Zeitspanne das aufmerksame Verweilen im gegenwärtigen Moment. Im Lauf der Zeit und mit regelmäßiger Praxis taucht diese Achtsamkeit überall auf – ganz egal, wo man ist oder was man tut: bei einem Meeting oder Vortrag, im Gespräch mit dem Partner. Das gesamte Leben wird nach und nach von größerer Präsenz und Klarheit durchdrungen. Manchmal, wenn ich mit Gruppen arbeite, frage ich zu Beginn, wer am Morgen geduscht und Zähne geputzt hat. Alle melden sich. Aber wenn ich dann frage, wer sich am Morgen um seinen Geist gekümmert hat, sehen mich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, nur erstaunte Gesichter an. Ist das nicht seltsam? Wir kümmern uns meist gar nicht um genau den Teil, der das ganze Schiff steuert – unseren Geist. Indem wir jedoch beginnen, unseren Geist ernst zu nehmen, werden wir weniger reaktiv und können uns selbst und der Welt besser dienen.

 

Weitere Informationen zu Josh Summers, seinen Workshops und seinem Buch „The Buddha’s Playbook“ mit praktischen Meditationsanleitungen.

 

Reine Nahrung für den Geist

Unsere tägliche Nahrung versorgt Körper, Geist und Seele mit allem, was für ein gesundes, glückliches und langes Leben notwendig ist. Je nachdem, welche Prioritäten man im Leben setzt, sollten die Speisen individuell ausgewählt, kombiniert und zubereitet werden. Dadurch kann man jene Teile des eigenen Wesens in ihrer gesunden Entwicklung fördern, die aktuell besonders im Fokus stehen.

Für den spirituell Suchenden empfehlen Yoga und Ayurveda eine reine Ernährungsform, die auch sattvische Ernährung genannt wird. Darunter versteht man in der ayurvedischen Diätetik eine sehr reine und naturbelassene Ernährungsform, die die geistige Verfassung des Menschen verbessern soll. Anhand der drei Gunas Tamas, Rajas und Sattva legt man die Ernährungskriterien so fest, dass Tamas und Rajas überwunden und Sattva gesteigert wird. Dadurch können die Klarheit des Geistes, die Reinheit der Gefühle und die Kraft des Körpers gestärkt werden. Im Yoga stehen die drei Gunas Tamas, Rajas und Sattva für die Gemütszustände des Geistes: Tamas herrscht während des Schlafes und beschreibt einen Geisteszustand, der von Trägheit und Unbewusstheit geprägt ist. Rajas herrscht tagsüber und wird durch Aktivität und Stimulation bestimmt. Sattva ist die Balance von Tamas und Rajas: ein ausgeglichener, kontrollierter Geisteszustand, in dem Bewusstheit, Intelligenz und ethische Werte vorherrschen. Das oberste Ziel aller psycho-mental ausgerichteten Yoga- und Ayurvedapraktiken ist es, das Sattva-Guna zu stärken, um ein Leben in ganzheitlicher Gesundheit und spiritueller Verbundenheit zu führen.

Frische Nahrung für die Seele
Die wichtigste Eigenschaft einer sattvischen Ernährung ist ihre frische, vitalstoffreiche und liebevolle Zubereitung – und ein ebensolcher Verzehr. Fertignahrung in jeglicher Form wird aus ayurvedischer Sicht als nicht-sattvisch bezeichnet und ist im Vergleich zu Selbstgekochtem immer minderwertig. Eine frisch zubereitete Suppe ist somit selbst hochwertigen Fertigprodukten aus dem Bioladen vorzuziehen. Unter diesem Gesichtspunkt sollte man auch die Verwendung von Sojaprodukten – die zwar vegan, aber häufig fermentiert und nicht frisch sind – überdenken.

Vegetarisch oder doch mit Fleisch?
Das ist die Gretchen-Frage in der ayurvedischen Ernährung, wenn es um das sattvische Bewusstsein geht. Ziel der sattvischen Ayurveda-Ernährung ist es, unsere spirituelle Entwicklung zu fördern. Dafür ist eine naturbelassene Bio-Ernährung, die auf alle fleischlichen Eiweiße verzichtet, ein absolutes Muss. Durch Ahimsa, das geistige Prinzip der Gewaltlosigkeit, gewinnen wir an spiritueller Kraft, feinstofflicher Energie und geistiger Vitalität. Aus diesem Grund werden in der sattvischen Ernährung Fleisch, Fisch und Eier strikt gemieden. Die einzigen Quellen tierischen Eiweißes sind frische Biomilch, Butter, Ghee und Buttermilch.

Anregende Reizstoffe wie Kaffee, schwarzer Tee, roher Knoblauch und Zwiebeln werden aufgrund ihrer aphrodisierenden Wirkung für Mönche und Meditations- Praktizierende nicht empfohlen. Umso wichtiger ist das Gebet in der sattvischen Ernährung: Die Energie des Essens hängt stark von der inneren Haltung während des Kochens und Essens ab. Jede Mahlzeit sollte mit Dankbarkeit für Gottes Gaben und Bewusstheit zubereitet und in Ruhe eingenommen werden. Man kocht mit Liebe und legt geradezu Zärtlichkeit in die Verarbeitung von lebendiger Nahrung – das Gemüse wird mit Bedacht geschnitten, der Duft beim Köcheln geatmet und die fertigen Speisen entstehen vor dem inneren Auge. Durch das Singen spiritueller Verse (Mantras) beim Kochen kann die heilende Kraft noch verstärkt werden. Besonders in Klöstern und Tempeln richten Yogis und spirituell Suchende ihre Ernährung traditionell nach diesen sattvischen Grundregeln aus. Doch auch wenn man kein strenges Yogaleben führt, kann die sattvische Ernährung eine wertvolle Therapie sein. Die reine Ernährung befreit von psychischen Schlacken und bringt unterdrückte Gefühle an die Oberfläche. Gerade depressive oder traumatisierte Menschen sind oft mit „geistigem Ama” belastet. Eine sattvische Ernährung kann dabei helfen, wieder in Kontakt mit sich selbst zu kommen und sich von Ängsten, Aggressionen und negativen Emotionen zu befreien.Mit der richtigen Ernährung erfährt man eine neue Lebendigkeit und Klarheit, die Kraft geben kann, alte Persönlichkeitsmuster abzulegen und ein neues Selbstbild zu erschaffen. Dafür sollte etwa die Hälfte der Nahrung aus möglichst unbehandeltem Gemüse und Früchten bestehen, dazu kommen vollwertige Getreideprodukte und Nüsse. Alle Mahlzeiten des Tages werden immer frisch zubereitet und direkt im Anschluss in angenehmer Atmosphäre verzehrt. Die einfachen und mild gewürzten Speisen gleichen das körperliche und geistige Feuer aus und fördern inneren Frieden und Reinheit. Der Grundgeschmack der sattvischen Diät setzt sich aus süßen und bitteren Nahrungsmitteln wie zum Beispiel süßen Früchten, Nüssen und Blattgemüse zusammen. Diese öffnen den Geist, befreien von negativen Emotionen und fördern den Heilungsprozess bei psychischen Erkrankungen. Die traditionelle Ernährungstherapie des Ayurveda kennt zudem spezielle Rezepturen, die das mentale Gleichgewicht fördern. Dazu werden besonders gerne Nahrungsmittel wie Reis, Weizen, Mungbohnen, rote Linsen, Sellerie, Spinat, Rüben, Granatapfel, Mangos, Kokosnuss, Trauben, Milch, Ghee, Sesamsamen, Datteln, Ingwer und Kurkuma verwendet. Auch Heilkräuter wie Shatavari, Brahmi, Amalaki, Ashwagandha, Pippali oder Haritaki setzt man zusammen mit Milch oder Trockenfrucht-Toffees zur Behandlung von mentalen Dysbalancen wie Gedächtnis-, Schlafstörungen oder Trauer ein.

Kerstin Rosenberg bildet als Ayurveda-Spezialistin und erfolgreiche Buchautorin Ayurveda-Therapeuten, -Ernährungsberater und psychologische Berater in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus. Gemeinsam mit ihrem Mann ist sie geschäftsführende Gesellschafterin der Europäischen Akademie für Ayurveda

Aus Freude am Hören

Joyful Songs from the Heart

Für sein Debütalbum „Joyful Songs from the Heart“ bekommt Matthias Roth, ein ausgebildeter Yogalehrer der Sivananda-Tradition, von zahlreichen namhaften Gaststars Unterstützung. Da wäre zum einen der kalifornische Kirtan-Sänger Dave Stringer, dessen Stimme bereits in Filmen wie „Matrix Revolutions“ oder dem Videospiel „Myst“ zu hören war. Oder das junge Ausnahmetalent Janin Devi, eine nordrheinwestfälische Bhakti Yogini, die zuletzt mit ihrer im vergangenen Dezember erschienenen CD „Jay Ma“ begeisterte. Zu guter Letzt findet sich noch die New Yorker Musikerin Spring Groove unter Roths Musikgästen. Im italienischen Yoga Journal wurde Spring Groove zur „Voice of Yoga” gekürt. Gemeinsam schaffen die yogabegeisterten Songwriter einen von sanften Akustik-Instrumenten getragenen musikalischen Hochgenuss. Auch für seine Texte hat sich der Schweizer Singer-Songwriter Roth etwas Besonderes einfallen lassen: Gekonnt mischt er englische Songtexte mit traditionellen Mantras. Das Ergebnis ist ein rundum gelungenes, harmonisches Musikerlebnis.

Fazit: Der bereits mit seiner Band „Shanti“ in Erscheinung getretene Roth rundet sein gelungenes Solo-Debüt mit Auftritten prominenter Gastmusiker ab.

„Joyful Songs from the Heart“ von Matthias Roth (Mr Production, ca. 20 Euro).

Eine Pilgerreise ins Herz des Yoga

YOGA – Die Kunst des Lebens

„Yoga hat mir meine Lebensfreude wiedergegeben. Ganz einfach“, sagt eine junge Französin, die am Ufer eines Flusses im Himalaya sitzt. Wie die anderen in der Reisegruppe pilgert sie auf den Spuren von Swami Sivananda durch Indien, um die Ursprünge des Yogas zu erkunden. In der Bergwelt Uttarkarshis praktizieren sie gemeinsam täglich ihre Asanas, sie meditieren und besuchen heilige Stätten in Rishikesh. Völlig unaufgeregt und fernab oberflächlicher Tendenzen führt Solveig Klaßens Dokumentarfilm „Yoga – Die Kunst des Lebens“ dem Zuschauer den Zauber vor Augen, den Yoga in seiner Schlichtheit ausüben kann. Neben der Pilgerreise steht im Film auch ein Besuch beim Yogalehrer und Philosophen R. Sriram und seiner Frau Anjali in Chennai an. Dort leben die beiden, wenn sie nicht gerade in Deutschland sind. R. Sriram hat beim „Vater des modernen Yoga“, Krishnamacharya, gelernt. Nun gewährt er dem Zuschauer fundiert Einblick in die Yogaphilosophie und führt in den Gesprächen gut gelaunt vor Augen, wie Yoga ein Begleiter fürs Leben werden kann..

Fazit: Dieser Film macht Lust – auf Indien, Reisen, Yoga und das Leben!

„YOGA – Die Kunst des Lebens” von Solveig Klaßen (good!movies, ca. 18 Euro).

Spirituelle Entwicklung – nur für Mönche?

Nein, sagt Shri Yogi Hari: Auch und gerade im Familienleben liege der Schlüssel zum inneren Wachstum. Der Begründer von Sampoorna Yoga, der sieben Jahre lang zurückgezogen nur für seine Yogapraxis lebte, spricht im Interview über Spiritualität und die Fülle des Lebens.

YOGA JOURNAL: Guruji, was verstehst du unter „spirituellem Wachstum“?
Shri Yogi Hari: Spirituelles Wachstum ist ein Prozess der Veränderung vom Groben zum Feinen. Meine Definition von Yoga ist „das Gewahrwerden deiner Göttlichkeit.“ Das passiert, wenn der Geist ruhig und friedvoll wird, ohne Gedankenwellen. Jegliche Selbstanstrengung, die du unternimmst, um dich von Faulheit und Trägheit zu befreien und von der Unwissenheit ins Licht des Wissens zu führen, ist Spiritualität.

Siehst du darin ein Streben nach Vollkommenheit?
Ich bin 67 Jahre alt. Seit meiner Kindheit verspürte ich den intuitiven Antrieb, mich zu vervollkommnen. Du bist, was dein tiefstes Verlangen ist, denn deine Gedanken und Handlungen werden in diese Richtung gehen. Warum also nicht nach dem Höchsten verlangen? Welchen Weg hast du in deinem Leben in diese Richtung eingeschlagen? Und wie bist du mit Hindernissen umgegangen? In der Oberstufe war meine größte Herausforderung, die Aufmerksamkeit des schönsten Mädchens zu gewinnen. Sie war der großartigste und moralisch aufrichtigste Mensch, den ich je kannte. Sie wurde meine Inspiration und ich strebte immer danach, ihr ebenbürtig zu sein. Sie, meine spätere Frau, war es, die mir ein kleines Buch mit dem Titel „Yoga und Gesundheit“ schenkte. Als ich es las, wusste ich, dass es die Wahrheit war. Ich sehnte mich nach mehr Wissen und Führung. Swami Vishnudevananda lud mich ein, seiner Organisation beizutreten. Ich war 30 Jahre alt, hatte einen verantwortungsvollen, gut bezahlten Beruf, vier Kinder und meine Schwiegermutter lebte mit uns. Doch all das war kein Hindernis für mich. Sobald ich etwas für mein Wachstum und meine Entwicklung erkenne, sehe ich keine Hindernisse, sondern nur Möglichkeiten. Meine Familie und ich zogen in den Ashram, wo ich sieben Jahre lang vollkommen ins Yoga und die Lehren meines Gurus eintauchte. Ich ließ meinen Geist von nichts anderem ablenken. Yoga wurde zu meinem Leben.

Wie war es für dich und deine Familie, so zu leben?
In der indischen Gesellschaft aufgewachsen, glaubte ich, dass es die Aufgabe des Vaters sei, für die Familie zu sorgen und die der Mutter, sich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern. Gleichzeitig wurde im Ashram, der von einem Swami geleitet wurde, fortwährend gepredigt, dass ein Leben als Mönch der einzige Weg sei, um ein spirituelles Leben zu führen. Das Familienleben komme eher einem „Hundeleben“ gleich und sei der spirituellen Entwicklung nicht förderlich. Zu dieser Zeit war ich voll damit beschäftigt, ein Yogi zu sein. Aber obwohl es mir gewaltig in meiner Entwicklung half, herrschten dort ein Ungleichgewicht und ein Mangel, die ich aufgrund meiner Unwissenheit und Konditionierung nicht sehen konnte. Ich verpasste einen großen Teil des Familienlebens und meine Kinder vermissten die gemeinsame Zeit mit ihrem Vater.

Welche Schlüsse hast du daraus für dich gezogen?
Ich erkannte, dass man gerade als Familienmensch eine große Gelegenheit und Herausforderung für spirituelles Wachstum bekommt. Spirituelles Leben bedeutet, in den Qualitäten der Liebe, des Mitgefühls, der Selbstlosigkeit, Toleranz und Geduld zu wachsen. Ein Familienleben bietet die ideale Chance, diese Qualitäten zu kultivieren – solange man das angemessene Unterscheidungsvermögen und eine Führung hat.

Du lebst mittlerweile mit der zweiten Familie. Gibt es Unterschiede zu deiner ersten Erfahrung?
Wenn du ernsthaft auf der Suche nach Wachstum bist, öffnet Gott dir die Tür, um das zu erleben, was du für deine Entwicklung brauchst. Ich wurde erneut mit der Gelegenheit eines Familienlebens gesegnet. An diesem Leben Gefallen findend, erlebe ich mehr Fülle in meinem Leben. Der Weg führt zum höchsten Ziel der Erleuchtung, Befreiung und Freiheit. Nach meiner Erfahrung sollte sich ein spiritueller Weg in Freudigkeit, Glück und Frieden widerspiegeln.

Wie kombinierst du spirituelles Leben mit dem Familienleben?
Familienleben ist spirituelles Leben. Das ist es, was Sampoorna Yoga lehrt. Jeder Moment deines Lebens kann spirituell sein, wenn du es mit Bewusstheit und richtiger Führung lebst. Sampoorna Yoga fördert den entsprechenden Entwicklungsprozess und bringt Fülle ins menschliche Leben. Es ist ein sensibler, logischer und dynamischer Weg des Lebens.

Wie sieht dies im konkreten Alltag aus?
Du brauchst einen gewissen Plan und Routine. Früh morgens stehst du auf und praktizierst einige Atemübungen, verbunden mit Yogapositionen. Anschließend meditierst und singst du und liest inspirierende Texte wie die Bhagavad Gita. Über den Tag hinweg lebst du ein Leben in Wertschätzung und Dankbarkeit für das, was du hast, und verrichtest deine Aufgaben im Sinne des Karma Yoga, dem selbstlosen Dienen. Dinge wie erhebende Musik, ausgewogene Ernährung, Gesundheit und Zufriedenheit werden dir helfen, deinen Geist in einem positiven Zustand zu halten. Wenn du so lebst, wirst du mit weniger Spannungen und Stress nach Hause kommen, hast Zeit für deine Familie, kannst konzentriert mit deinen Kindern spielen und wirst fähig sein, friedvoll zu schlafen. ✤

Rama Bernhard Dökel ist seit über zehn Jahren Schüler von Shri Yogi Hari und leitet das
Sampoorna Yoga Zentrum in Oldenburg.

 

Hippie-Himmel in Israel

Im israelischen Süden wurde vor zehn Jahren gegen wenig Widerstand und mit viel Enthusiasmus der erste und einzige Ashram des Landes gegründet. Inzwischen hat sich die kleine Gemeinde von einem spirituellen Dorf zu einem weltoffenen Ort für Meditation und Yoga entwickelt. Über tausend Menschen haben bereits für mindestens zehn Tage als „Womper“, Teilnehmer am englischsprachigen „Working & Meditation Program“, in der Wüste gearbeitet.

Der Tag in Israels Süden beginnt über dem jordanischen Bergrücken. Der Himmel färbt sich langsam vanillegelb, bevor die Sonne sich über den höchsten Gipfel schiebt und die Wüste malerisch aufglühen lässt. So früh am morgen liegt der Ashram Bamidbar noch in tiefem Schlaf. Nur der Wind lässt die Palmblätter rascheln. Der erste offizielle Termin im Ashram ist für sieben Uhr in der „Paula“ angesetzt, einem schlichten Flachbau mit Holzfußboden: Während der nächsten Stunde gibt Oshos „Dynamische Meditation“ den Ton an, sie besteht aus Atemübungen, Springen, Schreien, Tanzen und stiller Meditation. Der einzige Ashram in Israel liegt mitten im Nirgendwo aus Steinen, Felsen und Kasernen – zur nächsten Stadt nach Mizpe Ramon fährt man über eine Stunde durch die Wüste aus rostroten Steinen. Politik, Religion, Konflikt und Spannungen wirken hier wie eine Weltreise entfernt. Oder vielleicht doch nicht ganz: Rings um den Ashram üben Soldaten für den Kriegseinsatz, manchmal donnern mitten in der ruhigsten Meditationsminute Kampfflieger über das kleine Camp oder man hört in der Ferne Schüsse. Wenn es nahe des Wüsten-Ashrams knallt, zucken allerdings nur die neuen Womper zusammen. Sie kommen zwischen zehn Tage und zehn Wochen hierher, um zu meditieren und zu arbeiten. „Wir sind hier sicher, die üben nur“, lauten die beruhigenden Worte der Mitarbeiter. Das unschöne Gefühl der Unsicherheit verschwindet aber trotzdem nicht ganz. Doch es wird überlagert, denn wer ins Ashram kommt, ist meist auf der Suche nach etwas, oft nach sich selbst und einem Weg. Oder braucht einfach eine Auszeit von der „Real World“. Während unzählige Gurken für einen Salat geschnitten werden, kommt man sich selbst und den anderen nahe. Man kann wenig falsch machen in dieser Gemeinschaft. Wer mag, wird umarmt, wer nicht mag, bekommt genügend Freiraum, ohne schief angeschaut zu werden. Gearbeitet wird sechs Stunden am Tag – aufgeteilt in zwei Abschnitte. Vor und nach dem Mittagessen wird gekocht und geputzt, die Tiere werden betreut. Es werden Zäune gebaut, man rührt Zement und repariert kaputte Dinge. Das Mantra dabei: Bleib im Moment. Atme. Sei hier. Diese Meditation während der Arbeit gilt auch in Bezug auf einen Riesenberg aus Seilen, den sechs Womper in tagelanger Geduldsarbeit entwirren und Strick für Strick ordentlich zusammenbinden. „Den Anblick dieses Seilhaufens werde ich nie vergessen“, sagt Limor aus dem Norden Israels. „Er wirkte schlicht unüberwindbar.“ Die 35-Jährige hat ihre beiden Kinder bei ihrem Ehemann gelassen, um sich für zehn Tage in der Wüste auf sich zu besinnen. „Ich habe noch nie in so kurzer Zeit so viel gelacht und so viel geweint“, erzählt sie und strahlt. Normalerweise sei sie eher weniger für das Umarmen Fremder zu haben, doch hier habe sich das geändert. Die Zeit im Ashram wirkt auf die meisten Womper wie eine Ambulanzfahrt ins eigene Herz. Die wunden Punkte kriechen in den Meditationen aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche – und werden von den Mitbewohnern des Ashrams behutsam abgetupft und versorgt. Nach einigen Tagen Aufwärmphase liegt auch Limor nach den Meditationen noch minutenlang mit ihren neuen Freundinnen im Arm auf den Matten.

Das Leben im Ashram

Die fünfzehn festen Ashram-Mitarbeiter leben in selbst gebauten Häusern, die Womper schlafen zu siebt in Gemeinschaftsräumen. Privatsphäre gibt es nur in der Dusche und auf der Toilette, wer Zeit für sich braucht, legt sich in eine der vielen Hängematten oder geht in der Wüste spazieren. Endlosigkeit und der Horizont beginnen vor jedem der vier Eingänge. Die einzigen Regeln sind, dass man zu den Meditationen morgens und abends kommt und seine sechs Stunden pro Tag arbeitet. Insgesamt sind Raum und Zeit im Ashram aber relativ, stets gilt: Wer einen Kaffee möchte, hat immer Zeit, sich einen zu machen. Das gleiche betrifft Zigarettenpausen oder einen Plausch. Und natürlich Umarmungen – ohne sexuellen Kontext und Nacktheit versteht sich. Der Hippie-Himmel ist samt WiFi und warmen Duschen im 21. Jahrhundert angekommen. Etwas mehr als die Hälfte der Womper sind Israelis, der Rest kommt von überall her. Die Ashram-Sprache ist Englisch – auch in den Meditationen und Yogastunden. Als der Ashram vor zehn Jahren mit viel Idealismus und wenig Geld als spiritueller Ort auf dem Grundstück des Kibbuz Samar gegründet wurde, sah dieser Flecken Wüste noch anders aus. In einem Wort: karg. Nur die Bundesstraße 40 wand sich schon wie eine Schlange um die Felsen gen Süden. Die Kibbuz-Dorfgemeinschaft verpachtete das kleine Stück Land an sieben Gründungsoptimisten – und hoffte auf einen Geldregen auf das sonst wenig fruchtbare Wüstenstück. Die Idee klang gut: eine spirituelle Gemeinschaft, die meditiert, nachhaltig wirtschaftet, sich selbst ernährt und dem Ort „good vibrations“ gibt, was wiederum zahlende Gäste anlocken sollten. Dafür wurden kleine Holzhäuser mit Badezimmer gebaut. „Ein bisschen sollte es eine israelische Version des Osho-Ashrams in Pune werden“, erinnert sich Nirvana. Die 39-Jährige ist, wenn auch mit einer längeren Unterbrechung, von Anfang an dabei. Das Osho-Motto „Um Meditation zu unterrichten, braucht man nichts außer einer meditativen Atmosphäre“ war das Leitmotiv. Aber die offizielle Osho-Gemeinschaft wollte keinen Ashram in Israel, erzählt Nirvana. „So haben wir uns darauf geeinigt, dass unsere Grundhaltung auf Osho basiert, wir aber auch andere Meditationen anbieten.“ Dass ein Ashram inmitten des kriegsgebeutelten Landes aufblühen kann, hat mehrere Gründe: Spiritualität, Meditation und Yoga sind gerade angesichts der angespannten Lage längst hier angekommen. Selbst die israelische Armee hat ein Budget für Yogastunden. Die kanadische Yogalehrerin Rachel Adler staunte nicht schlecht, als sie gebucht wurde, um täglich Yogastunden in einer Kaserne in Ramat Gan bei Tel Aviv zu unterrichten. „Im ganzen Land schickt die Armee ihre Soldaten zu Yogastunden“, erzählt sie. Ein anderer Grund für die Akzeptanz des Ashrams ist, dass Indien mit das beliebteste Reiseland der Israelis ist. Dazu kommt, dass im Ashram alle Mitarbeiter jüdisch sind und den Sabbat feiern. Außerdem richtet der Ashram die größten Festivals und Raves in Israel aus. Die Kombination aus Religion und Ashram-Leben war kein Problem für die Gründungsmitglieder. Viel eher die endlosen Diskussionen. Keine Entscheidung durfte gegen den Willen von nur einer Person getroffen werden. „Wir haben so viel Zeit und Energie verbraucht, dass wir oft nicht mehr zu den wichtigen Punkten gekommen sind“, erzählt Nirvana. Der Ashram bugsierte sich in eine Sackgasse und drohte auseinanderzubrechen. Auch Nirvana war enttäuscht. „Ich wurde wieder zur Suchenden“, erinnert sich die ausgebildete Kundalini-Yogalehrerin. Sie verließ der Ashram, ging für drei Jahre nach Indien, für mehrere Jahre in die Schweiz und studierte bei der Kundalini-Meisterin Gurmukh Kaur Khalsa. Erst vor drei Jahren kehrte sie in den Ashram zurück. „Ich war des Reisens müde und habe die Wüste vermisst“, erinnert sich die gebürtige Tel Aviverin. In der Zwischenzeit hatte sich der Ashram geändert, man kann sagen, gemausert. Und nicht nur äußerlich. Es ist gewachsen, über zehn selbst gebaute Häuschen, ein palmenbedeckter „Smoking Temple“, ein Fischteich, Hennen, ein Esel und große, mit Schattennetzen bespannte Tanzflächen sind dazu gekommen. Auch innen ist alles völlig neu strukturiert: Shradha und Utsav entscheiden als Geschäftsführer, Nishant führt eine kleine Produktionsfirma vom Ashram aus und Nirvana verantwortet das Womp-Programm. Dazu gehört, dass sie mit jedem Womper am zweiten Tag über die jeweiligen Erwartungen spricht und erzählt, was der Ashram bieten kann. „Man verrichtet nicht die Arbeit, sondern wird selbst zur Arbeit.“ Während ihrer Gespräche mit den Wompern ist es Nirvanas ruhige, erfahrene Art, die es so leicht macht, sich ihr anzuvertrauen. Es wird nicht bewertet oder verglichen, sondern man wird akzeptiert. „Für mich ist es wunderbar, dass ich so vielen Leuten spirituell helfen kann“, sagt Nirvana. Dafür nimmt sie sich Zeit. Wer sich mit ihr in den Schatten einer Palme setzt, hat nicht das Gefühl, dass der Nächste bereits Schlange steht. Der Grat zwischen einer Auszeit in der Wüste und der Konfrontation mit den eigenen Untiefen kann jedoch riskant werden. Gerade dienstags nach der intensivsten aller Atem-Meditationstechniken, dem Re-Birthing, ist das Bedürfnis nach Gesprächen groß. Angst vor Tränen und Gefühlen habe man nicht, aber ein Ashram sei keine Alternative für psychisch Kranke, sagt Nirvana bestimmt.

Routine als Anker

Der Mindestaufenthalt für Womper, die zum ersten Mal kommen, sind zehn Tage. Manche bleiben viel länger. So wie Yael: Sie litt so lange an Bulimie, dass sie als therapieunfähig entlassen wurde. Im Ashram arbeitet sie seit vier Monaten in der Küche, hat ein gesundes Gewicht und strahlt. „Ich kann gar nicht sagen, wann es mir jemals so gut ging.“ Andere kommen immer wieder zurück in die Wüstenoase. „Es ist wie mein zweites Zuhause“, sagt Yaara. Hier fühlt sie sich verstanden und geborgen. Der strukturierte Tagesablauf aus Morgenmeditation, Frühstück, Morgenkreis, in dem man für die Arbeit eingeteilt wird, Mittagessen, Arbeit, Meditation und Abendessen gibt Stabilität. Die Mischung aus Struktur und Freiheit ist der perfekte Nährboden für Zukunftspläne. Yaara will sich mit Biokosmetik selbstständig machen und vorher nach Indien reisen, Anastasia hat ihren Job als Eisverkäuferin gekündigt. „Ich habe immerhin Mode- und Kommunikationsdesign studiert und weiß gar nicht, warum ich bei meinem Studentenjob hängen geblieben bin“, sinniert sie. Andere jobben ein paar Wochen in Tel Aviv oder Jerusalem, um sich neues Geld für ihre Zeit im Ashram zu verdienen. Der Ashram finanziert sich und das Womp-Programm praktisch ausschließlich durch Festivals. Israels größtes, das Zorba Buddha Festival mit über 2000 Besuchern, wird hier ausgerichtet. Es wurde im Laufe der Jahre immer kommerzieller: Anfangs war es kostenlos, die Ashram-Gründer führten das Büro, das Informationszentrum und die Küche alleine. Inzwischen findet es zweimal pro Jahr statt und mehrere Bühnen, Essensstände, Schmuckläden und Workshops bilden den Rahmen. Durch die Festivaleinnahmen kann das Womp-Programm so günstig gehalten werden, dass es sich praktisch jeder leisten kann. Pro Tag kostet es umgerechnet 10 Euro, inklusive Unterkunft, Meditationen, Yoga und vegetarischem Essen. Das ist in einem sehr teuren Land wie Israel so gut wie nichts. Hier sind die Preise wesentlich höher als in Deutschland: Shampoo kostet um die 10 Euro, eine Zahnbürste schon mal 6 Euro, eine Yogastunde ab 15 Euro. Nur eines ist in Israel definitiv günstiger als in Deutschland: Reisen. Mit dem Zug oder Bus vom Norden des Landes, etwa von Haifa, bis in den Süden zum Ashram dauert es vier Stunden und kostet weniger als 10 Euro – damit hat man das ganze Land mit sieben Millionen Einwohnern einmal komplett durchquert und sieht in der Ferne auf Jordanien. Dort spielt sich jeden Abend ein beeindruckendes Naturschauspiel ab: In den wenigen Minuten zwischen Sonnenuntergang und totaler Finsternis beginnt ein wildes Flimmern in der Ferne – Jordaniens Berge fangen an, optisch mit dem Himmel zu verschmelzen. Wenige Augenblicke später ist es vorbei. Israel und Jordanien grenzen sich mit klaren, orangefarbenen Lichtern voneinander ab. Während es unter dem endlosen Himmel schlagartig kühl wird, ist es Zeit für die Abendmeditation in der „Paula“. An diesem Tag bereitet Idam die Kundalini- Meditation vor. Nach einer Stunde glänzen die Augen der Womper und als sich alle in den Armen liegen, haben sie das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein.

Auch Jennifer Bligh war für zehn Tage Womper in der Wüste – am liebsten panschte sie mit Zement und am wenigsten mochte sie es, die Hühner zu füttern. Weitere Informationen über den Ashram.

Zwischen den Welten

Das jüdische Ehepaar Rachel Yula und Avraham Dagan Kolberg bieten in einer ultraorthodoxen Stadt in Israel Yoga für gläubige Juden an. Einige Rabbis sehen darin Götzenanbetung. Die strenggläubigen Kolbergs aber sind überzeugt, dass man nur durch einen starken Körper Gott und sein Werk erkennen kann.

Fotos: Pavel Wolberg

Wüsste mancher Rabbi, wie Rachel Yula Kolberg nach der Methode B. K. S. Iyengars an der Wand ihres Studios kopfüber in den Seilen hängt – er würde sie eine Götzenanbeterin schimpfen. Rachel hält die Arme verschränkt, ihre Fußsohlen berühren sich, die Knie sind nach außen gestreckt, sie atmet gleichmäßig. Ein paar Minuten baumelt sie so, schräg gegenüber an der Wand prangt seit einigen Monaten ihr neues Zertifikat: Rachel darf auf mittlerer Kursstufe Asanas und Anfängerkurse in Pranayama unterrichten. Dann löst sich Rachel, 39, aus ihrer Position, kommt zum Stehen und zupft ihr hellblaues Kopftuch zurecht. Sie ist bereit. In einer Viertelstunde werden die ersten Schülerinnen zur Abendklasse eintrudeln. Im Nebenraum schiebt sich Rachel noch schnell einen Keks in den Mund, setzt sich an ihren Arbeitsplatz, beantwortet noch eine E-Mail und erledigt einen Anruf. Während sie heute Abend unterrichten wird, hütet ihr Ehemann Avraham, 38, die fünf Kinder – an anderen Abenden ist es umgekehrt. Das strenggläubige Ehepaar hat Yoga zum Beruf und damit zu einem großen Teil des Lebens gemacht. Und das ausgerechnet in Beit Shemesh, einer Hochburg ultraorthodoxer Juden zwischen Tel Aviv und Jerusalem: Dort sollen Frauen in erster Linie Kinder gebären und Männer in den Talmudschulen das Wort Gottes lernen.

Die Stadt der Gläubigen
Die meisten Menschen hier in Beit Shemesh führen ein Leben mit und für Gott, sie folgen den Regeln der Thora und den Auslegungen der Rabbis. Alles, was davon ablenkt, ist verpönt. Daher ziehen die sogenannten Charedim, wie die ultraorthodoxen Juden genannt werden, oft in separate Städte und Stadtteile – wie eben Beit Shemesh. Draußen vor Rachels Haustür wuseln wie jeden Tag auch an diesem Mittwochabend Männer mit langen Bärten, schwarzen Mänteln und Schläfenlocken durch die Straßen, auf dem Weg zwischen Talmudschule und Zuhause. Die Mehrheit der ultraorthodoxen Männer lernen in den sogenannten Yeshivot. Einen Beruf haben sie nicht, das Geld für die Familie kommt meist vom Staat. Auch den Armeedienst, der in Israel Pflicht ist, müssen die Charedim nicht leisten. Die meisten verheirateten Frauen in Beit Shemesh tragen Perücken oder Kopfbedeckungen. Sie schieben Kinderwägen vor und ziehen kleine Kinder hinter sich her. Auch sie sind meist grau und schwarz gekleidet. Sie wollen und dürfen nicht auffallen, Körperrundungen nicht betonen, auf gar keinen Fall zu viel Haut zeigen. Denn das könnte die Blicke der Männer auf sie lenken. Männer und Frauen warten an den Bushaltestellen, manche wippen mit ihrem Oberkörper rhythmisch zu den Worten, die sie aus dem Gebetbuch leise vor sich hinmurmeln.

Skurrile Oase: Das Yog-Studio
Das Studio, das die Kolbergs im Obergeschoss ihrer Wohnung eingerichtet haben, wirkt da wie eine kleine Oase. Hier dürfen sich auch die Gottesfürchtigen für ein paar Stunden in der Woche ganz auf sich und ihren Körper konzentrieren. Einige kämen zunächst mit gesundheitlichen Problemen wie Rückenschmerzen, erklärt Avraham. Viele ihrer Kursteilnehmer seien Einwanderer aus den USA und Europa. „Sie kennen Yoga oft schon und sind daher nicht so misstrauisch.“ Doch ein Großteil bleibt Yoga fern, aus Angst, mit diesen fernöstlichen, spirituellen Leibesübungen „avoda sara“, also einen „Götzendienst“ zu leisten. Manche Rabbis sind gegen Yoga. „Weil sie es nicht kennen“, glaubt Rachel. Einige Interessenten erzählten ihr, sie würden gerne kommen, müssten aber noch auf die Zusage ihres Rabbis warten. Und dabei sei Yoga doch gerade für die Frauen hier so wichtig, meint Rachel. Rachel sitzt an diesem Abend vor ihrem Computer, die Teetasse in der einen, die Maus in der anderen Hand. Die Knie hat sie angezogen. Sie wirkt jugendlich, beinahe unbeschwert. Und doch verraten ihr Blick, ihre Haltung und ihre Worte, dass sie sich und ihren Platz im Leben gefunden hat. Als Bildschirmhintergrund hat sie ein Bild von B. K. S. Iyengar im Lotussitz. Seine rechte Fußsohle ist zu sehen und seine rechte Handinnenseite. „Die Füße sehen aus wie die eines Babys, die Hände wie die eines alten Mannes. Ist das nicht unglaublich?“ Nach ihrer ersten Iyengar-Stunde war für Rachel und Avraham klar, dass sie ihr Yoga gefunden hatten. Es folgten viele Unterrichtsstunden und Ausbildungskurse. Später hat Rachel bei B. K. S. Iyengar persönlich in Indien gelernt. Sie ist begeistert von seiner Person, seinem Unterricht und seinem Lebenswerk.

Yoga und Religion
Und dabei sind Rachel und Avraham strenggläubig. Avraham trägt einen langen Bart und Schläfenlocken, Rachel ein Kopftuch und außerhalb des Yogastudios lange Röcke. Sie haben einen Weg für sich gefunden, Yoga und Religion zu verbinden: „Yoga ist ein Instrument, es kann dich auf das Gebet vorbereiten. Im Yoga kontrollieren wir uns und unseren Geist, schauen nach innen, beobachten uns. Jeder religiöse Mensch sucht genau das – es ist ein Segen für uns“, erklärt Avraham. Durch Yoga, sagt Rachel, findet sie nicht nur immer wieder erneut zu sich, sondern auch zu Gott. „Wie durch den Glauben lernen wir auch im Yoga, unseren Stolz loszulassen. Es ist ein Weg, völlig ehrlich mit uns zu sein.“ Rachel ist eine lebenslustige Frau, ihre Bewegungen sind energisch, ihre Blicke wechseln zwischen streng und fröhlich. Sie und Avraham sind chassidische Juden, eine besondere Form der ultraorthodoxen Glaubensgemeinschaft. Chassidische Juden befolgen Gottes Gebote emotional und mit Freude, die Gebete sind herzlich und warm. Die Gruppe entstand im 18. Jahrhundert in Osteuropa unter armen und ungebildeten Juden als Abgrenzung zu der eher strengen Glaubenspraxis der gelehrten Elite. Das Judentum ist stark fragmentiert und so gibt es auch innerhalb der chassidischen Gemeinschaft Untergruppen. Rachel und Avraham haben sich der um Rabbi Nachman aus Breslau angeschlossen: Sie zählen zu den besonders fröhlichen Gläubigen: Nicht selten sieht man in den Städten hebräisch beschriftete Kleinbusse mit lauter Musik, die immer mal wieder anhalten. Dann steigen Männer auf das Autodach und tanzen – eine Form der Glaubensausübung der Anhänger von Rabbi Nachman. Nach und nach steigen an diesem Mittwoch einige der Frauen von draußen die Treppen ins Studio hinauf, zwei Schwangere sind darunter, junge Mädchen mit langen Haaren und langen Röcken, Frauen mit Kopftüchern, weiten Shirts und Strickjacken. Yoga für gläubige Juden ist nach Geschlechtern getrennt, Avraham unterrichtet die Männer, Rachel die Frauen. Es wird nicht gesungen und Positionen, die die Namen von Göttern tragen, wurden umbenannt. Der Kurs an diesem Abend ist speziell für religiöse Frauen gedacht. Unter ihresgleichen dürfen die meisten Frauen ihre Röcke ablegen. Doch nicht alle schlüpfen wie Rachel in körperbetonende Leggins und enge T-Shirts, nicht alle ziehen die Strümpfe aus. Die 14-jährige Ester (Name von der Redaktion geändert) trägt über den Leggins einen fast knöchellangen Rock, darunter feine, durchsichtige Seidenstrümpfe. Das sind Vorgaben der Familie, sagt Rachel. Die Eltern ließen das pubertierende Mädchen nicht in ihren Unterricht, wenn sie sich nicht so züchtig kleiden würde. Manche der noch neuen Teilnehmerinnen sind steif und unbeweglich. Ihnen ist anzusehen, dass Sport nicht Teil ihres Lebens ist. Ester wirkt, als sei sie noch nicht ganz in der Yogastunde angekommen, als sei sie auf dem Sprung, als gehörte sie nicht hierher. Zwei andere junge Mädchen sind das erste Mal hier, sie schauen noch etwas erstaunt, kichern ab und an, Rachel ermahnt sie mit einem strengen Lächeln zur Aufmerksamkeit. Sie werden Rachel nach der Stunde fragen, wofür dieses Yoga eigentlich gut sei und was so eine Stunde denn koste. Hier und da biegt Rachel Beine zurecht und dreht Köpfe gerade, ihr Griff gleich dem einer russischen Gymnastiklehrerin und verrät ihre Herkunft. Rachel wurde in Russland geboren, als Kind war sie Turnerin, Sport war immer Teil ihres Lebens – anders als bei den meisten ihrer Teilnehmerinnen. Früher lebte sie ein anders Leben.

Der große Wandel
Rachel und Avraham hießen vor etwas mehr als einem Jahrzehnt noch Yula und Dagan. Sie waren ein säkulares, modernes junges Paar in Tel Aviv. Die beiden gingen in Bars und auf Partys, Yula trug enge Hosen, das Haar offen, Dagan keine Kippa. „In meinem Leben hat etwas gefehlt“, erzählt Avraham. „Vor allem meine Generation hat in dieser Schnelllebigkeit einen unruhigen Geist. Man fühlt eine große Traurigkeit, ohne zu wissen, warum.“ Avraham versuchte es mit Meditation. „Eine kraftvolle Erfahrung. Aber es hat mich eher verwirrt.“ Dann trat Iyengar Yoga in ihr Leben: Die beiden gingen zusammen in ihre erste Stunde. Es war der Beginn einer Liebe. Sie reisten später mit ihrem damals zweieinhalbjährigen Sohn nach Dheradun in Indien, um Yoga zu unterrichten und unterrichtet zu werden. „Das war keines dieser großen Zentren. Ein Ehepaar hat uns in kleinen Gruppen zuhause unterrichtet“, erzählt Rachel. Gut 40 Kilometer südöstlich fanden sie wenige Monate später zu ihren jüdischen Wurzeln, zu ihrer neuen Identität und zu ihrem neuen Glauben. In Rishikesh feierten rund 300 Juden das Passah-Fest. Die Kolbergs schlossen sich eine Woche lang an. Sie veränderte ihr Leben. „Ich kann gar nicht sagen, wie genau es passiert ist“, sagt Avraham heute. „Etwas in unseren Herzen hat sich verändert. Solche Dinge kannst du nicht erklären.“ Zurück in Israel suchten sie eine religiöse Schule für ihren Sohn. Sie schmissen einige unzüchtige Fotografien und Bücher über Hinduismus weg. Yula zog sich lange Röcke an, und verdeckte ihr Haar. Avraham trug die Kippa und suchte nach einer Synagoge. Sie gaben ihre Freiheit auf für die strengen Regeln des jüdischen Glaubens. „Das war ein großer Kampf mit uns selbst. Plötzlich mussten wir den Sabbat einhalten, 24 Stunden ohne Auto, ohne Fernseher, ohne Küchengeräte.“ Ein paar Jahre später entschieden sie sich für einen Umzug nach Beit Shemesh. Der jüdische Philosoph Rambam sagte: „Der Mensch kann im Leben nur seinen Wohnort wirklich wählen. Denn in dem Moment, in dem du in eine bestimmte Gegend ziehst, wirst du Teil davon.“ Und so wurde auch Avraham zunächst extrem: „Ich bin nicht mal mehr zu meiner Familie zum Essen gegangen“, erzählt er heute erstaunt über sich selbst. „Wir haben zwar Yoga gemacht und unterrichtet, sind der Yogagemeinde aber aus dem Weg gegangen. Nach und nach habe ich festgestellt, dass durch diese Strenge meine Spiritualität verloren ging.“ Es hat beide viel Zeit und Kraft gekostet, eine Einheit von Yoga und Religion zu finden. „Wir haben Yoga geliebt, es war im Grunde unsere Religion, unsere Lebensart“, sagt Rachel. Als strenggläubiger Jude aber müsse man alles andere ablegen, einfach nur noch Jude sein. „Knapp acht Jahre hat es gedauert, bis wir herausgefunden haben, was gut für uns ist und dass wir vor Yoga keine Angst haben müssen.“ Eine gesunde Seele könne eben nur in einem gesunden Körper leben. „Iyengar sagt: ‚Der Körper ist mein Tempel, die Übungen ein Gebet.‘ Du kannst eben nur durch einen starken Körper Gott und sein Werk erkennen.“ Und irgendwann ging Avraham auch wieder in sein säkulares Elternhaus.

Zwischen den Welten
Die Kolbergs bewegen sich seither zwischen zwei Welten: zwischen der religiösen, konservativen Gesellschaft in Beit Shemesh und der liberalen, körperbetonten, spirituellen Welt der Yogis. Und: Sie haben es geschafft, die Tore zur Welt des Yoga auch für andere orthodoxe Juden zu öffnen. Das Studio läuft gut, etwa fünf Kurse geben sie täglich, zusätzlich Privatstunden, sie haben um die 150 Schüler. Nach anderthalb Stunden packen die Schülerinnen an diesem Abend all die Matten, Blöcke, Gurte und Stühle weg. Sie ziehen sich wieder ihre langen Röcke über, überprüfen den Sitz des Kopftuches. Rachel weiß: Die Teilnehmerinnen ihres Kurses sind anders als in den Klassen der säkularen Yogahochburg Tel Aviv. „Viele der Frauen leben für Gott und befolgen die Regeln die Gesellschaft, sie gebären Kinder. Ester zum Beispiel wird in ein paar Jahren zwölf oder vierzehn Kinder zur Welt bringen und sich um sie kümmern“, sagt Rachel. „Diese Frauen vergessen über diese schwierige und Kräfte zehrende Arbeit oft ihren eigenen Körper, für den so viele Geburten natürlich anstrengend sind.“ Rachel möchte den Frauen in ihrem Yogastudio die Chance geben, wenigstens für ein paar Stunden in der Woche in sich hinein zu horchen. Rachel macht das Licht aus und die Tür hinter sich zu. Sie hat Feierabend und wird sich nun um ihre eigenen fünf Sprösslinge kümmern.

Lissy Kaufmann ist Absolventin der Deutschen Journalistenschule in München und kam im Oktober 2011 im Rahmen eines Stipendiums nach Israel, um für Radio und Print zu arbeiten. Sie hat sich verliebt – in das Land – und genießt das Leben in der Yogahochburg Tel Aviv.

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