Das kann man doch nicht machen!

Wie viel sind wir bereit, uns gefallen zu lassen? Und warum tun wir manchmal so wenig, wenn wir bemerken, dass andere uns schaden?

Die Frage der Moral

Wir alle kennen Menschen, denen übel mitgespielt wurde. Oft ist man erstaunt, wenn man hört, wie offensichtlich jemand bereit ist, einem anderen zu schaden. Manchmal fragt man sich aber auch: Warum lassen sich Menschen das so lange gefallen? Viele wissen genau, was sie tun könnten, um dem Zustand ein Ende zu setzen. Doch sie gehen den letzten Schritt nicht – und ihre Begründung lautet häufig: „Das kann man doch nicht machen. Dann bin ich doch nicht besser als der.“ Aber wieso ziehen Menschen es vor, moralisch überlegen zu sein, wenn sie im Gegenzug oftmals drastische Einbußen ihrer persönlichen Freiheit hinnehmen müssen?

Im Konflikt zwischen Moral und Verteidigung

Vielleicht kennen Sie die Geschichte von König Rama und seinem treuen Diener Hanuman. Rama galt nicht nur als besonders rechtschaffener König, er war auch eine Inkarnation Vishnus. Ein Gott in Menschengestalt also. In den meisten Geschichten ist er fast quälend pflichtbewusst. Er kann aber auch anders. Auf der Suche nach seiner entführten Gemahlin Sita trafen Rama und sein Bruder Lakshmana im Wald von Kishkindha auf Sugriva, den Anführer der Armee der Affen. Er war aufgrund eines Missverständnisses von seinem Bruder Vali vom Thron verstoßen und seiner Frau beraubt worden. Doch konnte Sugriva sich nicht wehren, weil sein Bruder die von den Göttern gegebene Fähigkeit besaß, in jedem Zweikampf seinem Gegner die Hälfte seiner Kraft zu rauben. Der betrogene Affe versprach Rama zu helfen, wenn dieser ihn gegen Vali unterstützen würde. Rama willigte ein. Sugriva forderte Vali auf einer Lichtung zum Zweikampf heraus. Rama versteckte sich mit seinem Bogen hinter den Büschen. Nach wenigen Augenblicken war Sugriva bereits besiegt und floh zu Rama. „Warum hast du mir nicht geholfen?“, fragte er. „Ich konnte euch beide nicht unterscheiden“, antwortete Rama. „Beim nächsten Mal hänge dir eine Blumengirlande um. Dann weiß ich, wen mein Pfeil zu treffen hat.“ Sugriva suchte erneut den Kampf mit Vali, und weil dessen Kraft um ein Vielfaches größer war, packte dieser den kleinen Bruder, um ihn nun endgültig zu töten. Doch im gleichen Moment traf Ramas Pfeil Vali in den Rücken. „Warum hast du das getan?“, fragte er Rama und sagte sterbend: „Es war nicht fair, auf solche Weise in den Kampf einzugreifen.“ „Du hast nach den Gesetzen der Natur gelebt“, antwortete Rama. „Dort gilt das Gesetz des Stärkeren. Und das einzige, was Stärke besiegen kann, ist List.“

Mehrere Wege führen zum Frieden

Man könnte Sugriva und Rama moralische Vorwürfe machen. Aber wie oft nutzen wir selber nicht unsere Möglichkeiten, um unser Recht durchzusetzen? Ahimsa– das Fehlen von Gewalt – ist unter den Regeln für den Umgang mit anderen das oberste Prinzip in Patanjalis Yoga Sutra. Aber Gewaltfreiheit bedeutet nicht, Gewalt von anderen in jedem Fall hinzunehmen. Es kann auch bedeuten, dass man aufstehen muss. Es darf manchmal ein bisschen mehr Chuzpe, ein bisschen mehr Frechheit sein, wenn wir uns grazil durch das Drama des Alltags bewegen wollen. Nirgendwo anzuecken, ist manchmal keine Tugend, sondern schlicht und ergreifend ein Ausdruck von Angst. So lange wir hinnehmen, dass andere uns Gewalt – in welcher Form auch immer – antun, ist unsere Welt noch voll davon. Gerade wenn man mit Leuten spricht, die betonen, wie sie in allen Punkten gewaltfrei leben, spürt man manchmal einen quälenden Vulkan unter der Oberfläche: Da möchte jemand explodieren, darf es aber nicht. Manchmal ist es einfach Zeit, aufzustehen und unhaltbare Zustände zu beenden, bevor wir uns zurück aufs Meditationskissen setzen. Erst dann können wir wirklich Frieden finden.

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