Das Licht im Anderen

Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten, Menschen verlieren ihre Heimat, Tausende sind auf der Flucht vor Terror und Gewalt. Spätestens mit “Bataclan”, den Anschlägen von Paris im November 2015, war die Angst auch bei uns angekommen. Wie verhalten wir uns als Yogapraktizierende? Alles wegatmen, für den Weltfrieden meditieren oder aktiv werden und konkrete Hilfe anbieten?

„Om Shanti, Frieden, Frieden, Frieden!“ Auch Sie werden dieses Mantra schon in der Yoga­stunde rezitiert haben. Vielleicht haben Sie in Verbindung mit Yoga und Meditation auch schon dieses friedliche Gefühl in sich selbst vernommen, den Moment, in dem alles so sein darf, wie es ist. Genau jetzt, in dieser Gesellschaft, auf dieser Erde. Auch wenn sich alles so schnell wandelt, wenn es grausame Kriege, Selbstmordattentate und Klima­katastrophen gibt, wenn Menschen flüchten, heimatlos werden, wenn wir helfen wollen, aber oft nicht wissen wie. Wie kann Yoga dabei helfen? Wir haben mit R. Sriram darüber gesprochen. Der Yogalehrer aus dem südindischen Chennai lebt seit 1987 in Deutschland und weiß, welche Herausforderungen, aber auch welche Möglichkeiten der Bereicherung es beim Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen geben kann. Sein Anliegen ist es, mit Yoga Engagement und Toleranz zu fördern und ein friedliches Miteinander zu stärken.

Yoga mitten im Leben

Wer sich tiefer mit der Yoga­philosophie auseinandersetzt, wird feststellen, dass sich Yoga nicht nur um das Wohlbefinden des Einzelnen sorgt. Mindestens ebenso wichtig ist die gesellschaftliche Ebene. Wir nehmen Teil, tragen Verantwortung und stehen mitten im Leben. Im zweiten Kapitel des Yogasutra stehen bei der Beschreibung des Yogawegs nicht ohne Grund die Yamas, die das zwischenmenschliche Verhalten regeln, an erster Stelle (siehe unten).

Wahrhaftig begegnen

R. Sriram zufolge sind es besonders die Yamas Ahimsa und Satya, Wahrhaftigkeit und Gewaltlosigkeit, die uns im Umgang mit dem Fremden und im konkreten Umgang mit Menschen auf der Flucht helfen können: „Wer gewaltlos bleibt, bekommt Frieden in seiner Umgebung“, so Sriram. Wenn Flüchtlingen mit Hass, Angst und Ablehnung begegnet wird, geschieht das meist aus einer diffusen Angst heraus. Ein wahrhaftiges Interesse am Anderen würde dagegen alle Menschen einander näherbringen und helfen, Grenzen im Kopf zu überwinden. Denn wer dem Anderen wahrhaftig begegnet, müsste erkennen: Du bist wie ich. Dein Leid ist auch meine Verantwortung. Um Harmonie und universelles Gleichgewicht herzustellen, sollte jeder Einzelne mit Freude geben wollen – und das nicht nur aus egoistischen Motiven wie dem Wunsch nach Anerkennung oder der Hoffnung, auch selbst in der Not Hilfe erwarten zu dürfen.

Verbindung herstellen

Der Begriff Yoga stammt aus dem Sanskrit, die Silbe yui bedeutet binden, vereinen, aber auch anjochen, fesseln, leiten. Gemeint ist eine Anbindung der geistigen und körperlichen Kräfte an eine höhere Kraft. Mit dieser höheren Kraft mag Gott gemeint sein, es kann aber auch der gemeinsame Glaube an das Gute, das Licht im Inneren eines Jeden sein. Da Yoga im Ursprung keiner bestimmten Religion zuzuschreiben ist, kann es weltweit und in allen Kulturen praktiziert werden. „Nach der Philosophie des Yoga wollen wir uns auf das alles verbindende Prinzip ausrichten. Ein solcher Glaube vereint und ist für Menschen aus allen Kulturen relativ gut nachvollziehbar,“ sagt R. Sriram. Der Glaube an etwas Höheres ist frei von Dogmen. Er vereint alle Religionen und kann auch von nicht religiösen Menschen individuell ausgelegt werden.

Heimat vermitteln

Wenn Yoga so verbindende Kräfte hat und grenzüberschreitend wirkt, was liegt da näher, als Yoga für Menschen auf der Flucht anzubieten? Auch Sri­ram hält das für eine überzeugende Möglichkeit, ein Gefühl von Heimat zu vermitteln. „So können wir Flüchtlingen, die sich dafür interessieren, mithilfe praktischer Yogastunden das Gefühl für ihre persönliche Heimat – im yogischen Sinne den eigenen Körper – stärken und dabei sogar Sprachkenntnisse vermitteln“, schlägt Sriram vor. Yoga kann Menschen in der Fremde Struktur geben, dabei helfen, mentales Leid zu überwinden, den Glauben zu stärken und deutlich machen, dass wir als Einheit wirken können und müssen.

Wandel akzeptieren

Angesichts der vielen unterschiedlichen Kulturen, die jetzt aufeinandertreffen, sehen wir uns mit neuen Aufgaben und Herausforderungen konfrontiert. Einige mögen es als leidvoll empfinden, sich mit dem Fremden wirklich tiefgründig auseinanderzusetzen und Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen zu akzeptieren. Sri­ram meint: „Im Yoga­sutra 2.15 lesen wir: Ein Yogi nimmt das immer wiederkehrende Leiden als etwas Unverzichtbares an. Das heißt für mich: Wenn wir Mut finden, Veränderung anzupacken, indem wir uns neu aufstellen, können wir nicht nur das Leid umgehen, sondern besser noch, zu uns selbst finden.“ Das Leben ist Veränderung, und Loslassen ist nicht immer ohne Leid möglich, macht aber offen für Neues, für den Wandel hin zu einer positiven Entwicklung.

Namasté – damit zeigen wir uns offen und friedvoll

Vielleicht denken Sie ja beim nächsten „Namasté!“ im Yogastudio auch an die Bedeutung dieser Grußformel: Indem wir das Licht oder das Göttliche im Anderen grüßen, zeigen wir uns friedvoll, offen und voller Mitgefühl. Denn Yoga ist nicht kuscheliges Miteinander in Wohlfühl­atmosphäre. Yoga ist mehr. Yoga ist Leben.

Das Yogasutra lehrt…

Das Yogasutra von Patanjali ist einer der wichtigsten Grundlagentexte der Yogaphilo­sophie.
Für die Frage, wie wir heute miteinander leben wollen, haben zwei der Yamas besondere Bedeutung, das sind Grundsätze, die das zwischenmenschliche Verhalten regeln.

Die Yamas

Ahimsa – Gewaltlos, mitfühlend und offen
Die Yamas beschreiben den Umgang mit dem Anderen. An erster Stelle steht Ahimsa, die Gewaltlosigkeit, das Überwinden von Feindschaft und Isolation. Es braucht Mut und Selbstvertrauen, um neuen Situationen offen, voller Mitgefühl und Toleranz zu begegnen. Erst wenn man erkennt, dass alle Lebewesen auf der Erde in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen, kann man das Bekannte im Unbekannten finden. Man wird sich dann weniger bedroht fühlen und eher neugierig auf Inspiration durch Neues und fremde Kulturen sein. Außerdem wird man vielleicht Hilfe anbieten, da man das Leid, die Ängste und die Sorgen des Anderen erkennt.

Satya – Wahrhaftig und ehrlich
Du sollst nicht lügen! Dieses Gebot ist auch im westlichen Kulturkreis bekannt. Die Abwesenheit von Lüge ist Wahrheit oder besser Wahrhaftigkeit. Wir werden aufgefordert, uns mit den Tatsachen auseinander zu setzen, nicht einfach zu glauben, sondern zu prüfen. Denn auch das Ziehen voreiliger Schlüsse kommt einer Lüge gleich.


Foto: Aranxa Esteve/ www.unsplash.com

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