In den Augen der meisten Yogis ist Yoga eine spirituelle Bewegung. In vielen überlieferten und neuen Texten zum Thema Yoga ist von Gott, Erleuchtung oder Erlösung die Rede, innerhalb der Yoga-Community lässt sich zumindest ein diffuser Glaube an höhere Mächte feststellen – viele Yogis praktizieren eine Art Patchwork- oder Selfmade-Religion. Und die überwiegende Mehrheit der Yogaübenden sind heutzutage Frauen.
Nun ist es jedoch so, dass die Entrechtung und Herabwürdigung von Frauen eine lange religiöse Tradition hat. In allen Weltreligionen und deren (natürlich von Männern verfassten) Quelltexten gelten Frauen als minderwertig und werden diskriminiert. Islam, Christentum und Hinduismus übertreffen sich in ihrer dogmatischen Form geradezu in offener Frauenfeindlichkeit. Im jüdischen und buddhistischen Glauben ist die untergeordnete Stellung der Frau vielleicht etwas subtiler geregelt, aber über das Prinzip herrscht religionsübergreifend bis zum heutigen Tag seltene Einigkeit: Gegen die auf der Menschenrechtsweltkonferenz 1993 (!) in Wien von 185 Staaten verabschiedete Konvention zum Ehe- und Familienrecht meldeten 80 Staaten, darunter der Vatikan, die USA und viele muslimische Länder substanzielle Vorbehalte an – allesamt mit dem Hinweis kulturelle Unterschiede oder religiöse Traditionen, die beachtet werden müssten. Im Auftrag der jeweiligen Götter müssen unter anderem folgende Traditionen verteidigt werden: Beschränkung der Frauen auf den häuslichen Raum, Bestrafung für Ehebruch, Ungleichheit in Bildung, Arbeitsmarkt und Politik, ungerechte Scheidungs- und Erbgesetze usw. usf.
Da grundlegende Menschenrechte aus religiöser Sicht für die weibliche Hälfte der Menschheit nicht zu gelten scheinen, muss Yoga immer wieder sein Verhältnis zu Gott, Religion und Spiritualität klären und erklären. Dabei können wir von den Menschen mehr lernen als von den Göttern. Zum Beispiel von Frau Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins, Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Berliner Instituts für Ethik und Politikberatung (ICEP) und Leiterin des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität: Kultur, Tradition und Religion sind keine unbeweglichen Monolithen, sagt sie. Sie sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben eine geschichtliche, gesellschaftliche, kulturelle und politische Dimension. Ihre Entwicklung lässt sich klar nachvollziehen und es kann systematisch aufgeklärt werden, um wessen Kultur und Tradition es sich im Einzelnen handelt. Gehört die Kultur der Unterdrückung wirklich zu den Frauen? Ist die tägliche Gewalt- und Unrechtserfahrung spirituell zu rechtfertigen? Wer hat eigentlich die Definitions- und Handlungsmacht über „Religion“?
Wir lernen von Prof. Dr. Johannes Müller SJ, Leiter des Instituts für Gesellschaftspolitik in München, dass Religionen uns in der Sozialgestalt einer bestimmten Zeit gegenübertreten. Das heißt, religiöse Inhalte werden politisch und gesellschaftlich geprägt. Der Kanon religiöser Traditionen wird also einerseits gesellschaftliche Überzeugungen abbilden, auch offen sexistische, und andererseits gemäß herrschender kultureller Strömungen interpretiert werden. Die groteske Unterdrückung von Frauen ist immer auch einem fehlenden demokratischen Diskurs geschuldet – einem entscheidenden Charakteristikum von Religionen. Erst wenn Männer und Frauen sich gleichermaßen an der öffentlichen Diskussion um ihre Rechte und Freiheiten beteiligen können, tritt Gleichberechtigung ein.Frauen sind gut also beraten, wenn sie spirituellen Traditionen kritisch gegenüberstehen – und sie im Zweifel als menschenfeindlich ablehnen. Sie können sich sonst nicht sicher sein, welche Ideen sie da eventuell unterstützen. Demokratie, Pluralismus, Toleranz und Gleichberechtigung werden im Yoga meist nicht explizit thematisiert. Aber Yoga ist eine Emanzipations- und Befreiungsbewegung – vor allem auch für Männer, die in überkommenen Rollenbildern gefangen sind und gewaltsam ihrem Vorteil folgen.