Bis hierhin und nicht weiter! Über sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch im Yoga

Körperliche und seelische Grenzen auszutesten gehört beim Yoga dazu – sie gleichzeitig zu wahren, ist allerdings unabdingbar. Das gilt in der persönlichen Praxis, aber natürlich erst recht in der Interaktion mit anderen. Doch was, wenn Lehrende diese Grenzen nicht berücksichtigen? Wir müssen reden! Dieser Artikel stammt aus der YOGAWORLD JOURNAL Print-Ausgabe 03/2024.

Text: Carmen Schnitzer, Titelbild: doidam10 via Canva

Ein Artikel über sexualisierte Gewalt ausgerechnet in der Ausgabe mit dem Titelthema “Hingabe”? Als wir vorab in der Redaktionssitzung darüber sprachen, war uns schnell bewusst: Einfach wird das nicht. Die Problematik ist komplex, die Übergänge in der vermeintlichen Grauzone zwischen “normaler” Berührung und traumatisierendem Übergriff erscheinen oft fließend, und das, was wir “die Yogaszene” nennen, ist zerfasert und nicht leicht unter einen Hut zu bringen. Und doch fanden wir: Gerade in diese Ausgabe gehört ein solcher Artikel. Denn nicht selten passiert es, dass vertrauensvolle Hingabe mit Selbstaufgabe und Unterwerfung verwechselt (oder sogar so propagiert) wird, was einen besonderen Nährboden für Machtmissbrauch und sexuelle Ausbeutung schafft. Oder dass von Grauzonen gesprochen wird, wo es eigentlich eine klare Linie geben sollte: Eine Berührung, die uns unangenehm ist, ist eben nicht “normal”, so einfach ist das. Und doch so schwierig zu benennen. Zum Thema Verwechslung später noch mehr.

Dass es in der Yoga- und auch ganz allgemein der spirituellen Szene neben den großen Skandalen um zum Beispiel Swami Vishnudevananda oder Bikram Choudhoury auch hierzulande massive Probleme mit sexualisierter Gewalt gab und gibt, ist schon lange bekannt. Zuletzt machte etwa der Fall des unterfränkischen “Gurus” Kai K. Schlagzeilen. Er hatte die Anhänger*innen seiner Lebensgemeinschaft “Go & Change” unter anderem durch Schlafentzug, Drogen und körperliche Züchtigungen bis hin zu gewaltsamen sexuellen Handlungen von “Dämonen” zu heilen versprochen.

Ein Extremfall, doch auch sonst haben sich in den letzten Jahren immer mehr Menschen, überwiegend Frauen, zu Wort gemeldet, die Übergriffe von Yogalehrenden und/oder spirituellen Führer*innen erlebt haben, unter anderem in der SWR-Reportage “Sex-Falle Yoga – Wenn dein Guru zum Täter wird”, die Ende letzten Jahres ausgestrahlt wurde. Der Titel war reißerisch und weckte ein falsches Bild von Yoga, doch das Problem existiert, daran gibt es keinerlei Zweifel.

Höchste Zeit also für die Community, sich aktiv und selbstreflektierend mit der Thematik auseinanderzusetzen! Seit einigen Jahren passiert das zum Glück, wenn auch langsam und mitunter noch zögerlich. Auf Online-Plattformen wie YogaEasy finden sich mittlerweile lesenswerte Texte dazu. Auch wir widmeten dem Thema im Zuge der #MeToo-Debatte und danach bereits einige Artikel (nachzulesen in Heft 3/18 und 2/23).

Den Opfern Gehör zu verschaffen, sie zu ermutigen, ihre Geschichten zu erzählen und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, ist sicher ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer friedlicheren Realität, in der das Prinzip der Gewaltlosigkeit, Ahimsa, auch wirklich gelebt wird. Doch neben dieser Aufarbeitung des Geschehenen ist jetzt auch der Blick in die Zukunft entscheidend: Was können wir tun, um sexuellen Übergriffen vorzubeugen? In den Gesprächen, die ich dazu führte (Auszüge davon liest du weiter unten im Artikel), wird immer wieder deutlich, wie sehr jeder und jede Einzelne hierbei gefragt ist. Insbesondere Yogalehrende sollten ihrer Verantwortung bewusst sein und Beziehungsdynamiken hinterfragen (Stichwort: Macht).

Oben erwähnte ich bereits den Begriff der Verwechslung, den der Yogapsychologe Martin Witthöft ins Zentrum seines im Deutschen Yoga-Forum erschienenen Artikels stellt: “Ein yoga-psychologischer Ansatz zum Verständnis von sexueller Gewalt im Umfeld des Yoga” (auch zu finden in seinem Buch “Verkörperter Wandel”.) Darin beleuchtet er fünf Begriffspaare, in denen es zu Verwechslungen kommen kann, darunter das bereits genannte, “Hingabe und Unterwerfung”. Er macht darauf aufmerksam, welche Problematik in der in vielen Yogatraditionen sehr üblichen, unhinterfragten Meister-Verehrung steckt, in der “die ursprünglichen Inhalte zu dogmatischen und starren Glaubenssätzen” zu werden drohen.

Eine weitere Verwechslung, die er anspricht, ist die von “Sinnlichkeit und Sexualität”: Während “die körperliche Ebene des Yogaunterrichts” uns “immer auch eine sinnliche Erfahrung” öffne, sollten sexuelle Beziehungen zwischen Schüler*in und Lehrer*in generell tabu sein. Zudem sollten Lehrende nicht in persönlicher Weise auf die oft aus der Kindheit resultierenden Bedürfnisse ihrer Schüler*innen reagieren (Verwechslung von Vergangenheit und Gegenwart). Verwechslung 4 und 5 betreffen “Das Absolute und das Konkrete” und in diesem Zusammenhang die zweischneidige Bedeutung der Ego-Aufgabe sowie “Täter und Opfer” (“Victim Blaming”). Zentrale Aspekte, über die ich auch mit Martin Witthöfts Frau, der Yogapsychologin Pia Witthöft, gesprochen habe (hier geht’s zum Interview).

Zweifellos hat Yoga uns viel zu geben und scheint uns oft wie eine kleine Parallelwelt zum schnöden Alltag, in der wir unsere inneren Akkus auftanken können. Doch Yoga ist auch Teil unserer Gesellschaft, das heißt: Wir haben es mit Menschen zu tun. Und Menschen sind fehlbar. So viel uns eine inspirierende Lehrperson auch geben kann – wenn sie es wirklich gut meint, wird sie sich kritisch hinterfragen lassen, deine Grenzen respektieren und dich auf deinem persönlichen Yogaweg begleiten, anstatt dir genau zu sagen, was du zu tun und zu lassen hast. Schluss mit der blinden Verehrung von angeblich “göttlichen” Meister*innen!

Ausformulierte Regeln, wie sie sich im “Code of Conduct” der US-amerikanischen Organisation Yoga Alliance finden, könnten sowohl Lehrenden als auch Schüler*innen Orientierung bieten und ungesunden Strukturen entgegenwirken. Dazu gehört zum Beispiel die Forderung, dass Hands-on-Adjustments ausschließlich nach eindeutiger Zustimmung der Schülerin beziehungsweise des Schülers erfolgen dürfen und dass sexuelle und romantische Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden wie oben bereits erwähnt strikt zu vermeiden sind. Sollte sich eine Verbindung einvernehmlich entwickeln, ist es besser, die Lehrer*in-Schüler*in-Beziehung klar aufzulösen.

Wie eingangs angedeutet, wird ein Artikel wie dieser nicht genügen, um die komplexe Problematik aufzulösen und ein Präventions-Patentrezept zu liefern. Er kann nur ermuntern, hinzugucken, zu hinterfragen und dort etwas zu ändern, wo sich etwas nicht richtig anfühlt. Wir alle sind dazu aufgerufen, dazu beizutragen, dass “die Yogaszene” uns den Safe Place bietet, den wir brauchen und beanspruchen dürfen.


kristin rübesamen

Kristin Rübesamen

Chefredakteurin von YogaEasy, Yogalehrerin und Autorin mehrerer (Yoga-)Bücher:

“Yoga kann uns körperlich wie spirituell viel geben und sogar identitätsbildend wirken. Darum fällt es vielen schwer zuzugeben, dass diese großartige Technik auch missbraucht werden kann. Aber gerade von Yogalehrenden erwarte ich, dass sie ihre Position reflektieren: Dass sie die ihnen oft entgegengebrachte Verehrung wahrnehmen und sich nicht davon beeinflussen lassen. Viele scheinen sich nicht bewusst machen zu wollen, welch idealen Playground für spirituellen wie auch sexuellen Missbrauch die Yogawelt durch die systemimmanente Verehrung in einem traditionell hierarchischen System bietet. Das geht es auch um Achtsamkeit.

Dass Verehrung und Unterwürfigkeit der Schüler bereitwillig von den Lehrenden akzeptiert werden, liegt womöglich auch in deren prekärer ökonomischer Situation. Wenn schon die monetäre Bezahlung mickrig ist – von Altersvorsorge ganz zu schweigen –, wird die Verehrung als Zusatzlohn empfunden der allerdings anfällig dafür macht, die eigene Macht zu missbrauchen.

Die Verantwortung liegt auf jeden Fall bei den Lehrenden. Hier wäre eine Art ‘Code of Conduct’ etwa nach dem Vorbild der US-amerikanischen Yoga Alliance sinnvoll, der jedoch von möglichst vielen anerkannten Autoritäten formuliert werden müsste – was aktuell an der leider fehlenden Verbandsstruktur im Yoga scheitert. Vielleicht müssen wir aber auch gar nicht so kompliziert denken und auch mit einer Social-Media-Kampagne mit klaren, gut durchdachten Verhaltensregeln zum Teilen wäre schon viel zu erreichen. Erst, wenn wir ein Problem benennen, erkennen wir an, dass es existiert.

Yogaübende dürfen Lehrende unbedingt darauf hinweisen, wenn ihnen eine Berührung oder ähnliches ein ungutes Gefühl gibt, gegebenenfalls auch indirekt über die Studioleitung. Wer unbewusst übergriffig geworden ist, wird dankbar sein für die Rückmeldung. Gerade weil Supervision bislang im Yoga nicht üblich ist und die Position der Lehrenden auf ihrem vermeintlichen ‘Sockel’ auch einsam machen kann, ist Feedback generell, aber auch bei diesem Thema so wichtig.”


Ergänzend zum Artikel sprachen unsere Autorin Carmen Schnitzer und YogaEasy-Chefredakteurin Kristin Rübesamen mit Gastgeberin Susanne Mors in unserem YogaWorld Podcast über das große und schwierige Thema Machtmissbrauch in der Yogaszene:


Dr. Matthias Pöhlmann

Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern:

“In meiner Arbeit begegnen mir immer wieder Fälle aus dem Yoga-Kosmos, in denen sexualisierte Gewalt eine Rolle spielt. Ein zentraler Aspekt, der Machtmissbrauch in spirituellen Kreisen begünstigt, ist die starke Bindung an einen Lehrer. Auf den wird viel projiziert, gleichzeitig schafft er eine suggestive Atmosphäre – und dort, wo Projektion und Suggestion aufeinandertreffen, wird es oft problematisch. Insbesondere dann, wenn sich der oder die Lehrende jeglichen kritischen Fragen entzieht und die Haltung vermittelt: ‘Ich bin erleuchtet – und du nicht.’ Im Grunde sollte man immer dann aufhorchen, wenn eine spirituelle Gruppe folgende Merkmale aufweist: 1) Es gibt einen erleuchteten Meister. 2) Man sieht sich als ‘gerettete’ Gemeinschaft. 3) Man hat angeblich das ‘rettende’ Rezept.

Frauen, die in den Sog einer solchen Gemeinschaft geraten sind und dort schlimme Dinge erlebt haben, berichten später oft davon, dass es ihnen zunächst auch einen gewissen Kick gegeben habe, wenn sie von der vermeintlichen ‘Lichtgestalt’ quasi auserwählt wurden. Dadurch redeten sie oft ihre innere Stimme klein, die ihnen eigentlich mitteilte, dass etwas nicht stimmte. Zudem war da die Angst, abgelehnt zu werden und letztlich spirituell zu scheitern.

Die Yogaszene ist natürlich unglaublich disparat, heterogen: Neben seriösen Angeboten gibt es auch solche, die sich mit der Edelvokabel ‘Yoga’ schmücken, ohne dass wirkliche Substanz dahintersteht. Man sollte sich bei der Wahl also gut informieren über die Qualifikation eines Anbieters, einer Anbieterin, auch darüber, ob es vielleicht bereits kritische Stimmen gibt und wie er/sie damit umgeht. Werden die Würde und Freiheit des Gegenübers geachtet? Wird eine Methodengläubigkeit verlangt? Werden menschliche Begrenzungen wie Krankheit oder Tod negiert oder ignoriert? Natürlich wäre es auch wünschenswert, wenn dafür in der Szene Standards formuliert würden, die eine gewisse Orientierung bieten – was sich angesichts der Zerrissenheit der Szene, insbesondere auch seit Corona, allerdings schwierig gestalten dürfte.”


Jessica Fink

Pressesprecherin beim BDYoga, Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland e.V.:

“Bei uns in der Geschäftsstelle des BDYoga haben sich schon mehrfach Betroffene von sexuellen Übergriffen gemeldet. Um sie besser unterstützen zu können, wurden 2020 unsere berufsethischen Richtlinien in Hinblick auf Missbrauch überarbeitet und es wurde ein verbandsinternes Konfliktmanagementsystem eingeführt. Damit kann der BDYoga auf Beschwerden reagieren, wenn Yogalehrende, denen Missbrauch vorgeworfen wird, Mitglied bei uns sind. Sind sie es nicht, hat der Verband leider keinerlei Handhabe. Deshalb beschäftigen wir uns gemeinsam mit Expertinnen damit, was wir für die Prävention tun können.

Um die Yogalehrenden für das Thema zu sensibilisieren und zu schulen, bieten wir Online-Seminare zu den Themen sexueller und auch emotionaler Missbrauch im Yoga an. Außerdem ist ein verpflichtendes Modul zu Machtmissbrauch im Yoga für unsere Yogalehrausbildungen in Planung, und in unserem neuen Handbuch ‘Der Weg des Yoga’, das im Herbst erscheint, wird es ein Kapitel zu Missbrauch im Kontext von Yoga geben.

Wünschenswert wäre es, allen Betroffen, die sich an uns wenden, direkt helfen zu können. Aber unsere Mitarbeiterinnen in der Geschäftsstelle haben nicht die entsprechenden Qualifikationen. Zudem werden uns eher vereinzelte Fälle gemeldet. Weitere landen sicher bei anderen Yoga-Verbänden – oder werden gar nicht gemeldet. Als Verein, der sich aus Mitgliedsbeiträgen finanziert, müssen wir gemeinsam diskutieren, ob die Mitglieder eine neue Stelle oder die Weiterbildung einer Mitarbeiterin für die Beratung bei Missbrauchsfällen außerhalb unseres Verbands finanzieren möchten. Aktuell verweisen wir auf bundesweite Hilfetelefone oder regionale Hilfestellen für Betroffene von sexueller Gewalt. Eine unabhängige Anlaufstelle, gemeinsam finanziert von alle Yoga-Verbänden, ist eine Zukunftsvision und würde auch ermöglichen, eine repräsentative Statistik zu führen.”


Jean-Marc Turmes

Nach einer ungesunden On-off-Liaison vor einigen Jahren, in der sie sich oft selbst nicht erkannte, ist Redakteurin Carmen Schnitzer überzeugt davon, dass fast jeder Mensch psychisch manipulierbar ist – aber niemals schuld, wenn das jemand ausnutzt!

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