Während der Yogastunde die Augen zu schließen und sich nur noch von den Anweisungen des Lehrers leiten zu lassen, kann sehr entspannend sein. Aber was, wenn man schlecht oder nichts hört? Die selbst hörgeschädigte Yogalehrerin Betty Schätzchen weiß aus eigener Erfahrung, dass der Unterricht für Hörgeschädigte anders gestaltet werden muss…
Welche Vorteile hat die Yogapraxis für Hörgeschädigte?
Hörgeschädigte „hören“, indem sie von den Lippen lesen und sehr konzentriert akustische Reize aufnehmen. Aufgrund dieser Anstrengung sind sie oftmals körperlich und geistig erschöpft. Yoga und Meditation entlasten da die überbeanspruchten Sinne sehr gut. Viele Hörgeschädigte haben auch Gleichgewichtsprobleme. Für sie erstelle ich individuelle Programme, um das Gleichgewicht, d. h. die äußere und innere Balance, wiederherzustellen. Auch die, die ohne Vestibularapparat (Gleichgewichtsorgan im Innenohr) geboren wurden, schaffen es nach regelmäßiger Praxis, auf einem Bein zu stehen oder den Kopfstand zu üben.
Wie hast du als selbst hörgeschädigte Yogini den Yogaunterricht früher wahrgenommen?
Seit meiner ersten Begegnung mit Yoga im Jahr 2002 habe ich verschiedene Yogaschulen besucht und festgestellt, dass die Akustik in den meisten Räumen für Schwerhörige sehr ungünstig ist. Bestimmte Geräusche und Töne können nicht herausgefiltert werden. Wie viele Schwerhörige kann ich Lippenlesen; Yogalehrer gehen aber oft in einem großen Radius durch den Raum. Während der Meditation nehme ich mit geschlossenen Augen nur undefiniertes Stimmengemurmel wahr und kann im Zusammenhang mit der ungünstigen Raumakustik und dem fehlenden Lippenlesen nicht erkennen, ob der Lehrer nun Anweisungen gibt oder die Meditation vorbei ist. Bei der Asanapraxis habe ich meine Hörgeräte nicht im Ohr, da sie durch den Schweiß nass werden und darauf empfindlich reagieren. Meistens höre ich also gar nichts, sodass vieles durch Beobachtung und Intuition abläuft. Was ich im Unterricht nicht mitbekam, habe ich durch Selbststudium, Erfahrung und Einzelgespräche mit Yogalehrern nachgeholt.
Daraufhin hast du beschlossen, Yogaunterricht speziell für Hörgeschädigte anzubieten. Wie baust du den Unterricht auf?
Hörende können den Anweisungen des Lehrers akustisch folgen. Hörgeschädigte müssen meine Gebärden gut sehen können und sitzen im Halbkreis um mich herum. Wichtig ist auch, dass ich meinen Bewegungsradius klein und ruhig halte. Zudem nehme ich einzelne Schritte, Übungen und Techniken elementar auseinander. Nur wenn die „Einzelteile“ verstanden werden, können Hörgeschädigte diese zu einem Ganzen zusammensetzen. Bei der Meditation erkläre ich die erste Meditationstechnik und wecke alle nach der gemeinsamen Übung wieder auf. Dann erkläre ich die nächste Meditationstechnik. Wenn meine TeilnehmerInnen den Ablauf der Techniken verinnerlicht haben, wissen sie, dass sie bei der Berührung nicht die Augen öffnen müssen, sondern „automatisch“ zur nächsten Technik übergehen können. Im Vergleich zu Hörenden ist der Unterricht also kleinschrittiger aufgebaut und dauert am Anfang etwas länger. Wenn aber alle wichtigen Elemente verinnerlicht sind, wird der Ablauf auch fließender.
Durch Pratyahara, den Rückzug der Sinne, lernen wir, uns noch tiefer auf unser Inneres einzulassen. Wie ist es für dich, wenn du deine anderen Sinne bei der Praxis zurücknimmst?
Wenn ich meine Hörgeräte herausnehme, ist das für mich ein Ritual, ein Abschalten der Außenwelt. Ich betrete meine „individuelle Meditationskabine“ – ich höre nichts, sehe nichts, merke nichts. Von daher betrachte ich meine Hörschädigung nicht als Behinderung, sondern als eine Besonderheit und ein Geschenk.
Von Laura Hirch
Betty Schätzchen bietet international Workshops, Vorträge und Yogareisen an, gibt in Berlin Yoga-Einzelunterricht für Hörgeschädigte und produziert regelmäßig Informationsvideos in deutscher Gebärdensprache mit deutschem Untertitel, die kostenfrei auf dem YouTube-Kanal DeafYogaGermany zur Verfügung stehen. Mehr Infos unter www.yoga-massage.de.