Selbsterkenntnis zwischen Karma und freiem Willen

Jyotisha, die vedische Astrologie, ist ein Teil der Vidyas. Diese spezialisierten Wissensgebiete dienen dem Yogaübenden dazu, seine Herausforderungen verantwortungsbewusst zu meistern. Jyotisha zeigt dabei die Rolle des Karma auf: Jeder Yogi sollte sein Karma kennen, da der Weg der Erkenntnis unter vorteilhaften Bedingungen leichter zu beschreiten ist.

Die vedische Astrologie ist so alt wie die Veden und über diese munkelt man, sie seien älter als die Menschheit selbst. Die vier Sammlungen, Rig Veda, Sama Veda, Yajur Veda und Arthava Veda, beinhalten die Essenz einer unvergleichlichen Weisheitstradition, die sich über Jahrtausende in der Region des heutigen Indiens etablierte. Bis heute wird diese Tradition dort in vielen Familien mit Respekt bewahrt und in den Alltag integriert. Verschiedene Inhalte haben sich in den vergangenen Jahrzehnten auch außerhalb Indiens verbreitet. Yoga und Ayurveda sind dabei sicherlich die populärsten Wissenschaften, aber auch Vedanta, Vastu und Jyotisha erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Diese Tendenz verdeutlicht, dass all diese Disziplinen lediglich Zweige eines Weisheitsstammes sind: Sie gehören zur vedischen Tradition. Wer einen der Zweige meistern möchte, kommt nicht umhin, den gesamten Stamm zu studieren.

Yoga und Darshana
Yoga ist einer der sechs Darshana (Sichtweisen). Ein Darshana ist ein in sich geschlossener und vollständiger, philosophischer und praktischer Weg, der es ermöglicht, vedisches Wissen zu leben. Die anderen fünf Darshana sind Purva Mimamsa, Vedanta, Sankhya, Nyaya und Vaisheshika. Die sechs Wege konkurrieren nicht miteinander und keiner ist besser oder schlechter – für den einen eignet sich Sankhya, für den anderen Yoga. Alle sechs bieten Lösungen für dieselbe Aufgabe an: Das Leben zu verstehen – und zwar durch die Erkenntnis und Erfahrung von Einheit, durch die Auflösung der Dualität.

Die Aufgabe von Vidya
Damit die Menschen, die einem der Darshana folgen, auf ihrem Weg erfolgreich sind und Unterstützung für unterschiedliche Lebensthemen finden, gibt es in der vedischen Tradition diverse spezialisierte Wissensgebiete, sogenannte Vidyas. Dazu gehören unter anderem Jyotisha, Ayurveda und Vastu. Jede Form von Vidya hat ein definiertes Aufgabenfeld: Jyotisha zeigt Karma auf, Ayurveda handelt vom Wissen für ein gesundes Leben und Vastu sorgt für den optimalen Lebensraum.

Yoga und Vidya
Die Synergieeffekte, die durch das Zusammenwirken aus Darshana und Vidya entstehen, verdeutlichen die tiefe Weisheit der vedischen Tradition. Ob jemand beispielswiese dem Weg des Yoga-Darshana folgt, ist jedem selbst überlassen. Wenn man jedoch die Sichtweise dieses Darshana studiert und in sein Leben integriert, ist dies bereichernd und dennoch wird derjenige auf diesem Weg seinen täglichen und persönlichen Herausforderungen begegnen. Damit er sie angemessen und verantwortungsvoll meistern kann, hilft dem Yogapraktizierenden Vidya: Zwar handelt Yoga selbst nicht davon, was auf uns zukommt, aber jeder Yogi sollte sein Karma kennen – dafür gibt es Jyotisha. Yoga handelt nicht von Gesundheit, aber jeder Yogi sollte gesund leben – dafür gibt es Ayurveda. Yoga handelt nicht von der Gestaltung guten Lebensraumes, aber jeder Yogi sollte guten Raum zur Verfügung haben – dafür gibt es Vastu. Wie bereits im Altertum, weiß heute jeder Praktizierende, dass der Weg zur Erkenntnis unter guten Bedingungen leichter zu beschreiten ist. Wer nicht weiß, wie sich Herausforderungen in Partnerschaft, Familie, Beruf und Gesundheit entwickeln und wie man wann bestmöglich handeln kann, dessen Geist ist womöglich zu unruhig, um Yoga erfolgreich zu praktizieren. Wer nicht gesund lebt und seinen Lebensraum nicht würdigt oder ignoriert, für dessen Geist ist es ebenfalls sehr schwer, sich zu fokussieren.

Ab dem Zeitpunkt allerdings, zu dem der Praktizierende zum Yogi wird, wenn sein Bewusstsein keine Schwankungen mehr kennt, wenn Dualität nicht länger erlebt wird, wenn also Atma realisiert ist, dann wird jede Form von Vidya belanglos. Solche Menschen benötigen weder Ayurveda, noch Jyotisha oder Vastu. Und nicht nur das: Für einen selbstrealisierten Menschen, so wird gesagt, ist das gesamte Wissen der Veden so überflüssig wie eine Tasse Wasser für einen Ertrinkenden. Doch wie viele dieser Menschen gibt es? Die meisten sind noch beherzt unterwegs und Vidya ist für sie hilfreich auf ihrem Weg.

Jyotisha und Karma
Das Wissensgebiet des Jyotirvidya ist Karma. Karma bedeutet Handlung, beinhaltet jedoch nicht nur die Ausführung, sondern auch den Effekt, der durch die Handlung ausgelöst wird. Betrachtet man die Welt unter dem Aspekt von Aktivitäten und deren Auswirkungen, zeichnet sich ein sehr komplexes Bild ab. Schnell verschwimmen die Grenzen zwischen Ursachen und Wirkungen, da jeder Effekt Ursache für neue Auswirkungen ist, die weitere Handlungen veranlassen. Tatsächlich hat Karma keinen Anfang und kein Ende. Jegliche Form von Existenz ist Teil dieses Spiels – ein Stein, eine Ameise, ein Fluss, ein Haus, ein Mensch. Karma kennt keinen Stillstand und ist in seiner Gesamtheit unendliche, nicht erfassbare Entfaltung. Diese Gesamtheit von Karma wird als Sanchita-K arma bezeichnet. Wird ein Mensch geboren, bestimmen Ort und Zeit seiner Geburt, wie sich sein Leben in das übergeordnete karmische Spiel einordnet. Mit dem Beginn des Lebens gelangt ein definierter Anteil Karma zur Reifung, das sogenannte Prarabdha-Karma. Dieses persönliche Karma zeigt sich im Geburtshoroskop. Prarabdha-Karma bestimmt beispielsweise, in welche familiären Verhältnisse ein Mensch geboren wird, unter welchen Bedingungen er aufwächst und wie es in bestimmten Phasen um seine Gesundheit bestellt sein wird. Ganz so schicksalsträchtig, wie es klingt, ist es nicht. Andere Formen von Karma bedienen die Idee des freien Willens. Was immer ein Mensch tut, hat Auswirkungen. Diese persönlichen Handlungen sind Kriyamana Karma. Darüber hinaus verändern selbst Gedanken, Erwägungen und Pläne das Verhalten und Erleben eines Menschen. Sie werden als Agama Karma bezeichnet.

Was bleibt, ist die Frage, was einen Menschen zu seinen Handlungen und Überlegungen motiviert? Sind es nicht die Impulse und Reize der Umgebung, die Interesse wecken, Aufmerksamkeit lenken und einen schließlich dazu veranlassen, eine bestimmte Richtung einzuschlagen? Im Sinne des Karma schon. Denn Karma setzt sich zusammen aus der persönlichen Handlung, der Handlung anderer und den Einflüssen durch höhere Gewalt (von Wetter bis Naturkatastrophen). Mit anderen Worten: Der vermeintlich freie Wille ist gekoppelt an die gegebenen Voraussetzungen.

Karma und freier Wille
Freier Wille und Karma verhalten sich zueinander wie die rechte und die linke Hand: Erst in Kombination kann sich ihr kreatives Potenzial voll entwickeln. Karma bestimmt die Entfaltung der Lebensthemen eines Menschen. Wie sich dieser unter den gegebenen Lebensumständen verhält, steht ihm frei. Wer nach dem Motto lebt, „Nichts ist unmöglich“, kann viel Kraft und Vitalität dabei vergeuden, seine Ambitionen immer wieder aufs Neue mit der Realität abgleichen zu müssen. Derjenige aber, der weiß, was auf ihn zukommt, kann seine Bemühungen entsprechend ausrichten und so unnötige Kämpfe vermeiden. Eine erfolgversprechende Strategie, die beides kombiniert: Voraussetzungen und Bestrebungen; Karma und freien Willen.

Entscheidungskraft und Verantwortung sind Privilegien des Menschseins. Dank seines Intellekts kann der Mensch bewusste Entscheidungen treffen. Diese erstaunliche Freiheit, die Selbsterkenntnis ermöglicht, wird begleitet von einem anderen Privileg, das ebenfalls dem Menschen vorbehalten ist: Verantwortung. Jeder trifft laufend Entscheidungen, um Ziele zu erreichen oder Hindernissen auszuweichen. Sind Intellekt und freier Wille dabei mit Verantwortungsgefühl gekoppelt, entsteht gutes Karma (Punya). Die Entscheidungen selbst und deren Auswirkungen auf die Umgebung erweisen sich als vorteilhaft. Verweigert der Mensch hingegen verantwortungsvolles Handeln, wird nachteiliges Karma (Paapa) generiert. Das Umfeld leidet dann unter der persönlichen Ignoranz, mit dem Effekt, dass weitere unvorteilhafte Aktionen provoziert werden.

Menschen, die Yoga praktizieren, nutzen die Freiheit des Willens für einen Weg der Selbsterkenntnis. Umfassenden Verantwortungssinn zu entwickeln, ist Teil dieser Praxis. Die meisten Praktizierenden bestreiten ein normales Alltags,- Familien- und Berufsleben und sind bestrebt, darin gutes Karma zu produzieren. Jyotisha gibt dabei Einsicht in die Entfaltung der persönlichen Lebensumstände, damit jeder sein Leben mit Verständnis und Voraussicht verantwortungsbewusst gestalten kann. Yoga ist der Weg, Jyotisha die Wegbeschreibung.

Der Autor Bernd Rößler ist vedischer Astrologe in Detmold. Auch in vielen anderen Städten bietet er Jyotisha-Beratungen an, gibt Workshops und Seminare. Auf Wunsch auch in Ihrem Yogastudio.

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