Als ich mit Yoga begann, fühlte ich mich, als hätte ich so etwas wie ein Wunderland betreten, aus dem ich nie wieder weg wollte. Alle waren so gut und freundlich. Ich bewunderte diese Lichtgestalten, die im hellen Scheinwerferlicht der großstädtischen Yogabühnen hingebungsvoll und vollkommen egofrei die goldenen Yogaregeln von Güte, Demut und Selbstlosigkeit verbreiteten. So wollte ich auch werden.
Damals war meine Lieblingserklärung: Yoga heißt Verbundenheit. Oh ja, ich glaubte an die Einheit von, mit und zwischen allem. Von mir und meinem Yogalehrer. Mir und meiner Yogamatte. Mir und dem Universum. Vor allem glaubte ich an das Gute im Menschen – und in mir selbst. Maria im Wunderland! Nach besonders guten Yogastunden fühlte ich mich, als könnte ich die Welt retten. Oder noch besser: Als müsste sie gar nicht gerettet werden, weil sie doch sowieso wunderschön war. Weil ich alle liebte. Und alle mich. Bis auf die wenigen Ausnahmen… Nach einer überirdischen Herzöffner-Stunde bei meinem Lieblingslehrer lief ich zu meinem Fahrrad. Die Sonne schien. Die Vögel zwitscherten. Zwei Kaffeebecher lagen umgekippt in meinem Fahrradkorb und ein Vogel hatte mitten auf meinen Sattel gekackt. Mit einem heiligen Lächeln auf den Lippen fischte ich mit spitzen Fingern die Kaffeebecher aus meinem Fahrradkorb und trug sie zum nächsten Mülleimer. Wie kann man nur? Ganz schön mieses Karma. Ich ließ mich nicht beirren, sondern machte mich „Om Namah Shivaya“ pfeifend auf den Heimweg. Ein wirklich schöner Tag! Die Herzöffner hatten Wirkung gezeigt und mich in ein freudestrahlendes Honigkuchenpferd verwandelt, das der Oma auf dem Gehweg sein breitestes Mr. Ed-Grinsen schenkte. Alles total shanti! Bis dieser Idiot um die Kurve bog und mich dermaßen schnitt, dass ich fast die Oma mitgenommen hätte. „Blödes …!“ Ups. Die Oma starrte mich so entsetzt an, als hätte ich soeben den Papst beleidigt.
Da lag er nun zerbeult und verbogen, mein Heiligenschein. Mit einem verkniffenen „Ist doch wahr!“ klaubte ich die Reste meines Anstandes auf und fuhr weiter in Richtung Heimat. Scheiße. Was war denn jetzt passiert? Keine Spur mehr von guter Laune. Die Welt konnte sich meinetwegen mal selbst umarmen. Natürlich reflektierte ich lange über diesen und andere Ausrutscher und ich gelobte Besserung. Woche für Woche ging ich in meine Yogastunden. Woche für Woche glaubte ich mich dem Ziel der endgültigen Erleuchtung näher. Und Woche für Woche entschlüpften mir die schlimmsten Schimpfwörter und diese Todfeinde – negative Gedanken – tummelten sich in meinem Kopf. Ich bekämpfte sie auf Rat meiner mitfühlend lächelnden Yogalehrer mit hartnäckigem Enthusiasmus: Hüftöffner gegen angestaute negative Emotionen, Herzöffner für mehr Mitgefühl. Verschiedene Mantras für Bhakti auf allen Ebenen. Und Kopfstand für einen neuen Blick. Positives Denken. Und jede Menge Entspannung gegen den Stress. Irgendwann würde ich sie schon in den Griff bekommen, diese dunklen Momente, in denen mein unfreundliches, manchmal zynisches, schimpfendes altes Ego-Ich die Oberhand gewinnt. Kampf den Samskaras, den bösen Gewohnheiten! Irgendwo im Yoga-Sutra steht „heyam duhkham anagatam“, was wohl ungefähr bedeuten sollte, dass ich schon jetzt daran arbeiten musste, künftiges Leid zu vermeiden…
Also begann ich zur Vorsorge, täglich inspirierende Statusmeldungen auf Facebook zu posten. Meine E-Mails unterschrieb ich nur noch mit Liebe, Frieden und jeder Menge Licht. Für jeden Mitmenschen, der mir sein Leid klagte – „Maria, mir schmeckt’s nicht!“ –, hatte ich einen wunderbaren und liebevollen Ratschlag parat. Alle meine Freunde versuchte ich mit sanftem Nachdruck auf den richtigen Weg zu bringen. Nach außen hin war ich mein bestes Selbst geworden – die heilige Mutter Maria. Nur innerlich hatte mein Yogazustand einen gehörigen Wackelkontakt. Ich hatte noch immer diese Momente und den liebgewonnenen Unschuldsengel überlagerte ein immer größer werdender Schatten. Ich meditierte und yogierte – doch so sehr ich mich bemühte: Die Vögel kackten weiter und ich schimpfte in meinem Kopf. Ich wurde immer unentspannter.
Eines Tages platzte mir mitten auf der Yogamatte beim fröhlichen „Om shanti!“ meiner Nachbarin der enge Kragen meines Gutmenschenanzugs: Nach monatelangem Frieden-und-Licht-Konsum konnte ich nicht mehr. Du kannst dir deinen Frieden sonst wohin schieben und dir das Licht da raus scheinen lassen! Das dachte ich und verließ das Studio. Ich hatte keine Lust, diesen verbeulten, verbogenen, verlogenen Heiligenschein jemals wieder aufzusetzen. Nie wieder die (schein)heilige Maria!
Und da geschah es, das Wunder: Ich fühlte mich so entspannt wie schon lange nicht mehr. Ein breites Grinsen lag auf meinem Gesicht – und ich fühlte mich frei! Maria durfte einen Schatten haben. Seit ich den Titel der Heiligen abgeschüttelt habe, bin ich endlich wieder Maria. Eins mit mir selbst
Maria Müller lebt, yogiert und arbeitet als freie Texterin in München.