Atmung des Herzens: Peter Hoeg im Interview

Mit „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ ist der dänische Bestseller-Autor Peter Høeg weltberühmt geworden. Seine letzten beiden Bücher „Die Kinder der Elefantenhüter“ (2010) und „Der Susan-Effekt“ (2015) spiegeln sein langjähriges Interesse an Spiritualität. Ein Gespräch über Körperarbeit, Empathie und Bücher als geschriebene Träume.

YJ: Peter, dein Roman „Die Kinder der Elefantenhüter“ steht auf meiner persönlichen Liste sehr weit oben. Ich erinnere mich beim Lesen an eine besondere Wahrnehmung: Ich habe immer etwas anderes erwartet als das, was am Ende passierte – und das sogar innerhalb einzelner Sätze. Spiegelt das deine besondere Art zu denken?
PH: Das war auf jeden Fall meine Ambition bei dieser Arbeit. Ich betrachte Schreiben als Meditation, als Akt der Achtsamkeit und Erwachtheit, in der solche Sätze entstehen können. Man fängt an einer bestimmten Stelle auf gewisse Weise an und beobachtet dann, was sich verändert.

Ich habe den Roman immer langsamer gelesen. Bei anderen Büchern drängt es mich gegen Ende zur Lösung, hier war bereits der Weg voll davon. Jede Figur und jede Handlung transformiert sich: Harmonie entsteht, Personen erkennen das Positive im Unglück, inneres Wachstum wird unterstützt… für mich eine Herzmeditation.
Das ist für mich die genaueste Beschreibung, die ich bisher von „Die Kinder der Elefanten­hüter“ erhalten habe und mein tiefster Wunsch für das Buch. Ich selbst habe es nie so bezeichnet, weil ich „Herzmeditation“ als großes Wort empfinde. Ich will es anderen überlassen, es eventuell zu erspüren. Am Anfang des Projekts stand mein Freund Michael Krüger, der frühere Chef des Hanser Verlags. Er sagte: „Ich habe Hans Magnus Enzensberger zu einem Kinderbuch über Mathematik überredet, Per Olov Enquist zu einem Werk über das Wandern mit seinen Enkeln. Du hast dich dein ganzes Leben mit Meditation beschäftigt, jetzt schreibe du bitte für Kinder über Spiritualität.“ Ich habe also zum ersten Mal in meinem Leben etwas auf Bestellung geschrieben. Ich wollte auf jeden Fall altersübergreifend schreiben und träumte von einem Buch, das in der Familie vorgelesen werden sollte. Es sollte eine Qualität der Herzlichkeit spiegeln, das Wegfallen von Vorurteilen und die Möglichkeit, Erlebnisse in Harmonie zu verwandeln.

Dadurch, dass sich hier Teenager mit Spiritualität beschäftigen, erhält die oft strapazierte esoterische Terminologie eine andere Frische. Es entsteht ein anderer Blickwinkel, der vielen Menschen in der so genannten „Szene“ gut tun würde. Welchen Zusammenhang gibt es zu deiner aktuellen Arbeit?
Mit meinem Freund und Lehrer Jesper Juul, der Psychologin Helle Jensen, dem Meditationslehrer Jes Bertelsen und anderen habe ich in Dänemark die „Gesellschaft zur Förderung der Lebensweisheit von Kindern“ gegründet. Mit ihr bieten wir in Deutschland auf Basis der Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR) ein Empathie-Training für Pädagogen an. In Dänemark wird die Ausbildung staatlich unterstützt und bereits erfolgreich in der Lehrerausbildung eingesetzt. Wir empfehlen bereits Lehramtsstudenten 20 Minuten Meditation am Tag.

Was bedeutet für dich „Spiritualität“?
Mich interessiert, wie man im Westen eine nicht-religiöse, undogmatische Spiritualität etablieren kann. Ich wohne in einer gleichzeitig meditativen und weltoffenen Gemeinschaft, die vom tibetischen Buddhismus inspiriert ist. Ich bin kein Buddhist, aber praktiziere Dzogchen. Diesen Weg der Selbstbefreiung kann man meiner Meinung nach sehr gut ohne religiöse Zugehörigkeit üben, da er fast ohne Glaubensvorstellung funktioniert. Ich bin kein Glaubensmensch, sondern sehe mich als Praktiker und Freidenker. In meiner Arbeit versuche ich, gemeinsame Gesetze aller großen spirituellen Traditionen in einen Zusammenhang von Empathie und Achtsamkeit zu bringen und in modernen, nicht doktrinären Formen an der Schule anzuwenden. Dazu haben wir ein Ausbildungsprogramm mit viel Körperarbeit, Meditation und Yoga entwickelt.

Liest du deinen vier Kindern regelmäßig vor?
Ja, aber nicht meine eigenen Bücher, gerne Astrid Lindgren. Oft erzähle ich ihnen auch spontane Geschichten, zu denen sie mir Stichpunkte geben.

In deinem aktuellen Roman „Der Susan-Effekt“ geht es um eine Figur, die durch ihre bloße Gegenwart andere zu absoluter Aufrichtigkeit inspiriert. Dabei ist sie vollkommen von Empathie durchdrungen. Es drängt sich der Gedanke auf, dass man Empathie anderen nicht entgegenbringen kann, wenn man nicht bei sich selbst sein kann.
Susan ist wie alle Menschen ein komplexes Gebilde: Sie hat sehr liebevolle und warmherzige Qualitäten, aber auch traumatisierende Gewalt erlebt. Vollkommene Empathie und konstante Herzöffnung der Welt gegenüber sind selten, eher können wir unser Herz gemäß seiner natürlichen Atmung teilweise öffnen.
Man sollte ein Buch also nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Wenn ich selbst versuche, Empathie zu üben, wähle ich nicht den Weg des Schreibens, sondern den Kontakt zu Menschen. Da dort aber die Gesetze von Freundlichkeit und einer gewissen Normalität zu respektieren sind, wähle ich Bücher, um spielerischer, extremer agieren zu können.

Und in welcher Weise hast du das im „Susan-Effekt“ getan?
Den „Susan-Effekt“ sehe ich als Form von Meditation, noch tiefer als die bei „Die Kinder der Elefantenhüter“. Eigentlich möchte ich in meinen Büchern keine Einzelpersonen mehr sehen, sondern eine bestimmte Stimmung, einen Sprachton, so dass die Geschichte insgesamt wie ein Traum ist – genau wie wir als Menschen nicht nur Träume haben, sondern alles sind, was in diesen Träumen vorkommt.

Bietest du also mit jedem Buch einen Traum an, den man mit dir träumen kann?
Für mich sind Bücher für die Gesellschaft das, was Träume für den Einzelnen sind.

Also ein Produkt des Unbewussten? Oder der schöpferischen Fantasie?
Im Gegenteil. Viele glauben, dass Bücher nur mit Gedanken, Intellekt und Intution geschrieben sind. Für mich ist der Entstehungsprozess eines Buches aber an erster Stelle sehr körperlich. Deshalb ist Körperarbeit – Sport, Tanz, Yoga – auch ein großer Teil meines Lebens.

In deinen Geschichten gibt es oft Menschen, deren Fähigkeiten über das Normale hinausgehen. Ist das ein Stilmittel für deine Buchträume? Der Wegfall von Alltäglichkeit kann auch Distanz schaffen.
Für mich geht es immer um den Kontakt zwischen Buch und Leser, der verschiedene Gefühle auslösen kann. Die Frage lautet: Was ist mein persönlicher Teil davon und was bleibt beim Buch? Der Autor ist für den Inhalt verantwortlich, der Leser für seine Reaktion. Es gibt eigentlich kein „Buch“, nur Lesarten. Wenn ich selbst lese, brauche ich nicht unbedingt die Identifikation mit einer Figur, ich will ins Buch und mit dem Buch leben. Daher lebe ich gerne in Shakespeares Welt, wo es fast ausschließlich Narren, Könige und Schurken gibt, aber auch im grauen deutschen Alltag in Margarethe von Trottas Filmen. Bücher bieten Möglichkeiten an, sprachliche Welten zu leben. Ich verwende gerne Archetypen und Extreme, aber ich versuche immer, sie so menschlich wie möglich darzustellen. Fräulein Smilla und Susan sind traumatisierte Frauen mit Alltagsproblemen und außergewöhnlichen Talenten. Ich bin überzeugt, dass die Alltagswelt mit weitaus mehr Extremen ausgerüstet ist, als man denkt.

Peter Høegs Romane „Die Kinder der Elefantenhüter” und „Der Susan-Effekt” sind im Hanser Verlag erschienen. Unter anderem mit dem international beliebten und anerkannten Familientherapeuten Jesper Juul hat er im Beltz Verlag den Ratgeber „Miteinander: Wie Empathie Kinder stark macht” veröffentlicht. Ihr internationales Empathie-Training für pädagogische Fachkräfte und Interessierte wird über das Deutsch-Dänische Institut für Familientherapie in Brandenburg angeboten. Mehr unter www.ddif.de

 

Gastautor Berthold Henseler arbeitet als Yoga- und Meditationslehrer sowie Bodyworker. Mit Patrick Broome ist er Autor des im Ullstein Verlag erschienen Buches “Mit Yoga leben”.

 

 


Titelfoto: Isolde Ohlbaum

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