Dass in vielen Yogastudios Buddha-Figuren thronen, ist kein Zufall: Zwischen den beiden Lehren gibt es viele Parallelen. Timo Wahl erläutert, wie uns der Buddhismus dabei helfen kann, eine moderne und alltagstaugliche Sicht auf die Yogaphilosophie zu entwickeln.
Text: Timo Wahl / Titelbild: Samuel Austin via Unsplash
Schon immer suchten Menschen nach Antworten auf die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach der Bedeutung des Todes. Zu allen Zeiten strebten sie nach tiefem Glück und Freiheit von Leid. Auch im antiken Indien meinte man, Antworten gefunden zu haben. Man glaubte an eine kosmologische Ordnung hinter den Dingen und an ein alles durchdringendes Bewusstsein. Auch daran, als Mensch mehr zu sein als nur Körper und Geist. Man betrachtete den Körper als Gefäß für den Geist und seine unsterbliche Seele, die von Leben zu Leben reist, bis sie eines Tages erkennt, dass sie selbst unsterblich ist und eins mit allem.
Wer nach Weltlichem strebe, so wurde geschrieben, werde automatisch darin verwickelt, denn der Geist hefte sich an Besitz und Standesdünkel. Wer jedoch nach der Wahrheit suche, der müsse nach dem Ewigen suchen – dem Teil in uns, der immer schon gewesen sei und immer sein würde. Diese Suche ist auch heute noch die Kernidee im Pfad des Yoga.
Der frühe Yoga kannte sehr wahrscheinlich noch keine Körperübungen. Zu üben bedeutete, einen ethisch reinen Lebensstil zu pflegen, den Geist ganz und gar auf das “Sein” zu fokussieren und dabei alle Identifikationen mit der Welt, Besitz, Beziehungen, Gedanken und dem Körper aufzulösen. Gleichzeitig aber diktierte das strenge Kastensystem, dass nur derjenige Yoga betreiben dürfe, der seine karmische Last der letzten Leben bereits aufgearbeitet hätte. Und dies waren lediglich die Menschen der oberen Kaste, die durch ihre Geburt “bewiesen” hatten, ihre letzten Leben richtig gelebt zu haben.
In diese hinduistische Weltanschauung hinein wurde 563 vor Christus Siddharta Gautama, der spätere Buddha, geboren. Auch sein Weg führte zunächst traditionell über die Lehre der heiligen Schriften, die Praxis der Meditation und vor allem eine strenge Askese. Diese Praxis sollte dazu führen, alle Anhaftung an den Körper und damit an das Vergängliche zu überwinden. Buddha jedoch erkannte, dass der Weg der Befreiung weder in der absoluten Askese bestand, noch in deren Gegenteil. Er postulierte den Weg der Mitte und damit einen Weg der Befreiung, die inmitten des Lebens stattfinden könne.
Die Anfänge des Buddhismus
Buddhas Lehrreden verbreiteten sich schon bald wie ein Lauffeuer – hätte er einen Instagram-Account besessen, wären ihm sicher tausende Menschen gefolgt. Seine enorme Wirkkraft bestand sicherlich in seiner Lehre selbst, aber auch darin, dass er den Menschen auf eine neue Weise begegnete. Entgegen damaliger Gepflogenheiten negierte er Standesunterschiede zwischen den Kasten, er erkannte Frauen als Schülerinnen an und forderte alle, die ihm folgten, auf, seine Lehren auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Das war revolutionär, denn nach der damals gängigen Überzeugung sollte man vor allem seiner durch die Geburt auferlegten Bestimmung folgen.
Für alle Fragen der Spiritualität war allein die Priesterkaste zuständig, an die man Abgaben zu entrichten hatte. Der wesentliche Aspekt in Buddhas Lehre ist deshalb sicherlich das Übernehmen von Eigenverantwortung für den eigenen Lebensweg und somit auch für das persönliche Karma. Und hier finden wir eine wichtige Analogie zum klassischen Yogaweg: Auch dieser sieht für jeden individuellen Fortschritt das eigene Bemühen als Grundlage.
Die vier edlen Wahrheiten
Aber auch inhaltlich finden wir in den beiden Lehren wesentliche Übereinstimmungen, allen voran die “Vier edlen Wahrheiten“. Diese beruhen grob gefasst auf der Beobachtung, dass wir alles, was uns im Leben begegnet, auf zwei grundlegende Fragen hin untersuchen, nämlich ob eine Situation für uns potenziell bedrohlich oder förderlich ist. Diese Bewertung entscheidet, wie wir reagieren: Auf vermeintlich Angenehmes reagieren wir anhaftend: Wir verlangen nach mehr oder möchten den angenehmen Zustand zumindest erhalten (Raga). Auf Unangenehmes reagieren wir dagegen mit der Energie der Ablehnung (Dvesha). Dazu kommt die Fehleinschätzung (Avidya), dass äußere Bedingungen für unser Glück sorgen könnten. Dieser Dreiklang aus Gier, Ablehnung und Fehleinschätzung gilt im Buddhismus als Ursache für unser selbstverschuldetes Leiden (Dukkha).
Alle drei Begriffe finden wir auch rund 500 Jahre später im Yoga Sutra von Patanjali. Es gilt als eine der wichtigsten und zentralsten Schriften des Yoga und wird vor allem im Westen als Grundlage der Yogaphilosophie angesehen. In Patanjalis Werk werden die drei von Buddha beschriebenen “geistigen Gifte” in den sogenannten Kleshas (Hindernissen auf dem Weg zur Befreiung) integriert. Patanjali erweitert den Leid erzeugenden Dreiklang aus Gier, Ablehnung und Fehleinschätzung um zwei weitere Begriffe und entwickelt somit aus heutiger Sicht die Ideen Buddhas weiter. Diese beiden Begriffe sind: Ich-Bezogenheit (Asmita) und die Angst vor dem Unbekannten (Abhinivesha). Asmita meint eine Betrachtung und Bewertung der Dinge aus dem Ego heraus. Abhinivesha mündet letztlich in die Angst vor dem Tod als größte Instanz des Unbekannten.
Nicht-Ich: Es gibt kein beständiges Selbst
Wir alle identifizieren uns ständig mit unserer Historie, erzählen uns und anderen die Geschichte(n) unseres Lebens und entwickeln dabei die Idee einer relativ stabilen Persönlichkeit. Buddha war jedoch davon überzeugt, dass die Idee eines “Ich” lediglich ein Konzept unseres Geistes sei. Stellen wir uns also einmal vor, unsere gesamte Lebenshistorie würde auf einmal gelöscht … Sicherlich ein zunächst befremdlicher Gedanke. Aber wie viel freier könnten wir sein, hielten wir nicht an den Überzeugungen darüber fest, was wir meinen zu können und zu sein!
Auch diese buddhistische Idee greift die klassische Yogaphilosophie auf. Unsere wahre Form zu erkennen, ist demnach nur dann möglich, wenn alle Gedankenwellen (Vritti) über uns und die Welt zur Ruhe gekommen sind. Liegen also keine Aktivitäten im Geist vor, gibt es auch keine Identität mehr, die uns beeinflusst. Kein Ego, das sich einschaltet. Keine innere Rechtfertigung und auch kein Drama.
Sati: Achtsamkeit
Kaum ein Diskurs verzichtet heute auf den Hinweis auf Achtsamkeit als Basis für Zufriedenheit und seelische Gesundheit. Nicht immer ist dabei klar, worum es genau geht. Buddha forderte seine Schüler*innen auf, sich selbst, ihre Reaktionen und Gewohnheiten genau zu studieren. Allen inneren Anteilen möge man mit Freundlichkeit begegnen, bemüht, in jedem Augenblick die wohlwollendste Haltung allem und allen gegenüber einzunehmen, die möglich ist. Damit stellte Buddha die Gemeinschaft über das Individuum.
In der Yogaphilosophie finden wir dazu gleich diverse Analogien. Das Yoga Sutra fordert zu einem beharrlichen Beobachten aller geistigen Aktivitäten auf. Der denkende Geist wird genau beschrieben. Er kann zu richtigen Ergebnissen kommen, sich aber auch leicht täuschen lassen, da dauernd Erinnerungen und Vorstellungen auftauchen, die uns von einer ungefilterten Wahrnehmung ablenken. Beobachten wir unseren Geist, können wir Zeuge, Zeugin unserer Gedanken werden, ohne uns stetig mit ihnen zu identifizieren – nach dem Motto: “Glaube nicht alles, was du denkst”. Durch diese Distanz zu unseren Gedanken wird der Raum größer, in dem wir uns für eine wohlwollende und heilsame Ausrichtung entscheiden können.
Liebende Güte und Mitgefühl
Buddha formulierte in seiner Lehre vom “Edlen achtfachen Pfad” die Wichtigkeit der Entwicklung von liebender Güte, Mitgefühl, Mitfreude und Großzügigkeit. Diese “Vier unermesslichen Qualitäten” zu kultivieren, bedeutet, sich bewusst für sie zu entscheiden. Dieselben erstrebenswerten Tugenden finden wir auch im Yoga Sutra wieder. Auch Patanjali fordert uns auf, in allen Situationen stets die vier Qualitäten Maitri (Liebende Güte), Karuna (Mitgefühl), Mudita (Mitfreude) und Upeksha (Großzügigkeit) zu kultivieren. Aufbauend auf diesen buddhistischen Ideen geht die Yogaphilosophie aber auch hier noch ein Stück weiter.
Denn Yoga gibt uns zu sätzlich die Möglichkeit, den Geist über die Regulation des Atems zu beruhigen. Je ruhiger der Atem, desto ruhiger der Geist – so sagt es das Sutra. Und dann gibt es ja noch den heute bekanntesten Bereich des Yoga, nämlich die Körperpraxis. Hier finden wir einen weiteren Schlüssel, um unser System ganzheitlich in die Ruhe zu führen und Gleichmut zu bewirken.
Akzeptanz: Schlüssel zur Befreiung
Zu jeder Zeit haben die Denker und Denkerinnen der Welt voneinander gelernt, voneinander gelesen, studiert, interpretiert und Konzepte weiterentwickelt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass buddhistisches Gedankengut in die Yogaphilosophie eingewoben wurde – und auch der Buddha selbst war von älterem Wissen inspiriert. Ohne die Grundpfeiler seiner hinduistischen Prägung wären vielleicht ganz andere Gedanken entstanden. Wichtig aber ist, dass die zugrundeliegende Botschaft aller großen Traditionen die gleiche war und ist: Akzeptanz.
Sowohl Buddhas Lehrreden als auch die großen Yogaschriften zielen ab auf die Botschaft der Akzeptanz. Dabei sind die Lehren Buddhas klar und strukturiert. Sie sind rational, logisch und oft kompromisslos. Die Weichheit, die es aber im Alltag manchmal braucht, finden wir eher in den Yogaschriften. Denn Yoga hat immer integriert, nie gab es einen Anspruch auf die ultimative Richtigkeit einer Idee oder eines Konzeptes. Deshalb findet man auch häufig verschiedene Interpretationen zu einer Aussage, und alle dürfen nebeneinander stehenbleiben.
“Zu jeder Zeit haben die Denker und Denkerinnen der Welt voneinander gelernt, voneinander gelesen, studiert, interpretiert und Konzepte weiterentwickelt.”
Der Yogaweg hat sich über die Jahrhunderte immer weiter entwickelt und in verschiedene Richtungen ausdifferenziert. Im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Ayurveda gewann die Idee, den Körper in die Lehren einzubeziehen, mehr und mehr Raum und die Asanapraxis entwickelte sich. Durch den Tantra bekam der Mensch als Abbild des Göttlichen die Erlaubnis, auch wieder mehr Mensch sein zu dürfen und das Leben in Freude zu gestalten. Und die Auseinandersetzung mit der Bhagavad Gita führte dazu, dass auch die mystische Suche nach etwas “Größerem“, dem wir uns hingeben und anvertrauen möchten, stärker kultiviert wurde.
Wollen wir also in unserem eigenen Alltag ein Stück weiter in Richtung Befreiung und Entwicklung voranschreiten, bedeutet das, uns von einschränkenden Glaubenssätzen und Überzeugungen zu lösen. Beide Systeme – Buddhismus und Yoga – lehren uns dabei vor allem eines: Wenn wir das Ruder nicht selbst in die Hand nehmen, wird es auch sonst niemand für uns tun! Hegen wir den Wunsch nach Veränderung, müssen wir bereit sein, Verantwortung für uns und unsere Umwelt zu übernehmen. Die Welt wird weder vom Beten geheilt, noch vom Abwarten. Und verbinden wir diese Haltung mit Lebensfreude und Zuversicht, können wir vielleicht auch selbst für andere zu Influencerinnen und Influencern werden.
Timo Wahl ist einer der profiliertesten Yogalehrer und -Ausbilder in Deutschland und weit über sein Frankfurter Studio hinaus dafür bekannt, eine moderne, bewegungs-, aber nicht leistungsorientierte Praxis zu unterrichten, bei der Achtsamkeit, Selbstbeobachtung und philosophische Tiefe im Vordergrund stehen. Mehr zu Timo auf timowahl.de und auf Instagram @timo_wahl_yoga_frankfurt
Timo Wahl war auch zu Gast in unserem Podcast und hat uns in diesem Zweiteiler mehr über den Buddhismus erzählt: