Tanja Seehofer ist eine der renommiertesten Yin-Yogalehrerinnen Deutschlands. Exklusiv für YOGA JOURNAL hat sie eine Übungssequenz für zuhause entwickelt. Sie hilft nicht nur, die Pole von Aktivität und Ruhe auszugleichen, sondern kann auch Wut und Gereiztheit mildern und das Mitgefühl stärken.
In Schweden, dem Land der Mitternachtssonne, wo Tag und Nacht, Yin und Yang ineinander fließen, entstanden am Rande der Dreharbeiten zur ZDF-Produktion „Inga Lindström“ die Fotos von Arvig Uhlig mit der Schauspielerin Franziska Schlattner
Die Traditionelle chinesische Medizin (TCM) sagt es ganz deutlich: Wenn Aktivität (Yang) und Regeneration (Yin) nicht in Balance sind, entsteht auf Dauer ein schädigendes Ungleichgewicht. Daher sind wir in allen Lebenssituationen gefordert, uns zu fragen: Was ist zu viel, was ist zu wenig? Das Zuviel spüren wir in der Dynamik unserer Yang-orientierten Welt nur allzu deutlich: Wir fühlen uns gestresst und erschöpft. Das wird nicht unbedingt besser, wenn man zusätzlich Ablenkung in Yang-betonten Aktivitäten sucht, denn was meist fehlt, ist das genaue Gegenteil: eine Yin-betonte Auszeit.
Bei der Yin-Yoga-Praxis verlassen wir die Ebene des Denkens und Handelns und wenden uns dem Spüren zu – eine wunderbare Möglichkeit, um die ersehnte Balance wiederzufinden. Durch das Hineinschmelzen in eine bestimmte Position tauchen wir in tiefere Körperschichten ein, nehmen uns Zeit für den inneren Dialog und reinigen den Geist von festgefahrenen Gedanken und Glaubenssätzen.Die Signale des Körpers sind dabei wichtiger als bestimmte Regeln oder eine vorgegebene Übungsdauer. Was viele nicht wissen: Yin Yoga kann man zwar zu jeder Tageszeit üben, es ist aber günstig, am Morgen oder ohne eine bestimmte Vorbereitung zu üben, denn je weniger die Muskeln aufgewärmt sind, desto größer ist die Möglichkeit des Erspürens der eigenen körperlichen Bedürfnisse. Yin Yoga gibt uns die Möglichkeit, diese Bedürfnisse, aber auch die individuellen Grenzen zu spüren – ohne dabei eine Leistung erbringen zu müssen, ohne ein Ziel erreichen zu wollen und ohne Anerkennung von außen zu erwarten.
Bei der Yin-Yoga-Sequenz auf den folgenden Seiten werden vor allem der Leber- und der Gallenblasenmeridian angesprochen. Diese beiden Funk-tionskreisläufe bilden in der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM) ein Paar. Beide reagieren besonders empfindlich auf Stress und Verspannung. Die Folge können Reizbarkeit, Zorn und Ärger sein. Umgekehrt stehen aber auch Mitgefühl und Entscheidungskraft im Zusammenhang mit diesen Organen und ihren Meridianen.
Schließen Sie beim Üben die Augen und verweilen Sie ruhig in den Haltungen, um zu spüren, wer Sie wirklich sind – jenseits von Gedanken, Bewertungen und Prägungen, fernab jeglicher Perfektion. Erforschen Sie Ihre Grenzen in den Dehnungen und Drehhaltungen und finden Sie zurück in Ihr Zentrum. Ruhe, Entspannung und Achtsamkeit sind in dieser Sequenz die Schlüssel zu Freude, Gleichmut und Zufriedenheit.
1. Nadelöhr // Sucirandharasana
Beginnen Sie in der Rückenlage mit angestellten Beinen. Heben Sie das rechte Bein und legen Sie das Fußgelenk nahe des Knies auf den linken Oberschenkel, das rechte Knie fällt sanft nach außen. Dann heben Sie das linke Bein und greifen mit verschränkten Händen um den Oberschenkel. Ziehen Sie das Bein so dicht zum Oberkörper, dass die Dehnung an der rechten Hüfte spürbar, aber noch angenehm ist. Rücken, Nacken und Schultern bleiben dabei entspannt auf dem Boden, gegebenenfalls legen Sie ein Kissen unter. Schließen Sie die Augen und öffnen Sie sich vertrauensvoll für Ihre Empfindungen: Was braucht mein Körper jetzt? Wo ist die Grenze? Bin ich zu tief in der Position oder unterfordere ich mich? Bleiben Sie 3-10 Minuten lang in der Haltung. Dann lösen Sie den Griff um den linken Oberschenkel und setzen den linken Fuß wieder am Boden ab.
2. Erste Drehung im Liegen // Jathara Parivartanasana
Aus der Ausgangsposition des Nadelöhrs legen Sie die Arme auf Schulterhöhe entspannt zu den Seiten ab, die Handflächen zeigen nach oben. Beugen Sie den rechten Fuß und schieben Sie den Knöchel ein wenig nach links. Dann kippen Sie die Beine so nach links, dass der rechte Fuß am Boden aufsetzt und den linken Oberschenkel fixiert. Drehen Sie den Kopf sanft von einer Seite zur anderen, um zu spüren, welche Position am angenehmsten ist. Dann lassen Sie ihn ruhig liegen und schließen die Augen. Erlauben Sie den bewussten Kontakt mit Ihrem Körper und lauschen Sie sanft nach innen. Berühren Sie den Körper mit der Atmung und lassen Sie mit jeder Ausatmung etwas tiefer los. Nach 3-10 Minuten kehren Sie langsam und vorsichtig zurück in die Ausgangsposition.
3. Zweite Drehung im Liegen // Jathara Parivartanasana
Aus der Ausgangsposition des Nadelöhrs mit ausgestreckten Armen kippen Sie nun die Beine nach rechts. Dabei können Sie den rechten Oberschenkel mit einem Kissen abstützen. Falls das linke Knie in dieser Haltung spannt, lösen Sie den Fuß vom Oberschenkel und legen ihn auf den Boden. So können Sie eventuell auch beide Knie etwas höher in Richtung rechte Achsel ziehen. Die Beine sinken entspannt nach unten. Wählen Sie erneut eine nackenschonende Position für den Kopf und schließen Sie die Augen. Erforschen Sie im Stillen den Atem: Wohin fließt er? Wo spüre ich ihn in meinem Körper fließen? Bleiben Sie ganz bei sich, tauchen Sie in Ihre Körperwelt ein und beobachten Sie die Sinneswahrnehmungen in der Haltung. Nach 3-10 Minu-ten kehren Sie langsam und vorsichtig in die Ausgangsposition zurück.
4. Entspanntes // Nachspüren
Stellen Sie den rechten Fuß wieder auf dem Boden ab, setzen Sie beide Füße in einen etwa mattenbreiten Abstand und lassen Sie die Knie nach innen sinken. Schieben Sie Nacken und unteren Rücken einmal kurz Richtung Boden und lösen Sie diese Spannung wieder. Dann schließen Sie die Augen und legen die Hände sanft auf den Bauch. Die Ellen-bogen liegen entspannt auf dem Boden, die Schultern sind gelöst. Beobachten Sie, wie der Bauch sich mit der Einatmung hebt und mit der Ausatmung senkt. Wie fühle ich mich gerade? Fühlen sich meine beiden Körperhälften gleich oder unterschiedlich an? Fühle ich Schwere, fühle ich Leichtigkeit? Bleiben Sie möglichst neutral in der Beobachtung und das so lange, wie Sie sich dabei wohlfühlen.
Anschließend wiederholen Sie die ersten drei Übungen mit dem linken Bein oben.
5. Schnürsenkel // Gomukhasan
Setzen Sie sich mit ausgestreckten Beinen auf den Boden. Winkeln Sie das rechte Bein an und legen Sie das rechte über das linke Knie. Das äußere rechte Fußgelenk liegt nun am Boden. Dann beugen Sie auch das linke Bein und ziehen den Fuß Richtung rechte Hüfte. Bei Beschwerden in den Knien lassen Sie das untere Bein ausgestreckt, bei Schwierigkeiten mit dem Aufrichten von Becken und Wirbelsäule setzen Sie sich erhöht auf ein Kissen oder Bolster. Setzen Sie die linke Hand seitlich der Hüfte am Boden oder auf einem Block ab und strecken Sie den rechten Arm nach oben. Dann lehnen Sie sich nach links und dehnen die rechte Flanke. Lassen Sie alle Anspannung aus dem oberen Arm herausfließen und halten Sie den Nacken möglichst locker. Achten Sie außerdem darauf, dass beide Gesäßhälften gleichmäßig am Boden bleiben. Schließen Sie die Augen, beobachten Sie die Anspannung und lassen Sie sie zu, zugleich erlauben Sie sich auch möglichst viel Entspannung in der Haltung. Nach 3-5 Minuten ruhen Sie eine Weile aus in der Stellung des Kindes (Balasana), dann üben Sie die andere Seite.
6. Sphinx-Frosch // Bhujangasana-Bhekasana
Aus der Stellung des Kindes schieben Sie die Arme nach vorn und kommen in die Bauchlage. Dabei liegen die Unterarme am Boden und die Schultern sind etwa über den Ellenbogen ausgerichtet. Bei Spannungen im unteren Rücken schieben Sie die Ellenbogen so weit zur Seite (und/oder nach vorn), dass die Rückbeuge sanfter wird und sich angenehm anfühlt. Dann ziehen Sie Ihr rechtes Bein im rechten Winkel nach außen und lassen die Leiste entspannt sinken. Schließen Sie die Augen und nehmen Sie Ihren Körper wahr. Wie geht es mir hier? Bin ich noch angespannt? Wo könnte ich mehr entspannen? Wo halte ich noch fest? Nach 3-5 Minuten wechseln Sie vom rechten zum linken Bein. Anschließend entspannen Sie eine Weile in der Stellung des Kindes (Balasana).
7. Taube/Schlafender Schwan // Eka Pada Rajakapotanasana
Ziehen Sie aus dem Vierfüßlerstand das rechte Knie zur rechten Hand. Legen Sie die Außenseite des rechten Unterschenkels am Boden ab und finden Sie dabei einen Winkel, der für das Knie angenehm ist. Strecken Sie das linke Bein lang nach hinten aus und richten Sie die Beckenkämme dabei etwa in einer Linie aus. Wenn der rechte Oberschenkel nicht den Boden berührt, ohne dass das Becken nach rechts kippt, legen Sie eine gefaltete Decke unter, das Kreuzbein sollte ungefähr waagerecht liegen. Dann lassen Sie den Oberkörper langsam so weit nach vorn sinken, wie es angenehm ist: Entweder stützen Sie sich auf die Unterarme auf (Foto), oder Sie legen die Stirn auf die gefalteten Hände. Schließen Sie die Augen und beobachten Sie Ihre Empfindungen. Das Erspüren der eigenen Bedürfnisse steht im Vordergrund, finden Sie Ihre ganz eigene optimale Haltung. Nach 3-5 Minuten ruhen Sie einen Moment aus in der Stellung des Kindes (Balasana), dann wechseln Sie die Seite.
8. Endentspannung // Shavasana
Legen Sie sich auf den Rücken. Die Arme sind entspannt neben dem Körper ausgebreitet, die Handflächen zeigen möglichst nach oben. Die Füße haben etwa einen hüftbreiten Abstand und sinken locker nach außen. Wenn es Ihnen angenehmer ist, legen Sie ein flaches Kissen oder eine gefaltete Decke unter den Kopf. Schließen Sie die Augen. Jetzt ist der Moment gekommen, um ganz in die Stille zu gehen, ein Zustand zwischen Traum- und Wachbewusstsein, ein heilsamer Prozess für jede Zelle des Körpers. Bleiben Sie mindestens 5–10 Minuten in der Endentspannung und lassen Sie die Praxis nachwirken.
Tanja Seehofer ist Yogalehrerin, Mentalcoach, Entspannungstherapeutin und Buchautorin. Sie unterrichtet in München und auf Retreats und Workshops im In- und Ausland. www.tanjaseehofer.de
Fotos: Arvid Uhlig
Tanja Seehofer zu Gast im YogaWorld Podcast: