Sharon Salzberg zählt zu den einflussreichsten buddhistischen Meditationslehrerinnen im Westen. Zehn Jahre nach Erscheinen ihres Bestsellers “Umarme deinen Feind” wollten wir von ihr wissen, wie Frieden in einer konfliktreichen Welt gelingen kann. Das Interview stammt aus dem YOGAWORLD JOURNAL 06/23 mit dem Titelthema “Alles shanti?”.
Interview: Ulrich Hoffmann / Titelbild: Tawni Bannister
Ist “shanti” dasselbe wie “Frieden”?
“Shanti” meint oft eine sehr gehobene Vorstellung von Frieden, deswegen verwende ich im Alltag lieber den Begriff “Frieden” (Peace) – aber auch damit bezeichnen die Menschen sehr unterschiedliche Dinge: Hört auf zu streiten, dann wird es friedlich. Oder: Ich habe bekommen, was ich wollte, und bin zufrieden damit. Eine innere Zuflucht kann mir auch unter schwierigen Bedingungen Frieden spenden. Schon der Buddha sagte: “Es gibt kein größeres Glück als Frieden”.
Vor ziemlich genau zehn Jahren ist Ihr Buch “Umarme deinen Feind” erschienen. Wie stehen Sie mittlerweile dazu?
Es scheint fast noch besser in die Zeit zu passen als damals. Wir erleben deutlich mehr Aggression. Oder vielleicht kommt sie auch nur deutlicher zum Ausdruck. Es ist viel los! Wenn ich keine Heilige bin, warum soll ich jemanden lieben, jemandem liebende Güte zuteilwerden lassen, dem ich eigentlich den Tod wünsche? Oder der mir den Tod wünscht? Ein Teil der Antwort ist: Weil diese Leute dann nicht mehr über mich herrschen. Wenn man dagegen den ganzen Tag überlegt: Wie kann ich mich rächen – dann ist am Ende mein eigenes Leben kaputt.
Wie hat sich die Lage in der Welt in den zehn Jahren verändert?
Natürlich gab es schon immer Hass und Gewalt. Aber im Augenblick wird das alles so offen ausgetragen. Aggression ist sozial akzeptabler geworden. Immer mehr Menschen berichten mir auch, dass sie den Druck und die Wut in ihrem Inneren nicht länger aushalten. Da sehe ich auch eine wachsende Sensibilität und Bereitschaft, an dem Thema zu arbeiten.
Ist es nicht ganz normal, manche Menschen oder Situationen abzulehnen?
Unterschiedliche Ansichten sind kein Problem. Sie sind unvermeidbar und es wäre schade um sie. Ich mag meine Ansichten. Aber erstens habe ich nicht immer recht – und es ist gut, sich das zu vergegenwärtigen. Und zweitens muss ich jemanden nicht hassen, weil er anderer Meinung ist.
Die Position zum Beispiel, dass ein Mädchen weniger wert sei als ein Junge, die halte ich nicht für richtig und sie führt auch zu nichts Gutem. Das darf uns nicht egal sein. Aber der Mensch, der diese Ansichten vertritt, den muss ich nicht hassen. Da sehe ich es wie der Buddha, der sagte: “Hass wird nie durch Hass abnehmen, nur durch Liebe.” Das ist ein allgemeingültiges Gesetz. Und ich finde, wir könnten das wenigstens mal ausprobieren!
Sie arbeiten dafür mit der traditionellen Metta-Meditation. Glauben Sie, die liebende Güte, die ich dabei aussende, kommt bei der betreffenden Person an? Oder geht es eher um eine Veränderung auf meiner Seite: Weil ich daran arbeite, verhalte ich mich der Person gegenüber anders?
Das weiß ich nicht. Wenn ich jemandem ein Geschenk gebe, kann ich nie sicher vorhersagen, wie es ankommt. Kann sein, dass die liebende Güte bei der Person ganz unmittelbar wirkt. Aber man kann sich nicht darauf verlassen. Es ist ein Geschenk. Wenn ich daran hänge, welche Wirkung es erzielt, habe ich es nicht losgelassen. Was aber sicher ist: Wir werden uns der Person gegenüber anders verhalten.
Ich habe einen Freund, der hier in der Insight Meditation Society viel praktiziert hat. Er schickte seinem ehemaligen Geschäftspartner liebende Güte. Die beiden hatten sich zerstritten und führten einen Prozess gegeneinander. Er berichtete mir, dass er beim Meditieren keine besonders warmen Gefühle empfunden habe. Aber er wiederholte trotzdem brav die Worte: “Mögest du glücklich sein. Mögest du Frieden empfinden.” Beim nächsten gemeinsamen Anwaltstermin begrüßte er den früheren Freund mit den Worten: “Hey, wie geht’s dir?” Und der blieb stehen und fragte: “Wow, was ist los?” Es war ihre erste menschliche Interaktion seit sehr langer Zeit. Etwas hatte sich in meinem Freund verändert – und das veränderte die gesamte Dynamik.
In “Umarme deinen Feind” ist nur der erste Feind, den Sie beschreiben ein äußerlicher, alle anderen kommen aus dem Bewusstsein und Unterbewusstsein. Sind diese inneren Feinde das größere Problem? Oder ist es nur schwieriger, sie zu erkennen?
Mein Co-Autor Robert Thurman und ich halten uns in dem Buch an die klassische tibetische Struktur, doch im Leben arbeiten wir mit dem, was uns gerade bewegt. Macht mir etwas Sorgen? Macht mir jemand Sorgen?
Viele Menschen haben inzwischen sogar das Gefühl, dass die Natur ihnen gefährlich werden kann: Wir sollen nicht im Gras liegen, um Zeckenbisse zu vermeiden. In der Sonne kriegt man Hautkrebs … Je nach Hautfarbe, Geschlecht, politischer Überzeugung, sexueller Orientierung oder Abstammung gibt es aber auch äußere Feinde, die uns tatsächlich etwas antun wollen.
Warum wenden wir uns dann früher oder später in der Meditation so ausführlich der Innenschau zu?
Was soll man sonst tun? Ich kann niemanden dazu bewegen, sich besser zu verhalten. Aber wenn ich mich zwölf Stunden am Tag damit beschäftige, dann leide ich. Dann fehlt mir die Energie, zu erkennen, was ich tun kann. Wie kann ich mich schützen? Einer meiner Freunde regte sich sehr über das Verhalten einiger Menschen auf, er konnte den Gedanken daran nicht mehr loslassen. Irgendwann sagte er zu mir: “Ich lasse diese Leute zu lange mietfrei in meinem Hirn wohnen!” Wir tun das alle, und es kostet uns Kraft und Lebensfreude.
Ich habe den Eindruck, in letzter Zeit wird vieles dem Einzelnen zugeschoben: Unzufrieden im Job, zu wenig Geld, Klimakatastrophe – das musst du schon allein hinbekommen! Meditiere, fahr auf ein Retreat … Mich überzeugt das nicht.
Mich auch nicht. Während der Coronapandemie bekam ich einen Becher geschenkt, auf dem steht: “Manche Dinge tun einfach weh.” Und es stimmt: Es liegt oft nicht an dir und deiner Einstellung. Du musst auch nicht anders darüber denken. Manche Sachen tun einfach weh. Nur den Extraschmerz, uns darüber zu ärgern, den brauchen wir nicht auch noch. Wir müssen uns nicht einsam und ausgeliefert fühlen. Oder so, als würde es nie wieder besser werden. Manchmal liegt das Problem nicht bei mir. Es sind die Umstände. Dann kann ich daran arbeiten, wie ich damit umgehe. Wie ich mich positioniere.
Was hilft?
Wir können lernen, möglichst gut für uns zu sorgen. Wenn ich ausgeschlafen bin und mit meinen Liebsten in Ruhe gefrühstückt habe, wirft mich ein blöder Spruch nicht so schnell aus der Bahn. Wenn ich schon seit zwölf Stunden vor Wut koche, fällt das schwerer. Aber es ist sicher nicht richtig, alle Verantwortung auf sich zu nehmen. Dann müsste man immer nur nett und brav sein. Wir sollten uns mit all unserer Kraft engagieren können für das, was uns wichtig ist!
Wenn jemand erfährt, dass ich meditiere, höre ich oft: “Oh, das ist, wenn man an nichts denkt!” Wir wissen beide, das stimmt nicht, aber warum nützt uns Meditation trotzdem?
(lacht) Ja, genau. Wir werden weder die Gedanken noch die Gefühle los. Nein, das Ziel besteht darin, unser Verhältnis zu den eigenen Gedanken zu verändern. Unseren Bezug zu ihnen. Mit ein bisschen mehr Abstand kann man die Gedanken als Gedanken wahrnehmen. Ich zum Beispiel war jahrzehntelang der Überzeugung, ich könnte auf keinen Fall einen Vortrag halten. Aber das war auch nur ein Gedanke. Eine alte Gewohnheit. Erst die liebende Güte hat mir geholfen, das zu sehen und aufzulösen. Kann gut sein, dass der Gedanke immer wieder mal auftaucht. Aber dann hat man eine andere Perspektive dazu.
Sehen Sie einen Unterschied zwischen persönlichen, sozialen und globalen “Feinden”, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen? Oder ist das für Sie alles dasselbe, weil es am Ende um meinen Umgang damit geht?
Sie sind nicht gleich, aber der Umgang mit ihnen ähnelt sich. Wir brauchen mehr Mitgefühl, für andere und auch für uns selbst. Aber natürlich erfordern unterschiedliche Probleme unterschiedliche Lösungen. Manchmal müssen wir an uns selbst arbeiten. Manchmal müssen wir uns für politische Veränderung einsetzen. Wenn wir in der Meditation unsere eigenen Emotionen besser kennenlernen, können wir der Welt um uns herum etwas ruhiger begegnen. Meditation allein kann die Welt nicht in Ordnung bringen. Sie kann aber dazu beitragen.
In Europa herrscht Krieg. Vorletzten Winter drohte die Energie knapp zu werden. Wir sollen unter anderem kürzer duschen. Plötzlich wurde der private Moment im Bad zu einem politischen. Aber wie können wir mehr Frieden in diese Welt bringen?
Manchmal gibt es keine offensichtliche Lösung. Dann hilft es, mit anderen darüber zu sprechen, vielleicht sogar gemeinsam lachen zu können. Und vielleicht ergibt sich etwas aus der Gemeinsamkeit. Gruppen können viel bewegen. Wir sollen so viel tun. Kein Fleisch essen. Früher sollten Frauen keine Strumpfhosen tragen. Wir können nicht alles richtig machen. Wir können nur versuchen, uns inspirieren zu lassen und unser Herz zu öffnen.
Kann Meditation die Welt friedlicher machen?
Ja. Ich glaube das, ja. Es muss gar keine formelle Meditationspraxis sein. Inspiration kann durch Gesang kommen, durch Kunst, durch die Natur.
Und muss ich wirklich auch denen Liebe schenken, die mich hassen?
Ich habe mal jemanden kennengelernt, der gut befreundet war mit Martin Luther King Jr. Er nannte ihn ‘Marty’ und erzählte: “Marty hat gesagt, ich müsse alle Menschen lieben. Und ich habe gesagt: ‘Muss ich gar nicht. Ich muss nur die lieben, die es verdient haben.’ Und dann hat Marty gelacht und gesagt: ‘Nein, nein, du musst alle lieben.’ Dann kommt natürlich immer jemand und sagt: ‘Und siehst du, was ihm das gebracht hat!’ Als wäre er nicht erschossen worden, wenn er bitter und hasserfüllt durchs Leben gegangen wäre.”
Um mehr Frieden mit mir und allen Wesen auf der Welt zu empfinden – wann, wie oft und wie lange sollten wir meditieren?
Die beste Zeit ist, wenn man es wirklich macht. Und man kann liebende Güte ja auch außerhalb der formalen Praxis üben. Beim Spazierengehen. In einem ZoomCall kann man auf jede der kleinen Kacheln schauen und denken: “Mögest du glücklich sein.” Die neueste neurowissenschaftliche Aussage ist: 12 Minuten, drei bis fünf Mal die Woche, führt zu messbaren Ergebnissen. Für mich wäre das nichts, am Montag würde ich auf Mittwoch verschieben, am Mittwoch würde ich mir denken: Ich meditiere einfach am Samstag drei Mal, und am Ende mache ich es gar nicht.
Jeder Tag ist einfach jeder Tag. Man muss sich also auch ein bisschen selbst einschätzen, um die richtige Frequenz zu finden. Ich selbst würde 15 bis 20 Minuten anstreben, aber wenn jemand nur drei hinbekommt, dann ist das besser als nichts. Wichtig ist, locker zu bleiben, Freude daran zu haben und auszuprobieren, was man gern macht. Dasselbe gilt für die Form. Niemand muss ein Leben lang dieselbe Meditation machen.
Ulrich Hoffmann ist Journalist, Yoga- und Meditationslehrer und schreibt seit vielen Jahren für uns und verschiedene Buchverlage über Meditation. Der mehrfacher Bestsellerautor schrieb u.a. den Longseller Mini-Meditationen. Vor kurzem erschien von ihm 50 philosophische Erkenntnisse, die das Leben leichter machen. Mehr über den Autor findest du auf seiner Website.
Hier kommst du direkt zu einer geführten Metta-Meditationspraxis: